Heute ist wieder ein guter Tag, um zu schreiben. Und ich habe ein Thema, das mir seit langem auf der Seele brennt.
Das Handy bleibt sonntags bei mir aus. Mein Sabbattag. Kein nervöses Scrollen durch die Nachrichtenportale, keine Verwunderung oder Belustigung über die tägliche Sau, die durchs Dorf getrieben wird:
Welcher Autor oder Poltiker wird heute gecancelt, ehe morgen niemand mehr darüber spricht? Welcher Gast wird heute auf welchem Podium ausgeladen? Welches Lied als misogynes Machwerk entlarvt? Welcher konservative Politiker beklagt sich heute über den öffentlichen Rundfunk oder die Sprachpolizei? Und welcher Aktivist schreit eben nach dieser?
Es sind schon wirre und absurde Zeiten, in denen wir leben. Und ich gebe zu, ich bin es fast schon leid, mich zu dieser gesellschaftlichen Lage äußern zu müssen. Es haben doch schon so viele getan. Spätestens, als Sarah Wagenknecht ihr Buch „Die Selbstgerechten“ veröffentlichte und darin gegen die woken Linken und Linksliberalen polterte, war die Debatte erneut entflammt. Interessant hierbei: Während sie den Linken Intoleranz und eine eingeschränkte Meinungsfreiheit vorwarf, unter der sie ja in ihrer eigenen Partei liebt, bediente sich eben jener Praktiken, die sie kritisierte: Ich habe einige Seiten gelesen, musste das Buch aber zur Seite legen. Zuviel Häme gegen „die Linksliberalen“, wie sie sie nennt, kein Kompromiss, keine Begegnung.
Ich habe das Gefühl, dass auf den sozialen Netzwerken und im öffentlichen Diskurs nur noch Schlammschlachten ausgetragen werden. Zuhören, Argumente verstehen und nachvollziehen, dann widersprechen und in den Dialog kommen? Fehlanzeige. Statt sich mit hochkomplexen politischen Fragestellungen zu beschäftigen, wie etwa der Frage, wie man eine gerechte Bezahlung zwischen Männern und Frauen erreichen können oder wie man strukturellen Rassismus in der Tat bekämpfen kann, leisten wir uns Tag für Tag neue Debatten über das Umbenennen von Straßen, der Genderpflicht (die niemand fordert!) oder andere Themen, die durch Propaganda- und Hassmaschinen wie Facebook und Twitter vorangetrieben werden.
Und wir alle sind schuld: Politiker jeder (!) Partei springen auf den Zug auf, wer sich zu Winnetou, Gendern oder einer politischen Reizfigur Friedrich Merz äußert, bekommt Klicks und Aufmerksamkeit. „Jeder Shitstorm ist gut, da Sie im Mittelpunkt stehen“, hat mir mal ein Medienberater gesagt. Beängstigend, aber unsere Realität.
Für mich ist die Ursache der Problematik der Verdrängung: Menschen empören sich gerne über Themen, die einfach zu greifen und überschaubar sind. Die Mohrenapotheke in Berlin braucht einen neuen Namen! Unerhört finden die einen, jetzt erst recht, die anderen. Die Situation ist simpel: Mohr – böses Wort, daher weg. Oder nicht?
Da ist es doch viel zu anstrengend, konkret über Gewalt gegen Frauen oder mit Menschen mit anderer sexuellen Orientierung zu reden oder den Klimawandel als Diagramm zu begreifen, Zahlen, Daten, Fakten sind da doc ermüdend, oder?
Wenn ich außerhalb der Twitter- und Social-Media-Bubble mit Menschen spreche, die in Dörfern wohnen, in die nur zweimal am Tag der Bus fährt, wo das Schwimmbad geschlossen wird, in denen die Straßen verwelken, wo das Krankenhaus eine halbe Stunde entfernt ist, wo die jungen Menschen aus Perspektivlosigkeit wegziehen oder mit Menschen, die tatsächlich von Rassismus, Sexismus und anderen Problemen betroffen sind, dann wird mir bewusst, wie klein dieser Kreis an Menschen ist, die unsere Diskurse lenken.
Wenn wir uns weiter einkapseln in unsere engen Debattenräume, in denen wir uns selbst beweihräuchern und uns applaudieren und zeitgleich Menschen ausschließen, werden wir nicht weit kommen.
Und nein: Ich möchte, die Wichtigkeit der Berücksichtigung aller Geschlechter und den Anliegen der LGTBQ+ Community nicht herunterspielen. Ich selbst verorte mich ebenfalls links der Mitte und setze mich seit einiger Zeit für Themen wie Anti-Diskriminierung, Antirassismus oder Klimaschutz vor Ort hier in Esslingen ein. Ich will dieses Engagement aber nicht als Monstranz vor mir hertragen und zeigen „Schaut mal auf mich! Ich bin so toll“. Ich will keine Symbolpolitik. In unserer immer hektisch werdenden Affektgesellschaft ist kaum Raum mehr für das Nachdenken, wir hecheln von tweet zu tweet, Aufmerksamkeit hier, ein paar Likes da. Diese Atemlosigkeit bestimmt Politik, Debatten in den „sozialen“ Netzwerken. Ein falsches, unüberlegtes Wort oder eine unglückliche Formulierung von Menschen, die vier Stunden schlafen, sich von Termin zu Termin hetzen und schon ist die Karriere erledigt. So werden Menschen verheizt. Kommt doch einmal runter, Leute!
Und dabei müssen wir eines beachten: Wir alle sind Menschen mit unseren Fehlern, unseren Widersprüchen. Ja, auch ich fahre gerne Auto, esse ab und zu Fleisch, fliege in den Urlaub. Macht mich das zu einem schlechteren Menschen? Gleichwohl schätze ich die Klimabewegung, die uns alle wachgerüttelt hat, engagiere mich lokalpolitisch für den Umweltschutz und den öffentlichen Personennahverkehr, versuche, Müll und Abgase in meinem Alltag zu reduzieren.
Niemand lebt zu 100% ökologisch, auch nicht der Klima-Aktivist oder der Professor für Erneuerbare Energien.
Erst wenn wir uns über unsere Fehler und Verfehlungen, die zutiefst menschlich sind, im Klaren sind, können wir in einen ehrlichen Diskurs treten.
Wer sagt denn, dass ich mich beispielsweise als Autofahrer oder Fleischesser nicht mit Fahrradverbänden oder Vereinigungen von Veganer*innen treffen darf, mir ihre Positionen anhören und zu eigen machen darf?
Ja, niemand sagt das. Ich will neugierig sein, in Lebenswelten eintauchen, die absolut nichts mit meiner gemein haben, ich will neue Menschen treffen, von ihnen lernen, mit ihnen über meinen Horizont hinauswachsen.
Und ich möchte auch keine Klischees und Klick-Garantie-Formulierungen wie „Gender Gaga“ oder „Klima-Hysterie“ reproduzieren, die die Debatte undifferenziert anheizen.
Stellen wir uns doch lieber gegen jene Populisten auf der Welt, die am menschengemachten Klimawandel zweifeln, denen homosexuelle Pärchen ein Dorn im Auge sind, die keine gesellschaftliche Vielfalt akzeptieren, anstatt uns gegenseitig als Nazis zu beschimpfen oder den moralischen Zeigefinger auf andere richten!
Ich möchte eine Gesellschaft, in der alle, links wie rechts, arm wie reich, queer wie hetero, miteinander herzlich lachen und sich ins Gesicht schauen können.
Ich möchte eine Gesellschaft, in der es endlich wieder Spaß macht, zu debattieren, Standpunkte auszutauschen, sich auch zu widersprechen. Aber eben mit Respekt vor Andersdenkenden, vor jeder einzelnen Minderheit und Gruppierung.
Ich möchte eine Gesellschaft, in der ich meine Meinung in meiner Sprache ausdrücken darf, ohne blind beschossen zu werden.
Und hier komme ich wieder in eine Rechtfertigungspose: Nein, ich möchte mir hiermit nicht das Stammtischgeraune zueigen machen „NA, dass musste doch mal gesagt werden“. Es gibt Dinge, die man nicht sagt. Punkt. Rassismus ist keine Meinung. Den Holocaust relativiert man nicht. Das ist strafbar, steht im Grundgesetz, gut so.
Und ich hoffe, dass mich niemand in den Social Networks nach diesem Text entfolgt oder mich als böser Relativierer gesellschaftlicher Problematiken entlarvt. Das bin ich nicht und das will ich lieber nicht sein.
Lasst uns lieber in den Dialog treten: Kritisiert mich gerne konstruktiv, teilt mir Eure Sicht der Dinge mit! Davon lebt Demokratie. Ich habe die Wahrheit nicht mit dem Löffel gefressen, kann als kleines Licht unter dieser großen Sonne keine letzten Antworten geben und will es gar nicht. Ich habe Fehler und werde mich irren. Das macht uns alle aber aus.