Brutal knappe Kiste – Wahlkrimi in Esslingen Teil 2

(Dieser Text ist eine Fortsetzung von Wahlkrimi in Esslingen)

„Brutal knappe Kiste“ schrieb mir jemand auf Instagram, nachdem sie meine Story gesehen hatte.

Es waren die wohl angespanntesten und nervösesten Stunden meines Lebens. Es ging um die nächsten acht Jahre der Stadt Esslingen. Um Zukunft. Um Klimaschutz. Um bezahlbaren Wohnraum. Um die Umsetzung der Mobilitätswende. Um eine lebenswerte und bunte Stadt. Vieles von dem wird maßgeblich durch den/die Oberbürgermeister*in gesteuert. Und ein solcher potenzieller Kandidat stand neben mir. Mein Chef. Sportlich, drahtig, stabile Statur. Die Arme verschränkt, eine Hand bei seiner Frau. Rote Krawatte, marineblauner Anzug. Es ging auch um seine Zukunft – persönlich wie beruflich. Auch für die Esslinger SPD stand die Frage im Raum, ob es ihr gelingen würde, nach dreißig Jahren erneut den Oberbürgermeister zu stellen.

Neben mir – Wahlkampfleiter, sämtliche Größen der Esslinger Gemeinderatsfraktionen, engagierte Mitglieder der SPD und dazwischen ich. Ich nahm alles wie in Trance wahr, sah die Bewegungen wie als wäre alles in Honig getaucht. Irgendwie stand ich irgendwann neben Reportern und dem amtierenden Oberbürgermeister, Dr. Jürgen Zieger.

Der Gegenkandidat hatte sich mit seinen Unterstützer*innen weiter hinten, jedoch in Sichtnähe, positioniert. Auch er starrte gebannt auf die große Leinwand im Neckarforum in Esslingen.

Ich schwitzte. Auf dem Handy waren die Ergebnisse schneller drin, über den „Wahlservice KOMM“. Sekündlich klickten alle Anwesenden im Raum (die ein Smartphone besaßen) auf den Aktualisierungs-Button. Nichts. Es tat sich nichts. 64 von 67 Bezirken ausgezählt.

Es war so knapp. So hauchdünn. Kandidat Klopfer (mein Chef) lag zwar immer leicht in Führung, aber nur mit 150 – 200 Stimmen. Doch je nach Stadtteil stellten sich die Stimmenverhältnisse oft diametral gegenüber. Während in den nördlichen Bezirken wie Wäldenbronn oder Serach („auf dem Berg“) Kandidat Töpfer klar punkten konnte, lag Klopfer in der Tallage vorn (z.B. in der Innenstadt oder in Mettingen).

Es hatte kurzzeitig eine leichte Führung für Töpfer gegeben, nämlich, als Berkheim ausgezählt wurde. Berkheim ist seit längerem sehr konservativ, die CDU fährt hier gute Ergebnisse ein. Und es war einer dieser Stadtteile, in der wohl eine fabrizierte Wechselstimmung herrschte: Nach 30 Jahren SPD-OB sollte jemand anderes ran. Und Berkheimer halten zusammen!

Töpfer holte hier über 60%. Das war einer der wenigen Momente, an denen die Stimmung wirklich schlecht war. Genauso wie in meinem Wahlbezirk, in dem ich wenige Minuten zuvor noch ausgezählt hatte: Dieser ging klar an Töpfer.

Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, ob es sich bei den fehlenden Bezirken um Briefwahl- oder um Stadtteilbezirke handelte.

Bei der Briefwahl hatte Klopfer immer einen leichten Vorteil, das war aus dem ersten Wahlgang und auch hier deutlich hervorgegangen. Doch ein konservativer Stadtteil – und das Ganze konnte sich drehen. Es war die Hölle. Hätte man Kohlenstoffatome in jener halben Stunde lange genug im Raum gelassen, wären Diamanten entstanden.

Um mich herum wurde alles nervöser. Um mich abzulenken, ging ich von Menschengruppe zu Menschengruppe und unterhielt mich. Einige blickten bierernst, bei anderen spürte man schon die Zuversicht, dass es klappen würde. „Es müssten jetzt noch Wunder geschehen, damit Töpfer das Ding drehen kann“, sagte mir jemand. Ich wollte das gern glauben. Aber: Vorsicht war geboten. Bis zur letzten Stimme wird gezählt. Das haben wir aus den USA ja gelernt.

Und dann: 65 von 67 ausgezählt. Es war wohl doch die Briefwahl. Diese Tatsache ließ mich etwas aufatmen. Aber auch hier war die Situation nicht ganz klar, da es durchaus auch Briefwahlbezirke gab (auf jeden Fall mehr als einen!), in denen Töpfer leicht die Nase vorn hatte!

Meine Güte, 200 Stimmen Unterschied. Das war so haarknapp. Man muss sich einmal vorstellen: Bei 70 000 potenziell Wahlberechtigten war dies ein Bruchteil. Es hatten aber leider nur knapp 30 000 gewählt, die Wahlbeteiligung lag bei jämmerlichen 38,1%.

66 von 67 ausgezählt. Alle starrten auf ihre Handys. Manche sah ich Stoßgebete sprechen. In die eine oder in die andere Richtung. Man merkte: Es ging wirklich um was. Für manche um ihren Chef der Stadtverwaltung. Für einen um seinen Nachfolger. Für andere um den Vorsitzenden ihres Gemeinderates. Und für interessierte Bürger*innen um ihr künftiges Stadtoberhaupt. Wo zum Teufel war der 67. Wahlbezirk und warum dauerte das so lang?

Die Zeit dehnte sich wie ein zäher Kaugummi. Zwischendurch lugte ich zu Matthias. Ich vermutete, dass es wohl eines der nervenaufreibendsten Momente seines Lebens war. Er lehnte sich zu seiner Frau Anni.

WARUM WAREN WIR ALLE SO NERVÖS?

Viele von uns waren von einem deutlicheren Ergebnis ausgegangen. Hintergrund: Vor zwei Wochen, am 11. Juli, hatte die Hauptwahl (auch „Erster Wahlgang“ genannt) stattgefunden. Hier waren folgende Kandidaten angetreten, die folgende Ergebnisse geholt hatten:

Daniel Töpfer (CDU / Freie Wähler / FDP) 31,9%

Matthias Klopfer (SPD) 30,7%

Vittorio Lazaridis (Bündnis 90 / GRÜNE) 22%

Dr. Gebhard Mehrle (unabhängig) 9,8%

Martin Auerbach (DIE LINKE) 4,1%

Gabriela Letzing (unabhängig) 1,2%

 

Ganz entspannt war ich am 11. Juli nicht.

 

 

Und dann. Tadaaa. Matthias‘ Sohn, gebannt am Handy wie wir alle, schrie auf: JETZT! Ich rannte sofort zu ihm. Alle Bezirke ausgezählt. Matthias Klopfer war Oberbürgermeister. Und das mit 360 Stimmen Vorsprung. Also wirklich eine brutal knappe Kiste:

Das vorläufige Endergebnis (schöner Pleonasmus!) lautete:

Matthias Klopfer: 13 063 Stimmen (48,41%)

Daniel Töpfer: 12 700 (48, 11%)

Gabriele Letzing: 581 (2,2%)

Sonstige: 55

 

13 063 Stimmen. Damit reichte es. Ich stellte mir jedes einzelne Kreuzchen vor, war jeder Person dankbar, die sich für Klopfer entschieden hatte. Hinter jeder Stimme verbarg sich eine Motivation, eine Überzeugung – ein Grund, für jenen Kandidaten zu stimmen.

Die SPD-Fraktion, die sich vorne positioniert hatte, brach in Applaus aus. Es löste sich etwas. Der Raum bebte. Mir schossen die Tränen der Freude ins Gesicht.

Ich eskalierte komplett. Brach in eine Mischung aus Applaus, Freudentränen und blanke Euphorie aus. Ich umarmte jeden, den ich durch meine verschwitzten Brillengläser auch nur ansatzweise erkannte, lief wild um den ganzen Raum, zum Glück haben es Kameras nicht festgehalten. Im Nachhinein berichteten mir viele, dass sie komplett erstaunt waren, mich so zu sehen.

Rückblickend betrachtet war es wie eine Orgie. Dass wir natürlich Masken trugen und wir immernoch in einer Pandemie steckten, passte gar nicht ins Bild. Und nachträglich entschuldige ich mich auch dafür. Es war nur ein wahnsinnig intensiver und nervenaufreibender Moment. Gerne hätte ich zwischen dieser totalen Anspannung und der Verkündung des Ergebnisses für wenige Sekunden kurz auf die Stopptaste gedrückt und aus der Distanz auf mich gesehen. Ich hätte mir alle Gesichter angeschaut, das ganze Szenario.

In der Ferne hörte ich bereits die städtische Blasmusikkapelle, die zum ersten Ton ansetzte. Erster Bürgermeister Ingo Rust betrat die Bühne: „Ich gratuliere ganz herzlich Herrn Matthias Klopfer zur Wahl des Oberbürgermeisters der Stadt Esslingen am Neckar“.

WIR HATTEN ES GESCHAFFT. Demokratie ist sau mühsam und anstrengend, aber der Moment, wenn Du es geschafft hast, lässt sich nicht bezahlen. Ich weinte. Die (knappe) Mehrheit der Esslinger*innen hatte sich für meinen Chef entschieden. Für ein gutes Miteinander. Für eine nachhaltige Zukunft in unserer Stadt.

Bei aller Freude über den Wahlsieg und etlichen Jubelstürmen: Neben dem Team Klopfer war ja auch noch das Team Töpfer im Neckarforum, also Gemeinderäte von CDU, Freie Wähler FDP, seine Gefolgsleute, Unterstützer*innen. Ich blickte in aschfahle Gesichter, Trauer und große Enttäuschung machte sich breit. Völlig selbstverständlich! Bei aller Kritik am Gegenkandidaten: Es muss wahnsinnig bitter sein, eine Wahl so knapp zu verlieren. Man kann vom Kandidaten Töpfer und seinem Wahlkampf halten, was man will, eines muss man ihm lassen: Er war höchst professionell. Sehr viele Ressourcen sind in ganz unterschiedliche Wahlkampfmaßnahmen hineingeflossen, vor allem junge Wählerinnen wurden sehr gut über Social Media erreicht. Die Tatsache, dass sich drei Esslinger Parteien (und davon zwei sehr große) zusammengeschlossen haben, bedeutet, dass in einer Kampagne vieles möglich ist.

Und dann so knapp zu verlieren – ärgerlich. PS: Von der Drittplazierten Letzing fehlte jegliche Spur. Zumindest nahm ich sie nicht wahr.

But that’s the brutal part of politics: Es kann nur einen Gewinner geben. Demokratie und Wahlkampf bedeuten Auswahl, unterschiedliche Kandidat*innen, unterschiedliche politische Ideen und Konzepte im Wettstreit. Pluralität. Ich finde das großartig. Noch besser ist es, dass am Ende die Mehrheit entscheidet.

Auf jeden Fall wollte ich mir es mir nicht ausmalen, wie es gewesen wäre, wenn wir die Wahl so knapp verloren hätten.

Aber zurück zu unserem Wahlkampf:

Drei Monate Infostand, Wahlplakat, Versammlung, Gespräch, 80-Stunden-Wochen, schlaflose Nächte, Strategiebesprechungen, eine Kundgebung hier, ein Plakat noch dort nachhängen, Wahlprogramme dem Wähler bis nach Hause fahren

Und wie heißt es so schön: Die knappen Siege sind die schönsten Siege. Es bedeutete, dass sich jedes aufgehängte Plakat, jedes Überzeugungsgespräch mit eine*r*m potenziellen Wähler*in, jeder Wahlkampf im Grünen (unsere eigene kleine Wahlkampf-Idee) gelohnt hatte. Für mich waren es drei sehr interessante und lehrreiche Monate, bei denen ich viel über Organisation, Wahlkampfmanagement, Aufgabenverteilung lernen durfte. Für viele wichtige Aufgaben, wie die Durchführung von Informationsständen in der Innenstadt, mehreren Plakatierungen sowie dem „Alltagsgeschäft“, Terminorganisation etc. war ich verantwortlich. Ich habe mehr gelernt als in drei Monaten Uni – das kann ich sagen. Apropos Uni: Während des Wahlkampfs habe ich studiert, musste aber mein Studium drastisch herunterfahren.

Eines stimmte mich jedoch traurig: Die Wahlbeteiligung von 38,1%. War sie im ersten Wahlgang schon sehr niedrig gewesen, so war sie hier sehr leicht zurückgegangen. Ich weiß – für Kommunalwahlen war das keine unübliche Wahlbeteiligung. Aber warum?

Das Ergebnis bedeutete, dass es nicht einmal der Hälfte der wahlberechtigen Esslinger*innen es für wichtig genug hielt, ihren neuen Oberbürgermeister zu wählen … Vor allem geht es in der Kommunalpolitik (und hier um das wichtige Amt des obersten Repräsentanten der Stadt) um ganz konkrete Dinge. Der Spielplatz vor der Haustür, der Radweg, der gebaut oder nicht gebaut wird, die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der großen Hauptstraße, der zusätzliche städtische Kindergartenplatz, von dem die junge Familie profitiert. Kommunalpolitik ist die Keimzelle der Demokratie, sagte Konrad Adenauer. Und er hat recht. Nirgendwo in der Politik erlebt man die Auswirkungen des eigenen Tuns – der eigenen demokratischen Entscheidungen – so nah wie in der Kommune. Dazu dürfen wir Bürger*innen den Gemeinderat wählen, mancherorts auch eine Ortschatsvertretung. Und als höchstes Organ: Den Oberbürgermeister. Als Chef der Stadtverwaltung, oberster Repräsentant und Vorsitzender des Gemeinderates ist er sozusagen Bundeskanzler, Bundestagspräsident und Bundespräsident in einer Miniaturversion. Es gibt faktisch keine Instanz, die über einem steht (Spitzfindige Kenner werden jetzt völlig zurecht das Regierungspräsidium in größeren Städten und das Landratsamt für kleinere Gemeinden nennen, es handelt sich hierbei aber eher um eine dienstliche Aufsicht und nicht um eine fachliche oder inhaltliche Kontrolle – wäre ja auch ziemlich undemokratisch, zumal in Baden-Württemberg Landrat und Regierungspräsident nicht vom Volke gewählt sind).

Die Kommune ist wie ein nachgebautes Deutschland in Kleinformat: Es gibt ein gewähltes Parlament, eine Regierung in Gestalt der Verwaltungsspitze, ein Amtsgericht (das aber nicht zur Stadt direkt gehört, sondern zum Land) und natürlich lokal ansässige Unternehmen, Schulen und Hochschulen, Gruppen, Vereine und Interessensvertretungen. Und nicht zu vergessen das Wichtigste: Wir. Die Bürgerinnen und Bürger.

In einer überschaubaren Stadt wie Esslingen mit einer Größe zwischen einer Kleinstadt wie Tübingen (der Schmankerl sei mir an der Stelle erlaubt, die Einwohnerzahl gibt mir jedoch recht, dass Tübingen kleiner als Esslingen ist, 😉 und einer Großstadt  wie Stuttgart liegt der Charme dieser Nähe. Wenn man samstags auf den Markt geht, kennt man vereinzelt Leute. In der Innenstadt kann man vieles per pedes erledigen.

Das war jetzt ein größerer Exkurs, ich bitte um Verzeihung: Um auf die sehr niedrige Wahlbeteiligung zurückzukommen: Natürlich fehlt die mediale Präsenz einer Landtags- oder gar Bundestagswahl (hier liegt die Wahlbeteiligung zwischen 70 und 80 Prozent), aber trotzdem: Es hängen monatelang Plakate in der ganzen Stadt, mehrere Male erhält jeder Haushalt ein Prospekt mit Informationen und zusätzlich dürfen nicht nur deutsche Staatsbürger*innen, sondern auch alle EU-Bürger*innen abstimmen. Also Griechen, Italiener usw. (von denen es in Esslingen einige gibt!).

Es bleibt die Frage, wie man künftig mehr Menschen zu einem solch niederschwelligen Angebot wie einer Kommunalwahl mobilisieren kann. Weil eines ist klar: In der Esslinger Höhenlage, also den nördlichen Stadtbezirken, wo viele Reihenhäuser stehen und die SUVs brav davor parken, ist die Wahlbeteiligung eklatant höher als in riesigen Mehrfamilienhäusern in der Tallage, also der Pliensauvorstadt oder in Mettingen.

Wäre es sinnvoll gewesen, die Oberbürgermeisterwahl mit der Bundestagswahl am 27. September zusammenzulegen?  Ich weiß es nicht. Sicherlich hätten viel mehr Menschen abgestimmt, aber der Oberbürgermeisterwahlkampf wäre im Geflecht der bundespolitischen Ereignisse etwas untergegangen. Es gibt eben selten eine optimale Lösung.

Ich war jedenfalls gottfroh, dass der Wahlkampf vorbei war. Zuallererst ging es jedoch zur Wahlparty in unser Headquarter, dem Café Klopfer (eigentlich Café Uferlos). Hier feierten wir unseren Star mitsamt seiner Familie, stießen mit gutem Esslinger Kesslersekt an und ließen die Ereignisse der letzten Monate Revue passieren. Schön war es – die Wahlnacht endete spät und in irgendeiner alten Kneipe.

Etliche Schulterklopfer, Aperol Spritz und lauter Lacher später fiel ich in mein warmes Bett.

Am späten Morgen des 26. Juli holte ich mein Auto ab, das ich am Tag zuvor in der Stadt stehengelassen hatte. Im Bus beobachtete ich die Menschen: Ob sie wussten, dass gestern die Wahl war? Wie waren ihre Reaktionen? Wen hatten sie gewählt?

Ich trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck: „Team Klopfer“ und spazierte (ja, zugegeben wie ein stolzer Pfau) durch die Innenstadt, aß ein paar köstlicher Maultaschen in einem Restaurant, das im Wahlkampf ein häufig frequentierter Mittagsort gewesen war, sprach mit dem Wirt und vorbeilaufenden Bekannten über die Wahl (unter anderem war das Büroteam des amtierenden Oberbürgermeisters zugegen) und freute mich erneut.

Es war ein schöner Sommer.