Lange nicht mehr geschrieben, fällt mir auf. Liege gerade wie eine dicke Wohlstandsmade auf dem heimischen Sofa, lese viel, schaue Serien nach, die ich aufgrund des hohen Zeitpensums durch Studium und Job nicht konsumieren konnte und denke über das vergangene Jahr nach.
Jedes Jahr komme ich zum Entschluss, dass es das „verrücktestes“, „nervenaufreibendste“ oder „genialste“ Jahr aller Zeiten war. Gewiss liefern sich 2020 und 2021 ein enges Rennen um den Titel der anspruchsvollsten, intensivsten, … was auch immer-Monate.
Es ist Weihnachten, überall auf der Welt liegen die Telefonhörer still auf Büroschreibtischen, Abwesenheitsnotizen wurden brav geschrieben, gut genährt (vor allem mit Käse) wälzen sich Mitteleuropäer auf schweren Polstergarnituren, streiten sich mit den Eltern oder auch nicht, zeigen sich ihre Jahresrückblicke, Musik, Momente, Fotos, was auch immer. Eine sehr schöne Zeit. Auf den Weihnachtsspaziergängen wird sich gegenseitig brav zugenickt, frohes Fest gewünscht, schnell weg, bevor es noch zu einem echten Gespräch kommt.
Wann haben wir aufgehört, miteinander zu reden? Wann haben wir begonnen, uns gegenseitig nicht mehr zu grüßen, wegzuschauen (oder auf die Uhr), um in unsere viel zu großen Autos einzusteigen und mit beheiztem Popo gemütlich nach Hause zu fahren?
Die Pandemie hält uns seit fast zwei Jahren fest, eigentlich wäre es die Stunde der Nähe, Solidarität, Rücksichtnahme und Empathie. Eigentlich. Ich spüre eine Gesellschaft, die kälter geworden ist. Besonders fällt es mir auf, wenn ich alte Bekannte auf der Straße treffe. Die Gespräch sind immer gleich: „Was machst Du gerade so?“ … „Ja, eigentlich …“ (jetzt folgt eine Begründung, warum das heimtückische Virus alle Jahres-, Urlaubs-, oder Lebenspläne kaputtgemacht hat). „Ja, Corona hat so viel kaputtgemacht…“ „Auf jeden Fall war es schön, Dich wiederzusehen – lass auf jeden Fall in Kontakt bleiben“. Schnell gehen, bevor man es noch ernst meint. Eigentlich will man sich ja sehen, aber … Eigentlich ist die stärkste deutsche Verneinung. Jeder schaut nach sich und damit ist ja an alle gedacht, wie es so schön heißt. Offiziell lieben wir alle Menschen, posten auf den sozialen Medien unsere schönsten Momente in trauter Zwei- oder Drei- oder Viersamkeit, aber kaum sehen wir im Supermarkt einen ehemaligen Klassenkameraden, Lehrer, Bekannten, Weggefährten, so sind wir unsichtbar.
Ich muss zugeben – ich bin auch schon vorbeigelaufen, habe aufs Handy geguckt, mich sogar im Auto aktiv versteckt, nur um einen unangenehmen Gespräch aus dem Weg zu gehen. Irgendwann habe ich mir gedacht: Warum weiche ich aus? Gewiss: meistens ist es einfach die fehlende Lust, sich zumindest kurz zu unterhalten. Irgendwie nachvollziehbar. Aber es ständig als Ausrede vor sich hinzuschieben, ist irgendwie auch verkehrt. Mir kam ein weiterer Gedanke auf: Fühle ich mich manchmal schuldig, weil der letzte Kontakt mit der Person, die ich zufällig treffe, schlecht verlaufen ist? Weil ich versprochen hatte, mich zu melden, ich eine Sprachnachricht oder Textnachricht nicht beantwortet hatte? Das trifft manchmal zu. Und es ist irgendwie feige, dem Kontakt aus dem Weg zu gehen. Stelle Dich unangenehmen Situationen! hat mir meine innere Stimme gesagt.
Und die Erfahrung zeigt: Wenige, die man zufällig trifft, sind irgendwie böse oder gar enttäuscht, weil man zum Beispiel vergessen hatte, sich zu melden. Im Gegenteil: Manchmal ist die Freude sogar umso größer, wenn man es nicht erwartet, angesprochen zu werden. Ich habe vor Kurzem ein Tageshighlight erlebt: Ich saß in der Uni-Bibliothek in einem Online-Meeting, als mich eine alte Bekannte ansprach. Ich war so froh, sie zu sehen, dass wir von einer Studentin aufgrund der Lautstärke verjagt wurden.
Irgendwie scheint die Lage nicht besser zu werden. Auf der Welt sterben Kinder an Hungersnot, werden als Soldaten eingesetzt, Menschen führen aussichtslose Kriege wegen ihrer Hautfarbe, Religion oder Weltanschauung, die Erderwärmung steigt zuverlässig, während wir weiter CO2 in die Atmosphäre schleudern – manche bezweifeln sogar den Einfluss des Menschen auf den Treibhauseffekt – und zu allem Überfluss sterben Menschen an einer Pandemie, die unsere Intensivstationen füllt.
An manchen Tagen sterben so viele Menschen, als würde täglich ein Jumbojet abstürzen. Wir waren geduldig, solidarisch, blieben zuhause, ließen uns impfen. Und trotzdem kommen wir nicht heraus. Achtsamkeit war das Stichwort. Wenn man sich die Proteste der Impfgegner:innen anschaut, ist von Achtsamkeit wenig zu spüren. Man muss hier haarscharf trennen: Es ist legitim, Zweifel und Fragen zu haben – auch zum Impfstoff. Jede:r kann sich informieren – über Risiken und Nebenwirkungen, wie es in Medikamentenwerbungen so schön heißt. Ich habe Respekt vor Menschen, die sich gründlich informieren, bevor sie eine Entscheidung treffen. Ich habe aber keinen Respekt vor Gewalt und Ausschreitungen. Wenn Zweifel am Virus in einen lauten Protest münden, in dem Politiker:innen verunglimpft und sogar vor ihren Häusern bedroht werden und zu noch mehr Hass, Hetze und Widerstand gerufen wird, dann hat unsere Toleranz ein Ende.
Warum reden wir immer nur über die Lauten, nicht über die Leisen, die sich stillschweigend an die Regeln halten, die seit zwei Jahren alle Maßnahmen mittragen?
Vor den Menschen, die in wichtigen Berufen wie der Pflege und der Medizin täglich an der Front stehen und unser Leben retten?
Vor Menschen, die nicht ihre geplante Operation erhalten, weil Umgeimpfte und auch Geimpfte die Krankenhäuser so stark beanspruchen?
Solidarität ist das Stichwort.
Das Klima ist angespannt, es ziehen dunkle Gewitterwolken über Deutschland auf. Gleichzeitig bemerke ich auch eine zunehmende Aggresivität im Diskurs der anscheinend „Vernünftigen“, also der Geimpften. Es darf auch nicht sein, dass Menschen diskriminiert, angegriffen oder stigmatisiert werden, weil sie eine andere Entscheidung für sich getroffen haben. Durch die Maßnahmen erlebt jede:r die Einschränkungen – beispielsweise, wenn man nicht in das Restaurant oder in den Einkaufsladen hineindarf und viel Geld für Tests zahlen muss. Jede:r hatte die Chance, sich impfen zu lassen. Wer dies trotzdem nicht tut, der muss mit den Konsequenzen leben. Wie immer im Leben.
Die Sehnsucht nach einer großen öffentlichen Umarmung, großen Feierlichkeiten, einen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt und das Verlassen des Hauses ohne Maske nimmt stetig zu. Im Sommer schien vieles normal, die Pandemie war zwar noch da, aber das Ende schien nah. Wir hatten Wahlkampf, kein Politiker traute sich, unangenehme Wahrheiten unters Volk zu bringen. Dabei hatten wir die Situation des letzten Winters gut im Kopf. Und die Impfkampagne zog leider nicht gut genug.
Während andere Länder wie Brasilien, in dem Präsident Bolsonaro noch vor der Impfung warnte – mit dem Hinweis, keine Verantwortung zu tragen, falls sich Geimpfte in einen Kormoran verwandelten, eine Impfbereitschaft von knapp 90% dokumentierten, kämpften wir mit 60%. Zu wenig für die Herdenimmunität. Die hohe Impfquote in Ländern wie Brasilien hängt übrigens damit zusammen, dass die Bevölkerung mit der Impfpflicht in den 80er Jahren gute Erfahrungen gemacht hatte. Ganze Krankheiten, wie beispielsweise Polio, wurden ja durch die Impfung (hier die Schluckimpfung) ausgerottet.
Aber was weiß ich. Ich bin kein Experte und vertraue Menschen, die sich auskennen. Bis auf Weiteres bin ich geduldig und erfreue mich an den kleinen Dingen des Lebens (oder auch großen), wie zum Beispiel, dass ich nach zwei digitalen Semestern endlich an die Universität darf.
Trotz Maske, regelmäßigem Eislüften, Desinfizieren und Anwesenheitsformularen ist es ein großer Unterschied zur digitalen Lehre, Diskussion und Debatte sind nun anders möglich! Irgendwie auch schön, wie sich alle Mühe geben, damit es klappt – damit alle teilhaben können. Mittlerweile gilt jedoch 2G und es gab auch schon Corona-Ausbrüche. Ich hoffe fest, dass im kommenden Jahr Präsenzkurse weiter möglich sind.
Die Universität erinnert mich nicht nur architektonisch an mein altes Gymnasium (strenger Brutalismus, viel Sichtbeton). Manche Kurse sind sehr schulisch, melden, Aufgaben bearbeiten, Sitzordnung wie im alten Klassenraum. Andere widerum sind so, wie ich mir Universität immer vorgestellt hatte: Zu Beginn ein Referat, dann ausführliche Diskussionen über Literatur.
Im Vergleich zur Schule ziehe ich die Uni um ein Vielfaches vor – Ich kann mir die Zeit selbst einteilen, Stundenpläne selbst gestalten… Herrlich. Es interessiert niemanden, ob man anwesend ist, ob man die Texte gelesen kann und auch etwas dazu sagen kann. Gelebte Freiheit, gelebte Verantwortung. In der Schule noch Allrounder, Mathe, Chemie, Physik und natürlich auch katholische Religion an einem Vormittag, in der Uni Generalspezialist. Von vielem eine Ahnung, von nichts so richtig.
Eigentlich schon besser. Vielleicht auch irgendwann einmal normal.