pueblos jóvenes

In früheren Blogeinträgen wurden sie schon ab uns zu erwähnt: die pueblos jovenes, die jungen Dörfer. Um an dieser Stelle Wikipedia zu zitieren: „Es handelt sich um zumindest in der Anfangsphase informelle Siedlungen, die aber schon eine teilweise oder vollständige Infrastruktur aufweisen, so etwa fließend Wasser und Strom. Die Pueblos Jovenes sind durch die großen Migrationswellen aus den umliegenden ländlichen Gebieten oder aus dem gesamten Land entstanden. Letzteres ist bei der peruanischen Hauptstadt Lima der Fall. Die Migration nahm durch die Aktivitäten verschiedener Terrorgruppen, vor allem Sendero Luminoso und MRTA, seit deren Beginn um 1980 stark zu.“ (ein Eintrag zu den Terrorgruppen im Kontext von Perus Geschichte folgt vielleicht in den nächsten Tagen).

Schon zu Beginn meiner Zeit in Peru wurde mir von den pueblos jovenes erzählt, allerdings meistens im Zuge von Erklärungen, welche Stadtviertel ich vermeiden sollte. Für mich war recht schnell klar: es gibt reiche und arme Stadtviertel, und es gibt die pueblos jovenes, in meinem damaligen Verständnis mit favelas zu vergleichen.

Im Nachhinein ziemlich ignorant.

Schon von mehreren Seiten wurden mir die Alternativen Stadtführungen empfohlen, die Alois Kennerknecht in den pueblos jovenes in Lima anbietet, und diesen Samstag habe ich mich schließlich mit Clara und Saskia auf den Weg gemacht, um Alois in Surco zu treffen und mit ihm in die benachbarten pueblos zu fahren.
Alois Kennerknecht kommt ursprünglich aus dem Allgäu, lebt jetzt aber schon seit 1987 in Perú und arbeitete zuerst in verschiedenen Regierungsinitiativen, bevor er begann, eigene Projekte auf die Beine zu stellen. Hier gibt es ein Interview mit ihm, das seine Arbeit genauer erklärt.
Zuerst war ich skeptisch, klingt das doch alles sehr nach Entwicklungshilfe, und der stehe ich schließlich sehr kritisch gegenüber. Umso mehr Alois aber erzählt hat, desto mehr wurde klar, dass seine Arbeit nichts mit konventioneller Entwicklungszusammenarbeit zu tun hat. Er wird geschätzt, um seine Meinung gebeten, und doch ist er manchen Leuten ein Dorn im Auge; er erzählt von einem Vortrag in Villa del Salvador (der Partnerstadt Tübigens!), bei dem er mehrmals gebeten wurde, zu gehen; da er bekannt dafür ist, Missstände anzuprangern, wurde befürchtet, er könnte die Geldgeber verärgern.

Ich scheitere jetzt schon am locker fünften Versuch, diesen Eintrag inhaltlich oder chronologisch zu strukturieren und den berühmten roten Faden zu finden, also gibt es jetzt einfach meine Eindrücke und Erfahrungen ohne Zusammenhang:

1) pueblo joven ist nicht gleich pueblo joven
Pueblos jovenes ist der Überbegriff für die Gebiete, die einst informelle Siedlungen waren, da dort aber 2/3 der Stadtbevölkerung leben, ist das Gebiet natürlich entsprechend groß und in viele weitere Stadtviertel unterteilt, deren Namen im Zentrum Limas kaum jemand kennt.

2) Die informellen Stadtviertel sind genauso vielseitig wie die Offiziellen
Das klingt, als wäre es offensichtlich, tatsächlich war mir aber nicht bewusst, wie groß die Unterschiede innerhalb eines Viertels sein können, vor allem die Infrastruktur betreffend. Während sich die Hauptstraßen kaum von denen in Callao unterscheiden, gibt es oben an den Hängen einfache Holzhütten ohne Wasser und Strom. Doch der Großteil der Viertel hat Anschluss zu beidem, und ist auch sonst überhaupt nicht so verwahrlost, wie man erwarten könnte. Das bringt uns zu Punkt 3:

3) Die Menschen unterscheiden sich nicht zu denen auf der anderen Seite
Nochmal sehr offensichtlich. Konkret: Themen wie Mode, Internettrends oder Promi-News sind genauso relevant wie überall sonst; man geht zur Arbeit, zum Sport, in die Schule oder auf die Uni; es gibt Shoppingcenter, Restaurants und Friseure.

4) Die Panamericanas fanden in einigen der Viertel statt
Da im Zentrum Limas ja nicht einfach Häuser abgerissen werden konnten, um Platz für die Sportanlagen der Panamericanas zu machen, die 2019 in Lima stattfanden, wich man in die umliegenden Gebiete aus, und verwandelte einfache Fußballfelder in z.B. Villa Amarilla del Triunfo in moderne und beeindruckend große Anlagen, die jetzt ein bisschen fehlplatziert mitten in den Vierteln stehen. Alois hat uns zusätzlich darauf hingewiesen, dass die Zufahrtswege zu den Anlagen ordentlich aufgehübscht wurden: die Straßen wurden ausgebessert, und es wurden Farbeimer an die Anwohner verschenkt, damit zumindest der erste Eindruck die Realität versteckt.

5) Die Nebelfänger kann man wohl eher als Geldfänger bezeichnen
Falls ihr euch die Doku zur Mauer angesehen habt, wisst ihr schon, um was es geht: die sogenannten „Nebelfänger“ sehen im ersten Moment aus wie einfache Tücher, die auf den Bergrücken gespannt sind, um den Nebel abzufangen, der für Lima tatsächlich ein Problem darstellt – und das kann theoretisch sogar funktionieren! In der Praxis hat der „Erfinder“ Abel Cruz die recht stattliche Fördersumme allerdings hauptsächlich selbst eingesteckt, und die paar Nebelfänger, die auf den Bergen zu finden sind, funktionieren nur im Ausnahmefall.

6) Einfacher bedeutet nicht schlechter
Mit einfach beziehe ich mich auf die Krankenhäuser in den pueblos: oft an den großen Verbindungsstraßen gelegen, bestehen sie meistens aus einem langgezogenen überdachten Hauptgang, an dem links und rechts Container angeschlossen sind, in denen sich dann Behandlungszimmer, Materiallager usw. befinden. Klingt im ersten Moment nach einer recht provisorischen Lösung, vor allem, wenn man ein klassisches deutsches Krankenhaus als Vergleich heranzieht, aber tatsächlich spricht überhaupt nichts gegen diese Krankenhäuser: durch das Containersystem sind die verschiedenen Abteilungen beliebig erweiterbar, die Materialkosten halten sich deutlich in Grenzen, und beim Klima Limas sind durchgängige Wände schlichtweg nicht notwendig. Nach dem Besuch dort hat sich einiges in meinem Verständnis geändert!

7) Die beste Straße Limas liegt weit entfernt von Miraflores oder La Molina
… und zwar in Virgen de Lourdes! Eine Zementfabrik, die dort ihren Sitz hat, hat sie gebaut, und direkt unter ihr verlaufen riesige Förderbänder – ganz schön beeindruckend.

8) Immobilien sind genauso wichtig wie im Rest Perus
Wohnraum ist in Peru sehr wichtig, und wer sein Geld sinnvoll anlegen möchte, investiert in eine Wohnung an der Küste; das ist hier der allgemeine Konsens. Oft ist sogar von einer richtigen Immobilienmafia die Rede, und Spekulation mit Wohnraum ist keine Seltenheit. Dabei ist Landbesetzung eine häufige Strategie: Mit dem Ziel, mehr Fläche wirtschaftlich nutzbar zu machen, wurden in den 70er-Jahren einige konfuse Gesetze verabschiedet, die brachliegendes Land der Person zusprechen, die es bewirtschaftet oder besiedelt. Das führt heute dazu, dass Immobilienmogule Menschen in den pueblos jovenes dafür bezahlen, dass sie mehrere Flecken Land besetzen, um den Menschen das Land dann billig abzukaufen. So haben viele Leute mehrere Häuser, und werden von den Menschen auf der anderen Seite der Mauer dafür verteufelt.

9) Der schnelle Wachstum der pueblos beruht nicht auf Landflucht
In vielen Reiseführern und Büchern wurde immer wieder erwähnt: Wegen der anhaltenden Landflucht wachsen die pueblos jovenes weiter und weiter. Tatsächlich ist das aber eher auf das zentralisierte Bildungssystem zurückzuführen: Da es lange Zeit nur Universitäten in Lima und Trujillo gab, zogen oft ganze Familien in die Städte, um ihren Kindern Bildung zu ermöglichen. So viel zu den „verarmten Indigenen, die ihr Glück in den Städten suchen“ – dieses Bild ist stark vereinfacht, aber leider trotzdem häufig benutzt.

10) Korruption ist allgegenwärtig
Während wir durch die Straßen fahren, erzählt Alois immer wieder von Projekten, die an der Korruption scheitern, und wie es den Leuten langsam den Mut nimmt, neues auf die Beine zu stellen. Nur ein Beispiel: eine Schule in San Juan de Miraflores, seit Jahren von einer Stiftung aus Deutschland gefördert; angekommen von dem Geld ist fast nichts, stattdessen landet es in den Taschen des Direktors. Doch der Organisator will davon nichts wissen, hat sein Projekt in Deutschland doch so einen guten Ruf.

11) Die Wahlpflicht sorgt für ziemlich viele Probleme
Wahlbetrug auf recht subtile Weise: wenn in den pueblos vor den Wahlen auf einmal Land verschenkt wird oder Care-Pakete verteilt werden, kann es schnell passieren, dass sich so einige Menschen für einen Kandidaten entscheiden, den sie sonst nicht unterstützt hätten – irgendjemand müssen sie ja wählen.

12) Hohe Kriminalitätsrate ≠ man wird sofort überfallen
Unser Taxifahrer war recht skeptisch, als Alois verkündete, wo er gerne hinmöchte – er war auch noch nie in den pueblos gewesen, und ließ sich erstmal versichern, dass er und sein Auto wieder heil in Lima ankommen würden. Die Kriminalitätsrate ist tatsächlich deutlich höher als in den „normalen“ Stadtteilen Limas, und vor allem Jugendbanden sind weit verbreitet. Und doch leben dort normale Menschen, und wir konnten uns auch als gringas problemlos bewegen.

Ich weiß nicht ganz, was ich erwartet habe; wahrscheinlich Wellblechhütten, Kinder in dreckigen Klamotten, die auf der Straße spielen, Müll und Straßenhunde – das klassische Bild eines Armenviertels, von Mitleid manipuliert. Stattdessen war ich auf dem größten Friedhof Südamerikas, habe eine tolle Künstlerin kennengelernt, die in wenigen Sekunden ein Alpaka aus Stoff zauberte,war in einem Krankenhaus mit unglaublich moderner Ausstattung und einer Schule, die so auch in La Molina stehen könnte.
Die Probleme in den pueblos sind viel komplexer, als man im ersten Moment denkt, und die Stadttour mit Alois hat mir auf jeden Fall unglaublich geholfen, mein eindimensionales Bild der Viertel zu revidieren und zu erweitern. Das würde wahrscheinlich auch den Verantwortlichen in der Stadtverwaltung mal ganz gut tun – im Moment werden die pueblos meiner Meinung nach nämlich nicht als vollwertige Stadtviertel angesehen, denn obwohl Infrastruktur wie Wasser und Strom bereitgestellt wird, hat man doch irgendwie keine Lust, sich wirklich mit den Problemen dort zu beschäftigen. Auch die meisten Limeños, mit denen ich gesprochen habe, haben ein sehr stereotypisiertes Bild vor Augen: Armut, Kriminalität und vor allem die illegale Landbesetzung stehen dabei im Vordergrund. Und es ist nunmal so viel einfacher, eine Mauer zu bauen, als wirklich Verantwortung zu übernehmen.

Fotos hier

 

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