Stell dir vor, es ist Hochwasser und keinen kümmert’s

Stell dir vor, es ist Hochwasser und keinen kümmert’s

Zuerst einmal die obligatorische Entwarnung an alle, die’s interessiert: ja, das Wasser steht hoch an meinem Einsatzort Nueva Helvecia, aber bis zum Haus meiner Gastfamilie reicht es nicht. Es ist auch unwahrscheinlich, dass es jemals bis dorthin steigen wird. Wir sind nicht betroffen, davon einmal abgesehen, dass uns der staatliche Wasserversorger Uruguays OSE das Wasser abgestellt hat. Was für eine Ironie: anderswo haben sie zu viel Wasser, und wir haben gar keins mehr. Anderswo sieht das aber anders aus.

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Nach zwei Tagen schweren Gewitters und anhaltenden Dauerregens stehen einzelne Randbezirke Nueva Helvecias unter Wasser. Um die Stadt herum hat sich ein riesengroßer See gebildet, und einige Häuser sind überschwemmt. Ich bin mit meiner Gastmutter losgefahren, um mir das anzuschauen. Das ist natürlich Voyeurismus und alles, aber was ich gesehen habe, wirft in mir den Eindruck auf: es kümmert sich keiner. Wenn ich an die Bilder zurückdenke, die vor wenigen Jahren von dem „Jahrhunderthochwasser“ (da war das Jahrhundert noch keine zwei Jahrzehnte alt) zum Beispiel aus Passau über die Fernsehbildschirme der Bundesrepublik zogen – ein Gewusel, ein Geschaffe, aus Polizei, Feuerwehr, THW, Sandsäcken, Fernsehkameras und Politikern im unverhofften Wahlkampfschub davor. Hier: nichts. Stell dir vor, es ist Hochwasser und keinen kümmert’s. Mehrere Straßen sind abgeschnitten, die Departamentohauptstadt Colonia ist für uns seit gestern nicht mehr erreichbar. Und scheinbar interessiert’s niemanden. Ich habe ja schon mehrmals über die Mate-Mentalität der Uruguayos geschrieben, diese konsequente Gelassenheit, aber wenn das eigene Haus unter Wasser steht, dann wird man sich doch mal ein bisschen aufregen??! Stattdessen sind wir durch einen engen Straßenzug gefahren. Links stand das Wasser, mehrere Häuser überschwemmt, die Straße aber noch trocken. Rechts davon saßen die Bewohner mit ihrem Mate vor den Haustüren, als wenn nichts wäre, dabei hieß es doch, dass es noch bis Dienstag so weiterregnen soll. Ihre Häuser sind die ersten, die dann betroffen wären. Könnte man da nicht vielleicht ein paar Sandsäcke aufstellen, Mauern bauen, irgendetwas tun?

Vielleicht stimmt das alles gar nicht. Das ist alles nur der subjektive, kurze, beschränkte Eindruck eines Außenstehenden. Ich bin ja nur kurz im Auto durch die betroffenen Stadtteile gefahren. Ich habe nicht gehört, was die Leute miteinander bereden und auch nicht mit ihnen gesprochen. Mit meiner Gastmutter schon. Wer zahlt denn den Schaden?, frage ich. Wer kümmert sich darum? Haben die Leute eine Versicherung? Höchstwahrscheinlich nein, meint sie. Und der Staat wird ihnen auch nicht helfen, denn auf den Staat ist hier kein Verlass. Hay que hacer algo, hay que hacer algo, man muss etwas tun, man muss etwas tun, sage ich die ganze Zeit zu meiner Gastmutter, doch sie schüttelt nur den Kopf. Sie versteht mich absolut nicht. Was soll man denn schon groß tun? Die Leute werden abwarten, bis das Wasser wieder sinkt. Und dann ihre Häuser wieder aufbauen. Wie und mit welchem Geld, das weiß sie nicht, und das ist ihr auch egal.

Stell dir vor, es ist Hochwasser und keinen kümmert’s.

1 Kommentar

  1. Carmen · 21. April 2016

    Hey Jan,du hast einfach ein „Händchen“ fürs schreiben,klasse …ich bin schwer beeindruckt.Gruss Carmen

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