Around the world – Mein Jahr in Namibia

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I now give the floor to…

Fünf Tage Immatrielles Kulturerbe und UNESCO in Windhoek

40 Stunden in der Woche verbringe ich in meinem Büro im Ministry. Zugegeben, in der Mittagspause traue ich mich gelegentlich heraus… also, ich verbringe mehr oder weniger 40 Stunden in der Woche im Büro. Da ist es sehr schön auch mal rauszukommen.

Die Veranstaltung, die mich aus dem Bürostuhl  gerissen hat, hat einen – zugegeben – sperrigen Namen: Vom 30. November bis zum 4. Dezember 2015 fand hier in Windhoek die „10th Session of the Intergovernmental Committee for the Safeguarding of Intangible Cultural Heritage“ statt. 

Goodie Bag

Goodie Bag

(Soso. Aha.) Intangible?

Einige bis viele von euch kennen bestimmt das Weltkulturerbe der UNESCO. Wenn ihr schon mal in der Zeche Zollverein wart, vor dem Aachener Dom standet oder über die Museumsinsel in Berlin flaniert seid, wart ihr wenigstens schon einmal in eurem Leben in direktem Kontakt mit Weltkulturerbe. Doch nicht nur Bauwerke können Weltkulturerbestätten werden, auch einzigartige Naturdenkmäler oder andere Kulturstätten koennen von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen werden. In Namibia gibt es zwei Weltkulturerbestätten, die Namib-Wüste und die Felszeichnungen von Twywelfontein.

Einige bis viele von euch waren sicherlich auch schon einmal Schützenfest feiern. Dabei habt ihr vielleicht nicht über Kulturerbe nachgedacht, aber tatsächlich seid ihr mit einem in Beruehrung gekommen.

Seit 2007 fuehrt die UNESCO drei weitere Listen, die Liste des dringend erhaltungsbeduerftigen immatriellen (= intangible) Kulturerbes und die Liste des repräsentativen immatriellen Kulturerbes (scheinbar liebt die UNESCO sperrige Titel). In einer dritten Liste führt sie noch gute Praxisbeispiele vom Erhalt des immatriellen Kulturerbes.

So weit so gut, aber was hat ein Schuetzenfest, bei dem mittelalte, weisse Maenner auf einen Styropor-Vogel schiessen mit Weltkulturerbe zu tun (tut mir leid, liebe Schuetzenfest-Liebhaber – ich bin einfach kein Fan).

(Achtung, kurzer Theorie-Input! Seid stark, danach seid ihr schlauer)

Im Gegensatz zum materiellen Kulturerbe, handelt es sich beim immatriellen Kulturerbe um Traditionen, Tänze, Bräuche, Wissen und Handwerkstechniken. Um diese kulturellen Ausdrucksformen zu schützen, aber auch Bewusstsein für ihre Bedeutung zu schaffen (sie bringen Menschen zusammen, manchmal grenzenüberschreitend), hat die UNESCO 2003 das Übereinkommen zur Erhaltung des immatriellen Kulturerbe verabschiedet. Mittlerweile stehen auf den drei Listen 391 Einträge aus aller Welt. Um ländereigene Traditionen auf die Listen einschreiben zu lassen, müssen die Vertragsstaaten jeweils eine eigene Liste mit nationalem immatriellen Kulturerbe führen. In Deutschland übernimmt die Deutsche UNESCO Kommission (DUK) diese Aufgabe.

Bei einer Tradition handelt es sich um immatrielles Kulturerbe, wenn sie fünf Kriterien erfüllt (diese Kriterien gelten für die Repräsentative Liste):

  1. Wenn sie tatsächlich ein Brauch oder eine Tradition ist (klingt profan, ist aber Voraussetzung)
  2. Wenn sie dazu beiträgt immatrielles Kulturerbe generell sichtbarer zu machen und sie einen Dialog über menschliche Kreativität eröffnet
  3. Die Antragssteller müssen einen Plan erstellen, wie genau sie ihr immatrielles Kulturerbe schützen wollen
  4. Ohne Zustimmung der Gruppe, deren Tradition es ist, kann kein Element auf die Liste gesetzt werden
  5. Das Element wurde zuvor auf die ländereigene Liste kultureller Ausdrucksformen gesetzt

(Theorie-Input Ende! Ab jetzt wird wieder über Schützenfest geredet)

Und was hat das jetzt mit Schuetzenfest zu tun? Aaaalso, offensichtlich ist es eine deutsche Tradition und ja, seit letztem Jahr steht das deutsche Schuetzenwesen im bundesweitem Verzeichnis des immatriellen Kulturerbes. Leider (?)  ist es aber noch kein internationales immatrielles Kulturerbe.

Falls sich beim nächsten Mal jemand beschwert, wenn ihr euch auf den Weg zum Schützenfest im Ort macht, weist den/die Nörglerin also einfach mal auf den ungemein hohen kulturellen Wert des deutschen Schützenfest hin. Ich hoffe, dass ich helfen konnte!

Ach, uebrigens, Spanien, Italien, Frankreich und China haben  die meisten Kulturerbestaetten, aber wisst ihr wer mit aktuell 36 ungefaehr Platz fuenf belegt? Deutschland! Beim immatriellen Kulturerbe ist Deutschland aber bislang leer ausgegangen. Vielleicht aendert sich das dieses Jahr in Addis Abeba in Aethiopien, denn die DUK hat einen Antrag eingereicht. Und wieder muss ich die Schuetzenfest-Fans enttaeuschen, denn es wird nicht ueber diese deutsche Tradition entschieden, sondern darueber, ob die deutsche Genossenschaftsidee kulturerbefaehig ist.

Weniger graue Theorie – Mehr zu den fünf Tagen!

Meine Zeit bei der Tagung begann schon mit einem interkulturellem Missverständnis.

Geplant war, dass ich im Orga-Team mithelfe. Bis Donnerstag vor der ICH-Tagung hörte ich nichts von unserer Koordinatorin, die uns für unsere Arbeitsbereiche einteilte. Das lag vor allem daran, dass ich mein Zwischenseminar hatte und nicht am Vorbereitungstreffen teilnehmen konnte. Donnerstag beschloss ich dann sie mal anzuschreiben, um zu fragen, wann ich wo sein musste. Ich bekam per Mail einen Einsatzplan zugesendet, der aussagte, dass ich bei der Registrierung der Delegierten helfen sollte – leider fehlten die Zeiten. Zugegeben, ich habe dann auch nicht mehr weiter nachgefragt, aber bis Sonntagabend hoerte ich nichts mehr von ihr. Weil ich aber Montag nicht voellig ohne Plan dastehen wollte, rief ich meine Koordinatorin an.

Ich: „Hey Freda, how are you? I just want to ask when I have to be at the ICH tomorrow?“

Freda: „No, ICH already started! We are all here, Ferdinand is here, too. Look, we are a bit stressed right now. Just come now!“

Just come now? Ich bin echt wuetend geworden, keiner hatte mir irgendetwas gesagt, gesendet oder auf anderem Weg mitgeteilt und jetzt war SIE auch noch wuetend auf mich, weil ich nichts davon wusste, dass die Tagung schon laengst angefangen hatte??? Und will noch zusaetzlich, das ich jetzt noch vorbeikomme??? (Ich hatte schon meine bequeme Hose an und wenn ich die anhabe, gehe ich nirgendwo mehr hin).

Ich also: „Sorry Freda, I have visitors over (das war nicht mal eine Luege), I can not come in today. But I will be there tomorrow, when do I have to start?“

Freda: „No problem! Just come over whenever you have time.“

Und in dem Moment wurde mir klar, dass „just come now“ nicht bedeutet, dass ich sofort kommen soll, sondern einfach als „Komm doch einfach jetzt“ uebersetzt werden kann. Ich war so sehr in meinem deutschen Ding gefangen –  „Mein Chef_in sagt mir, wann ich da sein muss, er/sie hat den Plan, deshalb sagt er/sie auch wo ich eingesetzt werde“, dass ich ueberhaupt nicht auf die Idee gekommen bin, dass es hier anders sein koennte. Dabei hat sich Freda nur ueber jede Art von Hilfe gefreut.

Erstmal habe ich ein bisschen ueber mich gelacht. Dann habe ich gedacht: Ok, so ganz wirst du die Deutsche in deinem Kopf wohl nicht ausstellen koennen. Und dann hat Merle den Apfelkuchen aus dem Backofen geholt, wir haben laut Weihnachtsmusik gehoert und uns ueber Hagel gefreut (Eis ist ja fast Schnee), dass ich den ganzen Aerger fuer  den restlichen Abend vergessen konnte (alles sehr deutsch – ich weiß).

Tag 1 – Erstmal ankommen

Tag 1, acht Uhr morgens, ich stehe vor dem Country Club Hotel (ein Hotel, das mit goldenen Oryx-Figuren dekoriert ist und in dem jeder Tagungsraum Oryx heisst. Habe mich ein bisschen postkolonial gefuehlt, wie in diesen Filmen, die in „Afrika“ spielen und wo die Leute immer mit Safari-Hueten rumlaufen und Robert Redford anschmachten). Alles ganz schoen ete petete dort.

Ich sollte ja eigentlich bei der Registrierung helfen. Spontan war dafür aber ein professionelles Unternehmen eingestellt worden. So bekamen meine Kollegen Delegiertengrüppchen zugewiesen, die sie morgens aus dem Hotel abholten und abends wieder hinbrachten und den Tag über mit Rat und Tat beiseite stehen mussten. Ich nicht, denn als unsere Koordinatorin meine Kollegen einarbeitete, hatte ich ja mein Zwischenseminar. Also stand ich dort morgens um acht, traf meine Koordinatorin, die mich geschickt an Annakie weiterleitete (fuer die Muensterlaender unter den Lesern: Annakie ist die afrikaanse Entsprechung von Aenneken) und Annakie wiederum leitete mich geschickt an Helvi und Nampa weiter. Gottseidank, denn mit diesen beiden verbrachte ich die restlichen Tage in Oryx 8.

Aber so richtig viel gab es nicht fuer mich zu tun. Also konnte ich etwas viel besseres tun als arbeiten: Zuschauen! Wann hat man schon mal die Gelegenheit bei einer UNESCO Versammlung dabeizusein? Damit ich aber wenigstens eine kleine Daseinsberichtigung hatte, beschloss ich einfach Fotos zu machen und auf unserer Facebookseite (NatCom Facebookseite) ueber Neuigkeiten zu schreiben.

Und fuer alle die mal sehen wollen, wie so eine UNESCO/Vereinte Nationen Sitzung aussieht, gibts hier Fotos!

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Tag 2: Von Schafen, die Kuhglocken trugen and postnatal depressiven Kamelmuettern

Am zweiten Tag wurde es spannend. Es galt das dringend schuetzensbeduerftige immatrielle Kulturerbe zu retten. Auf dem Tagesplan standen unter anderem die folgenden Traditionen:

  • Ein mongolisches Ritual, dass von Hirten zur Beruhigung von Kamelmüttern eingesetzt wird, die ihr Kalb abgestoßen haben (mein Favorit!)
  • Eine portugiesische Herstellungsweise von Kuhglocken (Die Kuhglocke wird hier von einem Schaf getragen)
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Portugiesische Kuhglocke

  • Die ugandische Koogere Tradition, bei der Erzähler die Geschichten der Königin Koogere erzählen, die vor wahrscheinlich 1500 Jahre gelebt hat; diese orale Tradition handelt davon, dass Koogere eine gute Königin war

Also wie läuft die Wahl ab? Ihr erinnert euch an die fünf Kriterien, die ich weiter oben vorgestellt habe? Sehr gut.

Der erste Schritt besteht immer in einem kleinen Vortrag der Staaten, die ihre Tradition eingereicht haben. Meistens zeigen sie Bilder dazu, wie oben bei der portugiesischen Kuhglocke. Dann, mit einem „I now give the floor to the Evaluation Body“ übergab unsere Madam Chair an den Evaluation Body. Der wiederum hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits am ausgiebigsten mit dem Element beschäftigt: Der Evaluation Body ist nämlich dafür zuständig ein Gutachten zu erstellen, ob es sich bei dem vorgestellten Element um Kulturerbe handelt. Das tut er anhand unserer fünf Kriterien, am Ende seines Vortrags gibt er schließlich noch eine Empfehlung ab. Aufnehmen oder Pech gehabt.

Und dann wird’s demoCrazy. Denn als nächstes darf der zwischenstaatliche Ausschuss abstimmen.

(Achtung, kleiner Theorie-Input – wer weiß, damit könntet ihr vielleicht irgendwann einmal die Eine-Million-Euro-Frage bei Wer wird Millionär knacken)

Der Zwischenstaatliche Ausschuss besteht aus 24 Mitgliedern. Teil des Ausschusses kann nur werden, wer Mitglied der UNESCO ist und das Übereinkommen zum Schutz des immatriellen Kulturerbe ratifiziert hat (aktuell 163 Staaten). Er wird von der UNESCO Generalversammlung gewaehlt.

Jedes Mitglied hat jetzt das Recht, das Gutachten des Evaluation Bodys zu diskutieren und Hinzufuegungen vorzunehmen. Dabei geht der Ausschuss Paragraph fuer Paragraph vor, bzw. Punkt von unserer Checkliste fuer Punkt von unserer Checkliste. Wenn es zu einem Paragraphen keine Anmerkungen oder Aenderungswuensche mehr gibt, stimmt der Ausschuss ab, ob der veraenderte Paragraph so angenommen wird. Am Ende wird dann abgestimmt, ob es sich um Kulturerbe handelt oder nicht.

(Theorie-Input Ende)

Im Falle des Beruhigungsrituals fuer Kamele oder der Kuhglockenanfertigung ging alles ganz schnell; das aenderte sich an Tag 3. Denn an Tag 3 wurde ueber die Eintraege in die repraesentative Liste abgestimmt. Teilweise diskutierte der Ausschuss eine halbe Stunde ueber einen einzigen Paragraphen des Gutachtens. Und am Ende wurde das Element doch abgelehnt. Kein Witz, wir waren ganz schoen hinter dem eigentlichen Zeitplan. An Tag 3 habe ich  gelernt, dass Demokratie das fairste politische System ist – aber sicherlich nicht das schnellste oder effektivste.

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Blick in die Runde

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Fleissig am arbeiten

Tag 3: Oshituthi shomagongo und arabische Kaffeekultur

An Tag 3 musste der Ausschuss ueber 35 Antraege entscheiden. 35 mal Gutachten anhoeren, 35 mal 5 Paragraphen durchdiskutieren, 35 mal war Oryx 8 mit Freude oder Enttaeuschung gefuellt. Anfangs war das noch aufregend, aber spätestens zur Mittagspause ließ die Spannung dann merklich nach, zu oft passierte das gleiche und zu oft stellte Lettland Nachfragen. Und doch gabs ein paar programmliche Highlights. Neueingeschrieben wurde auf die repräsentative Liste:

  • Die arabische Kaffeekultur (Gemeinschaftsantrag Katar, Oman, Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate)
  • Die Zubereitung von Kimchi (Korea)
  • die slowenische Dudelsackkultur
  • Tauziehrituale und -spiele (Kambodscha, Philippinen, Republik Korea, Vietnam)

Und natuerlich: Oshituthi shomagongo, eine Tradition aus dem Norden Namibias. Und somit das erste immatrielle Kulturerbe Namibias.

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Ich kann sagen, dass die Stimmung sehr ausgelassen war: Vorne im Bild sieht man die halbe namibische Delegation (Namibia ist Mitglied des zwischenstaatlichen Ausschusses) und im Hintergrund feiernde Namibier.

Oshituthi shomagongo ist ein Ritual, bei dem Marula-Fruechte zu Omagongo, einem Getränk, gepresst und fermentiert werden. Während des Festes kommen Gemeindemitglieder zusammen und diskutieren Familienprobleme, tragen Gedichte vor und singen gemeinsam traditionelle Lieder. An diesem Beispiel erkennt ihr auch gut, was besonders wichtig für die Entscheidung ist, ob ein Element kulturerbefähig ist oder nicht: Das Gemeinschaftsgefühl muss durch es gestärkt werden.

Jedes Jahr werden eine Fülle an Anträgen gestellt, so viele, dass sie nicht alle bearbeitet werden können. Und da kommen wir wieder zum Gemeinschaftsgefühl: Anträge, die von mehreren Staaten gemeinsam gestellt werden, wird Vorrang gegeben.

Zum Schluss

So, genug unnützes Wissen! Ihr ward tapfer. Die restliche Woche verging wie im Fluge, viel berichtenswertes ist aber nicht mehr passiert.

Ich bin so froh, dass ich an der 10.com (so lautet der offizielle kurze Name) teilnehmen durfte. Ich hoffe sehr, dass ich auch euch einen kleinen Einblick geben konnte, dass ihr jetzt vielleicht mehr versteht, wie eine Tradition, eine Naturstätte oder ein Bauwerk UNESCO Kulturerbe wird. Ich selber habe auch nicht immer verstanden, was gerade passiert. 😉 Aber ich hatte Hilfe und ich hoffe, dass ich euch ebenso eine Hilfe mit diesem Beitrag war. Und natürlich, dass ihr ganz viel Spaß beim Lesen hattet!

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