Als wir am 9. September aus dem Flieger steigen hat noch niemand von uns das Gefühl, angekommen zu sein. Verschlafen, latent überfordert, eingeschüchtert von den Wechselkursen und auf der Suche nach einem verlorengegangenen Koffer stehen fünf der neun Uruguayfreiwilligen hinter der Einreisekontrolle und erleben innerhalb von Sekunden eine Achterbahnfahrt der Gefühle: Freude (Wir sind in Montevideo!!!), Überforderung (Ich verstehe kein Wort), Verwirrung (Wie spät ist es in Deutschland?), Nervosität (Wir sind in Montevideo, Klappe die zweite) und Aufregung (Jetzt geht es wirklich los!)
Toni, eine Mitfreiwillige, wird schon am Bahnhof von ihren Ansprechpersonen abgeholt, der Rest von uns wird zum Youki Haus, unserem Hostel für die nächsten zwei Wochen gebracht. Dort angekommen die Überraschung: Micheal, der die Unterkunft zusammen mit seinem Freund Vincent leitet, spricht Deutsch! Und er hat einige Tipps für uns: Events, Bars, Parks und Museen.
Die ersten Tage hat dafür allerdings niemand den Nerv, stattdessen wurden Handyvertrage organisiert, Währungen umgetauscht, Mieten versucht zu zahlen, es wird umgezogen und gefroren – denn niemand von uns war mental richtig darauf eingestellt gewesen, dass in Uruguay Frühlingsanfang ist, wenn wir ankommen.
Der fällt zwar deutlich milder aus, als in Deutschland, doch gerade an der Rambla – der Strandpromonade – kann es sehr windig sein.
Nach einer kurzen Zeit der Eingewöhnung geht es richtig los: Neben gemeinsamem Kochen und Arbeiten erkunden wir in Kleingruppen die Stadt aus allen erdenklichen Winkeln. Schon nach fünf Tagen beginnen einige von uns, das Hostel und auch Montevideo „Zuhause“ zu nennen, und diesen „Zuhause“ hat es in sich: Trotz gerade einmal knapp 1,4 Millionen Einwohner (was gerade den Berliner*innen unter uns wenig vorkommt), findet man alles, oder fast alles, was das Herz begehrt – wenn man bereit ist, ordentlich Geld auszugeben, denn gerade die Lebensmittelpreise sind hoch in dieser Stadt.
Schnell haben wir auch gelernt, uns in der Stadt zurechtzufinden. Wer nach Uruguay geht, der sollte wissen, dass man die Busse an den Haltestellen heranwinken muss, sonst bleiben sie nicht stehen.
Auch der Gedanke, es werde immer wärmer, je mehr man in den Süden fliegt, ist natürlich ein Trugschluss, wenn man aus dem deutschen Spätsommer kommt und zum Frühlingsanfang in Südamerika landet.
Unterschätzt habe ich die Anzahl der Matebecher und Thermosflaschen, überschätzt die Verbreitung von Englisch auch unter den Jugendlichen.
Doch nach der – tatsächlichen und metaphorischen – Akklimatisierung ging es für uns dann quer durch die Stadt.
Ein paar Etappen unserer Erkundungstrips waren:
Die Rambla – Eine wunderschöne Uferpromenade, an der die Bewohner*innen laufen gehen, Mate trinken, Rollschuhfahren (sehr prominent hier) und Angeln gehen
- Der Strand – Eignet sich perfekt zum Musikhören, Eisessen und Menschenbeobachten, bei besserem Wetter bestimmt auch zum Schwimmen
- Das Hostel selbst – Denn dort kamen Leute aus verschiedenen Teilen Lateinamerikas zusammen und haben uns erste Einblicke in die Kultur gegeben: Von einer Ehrenamtlerin habe ich wunderbare uruguayo Musikempfehlungen bekommen (mein Favorit bisher ist La Vela Puerca, eine Rockband aus Montevideo selbst), mit ihr und ihrer Freundin haben wir über Kunst und Politik diskutiert (der bisherige Hochpunkt meiner Spanischkenntnisse), von drei kolumbianischen Gästen haben wir versucht, tanzen zu lernen, ein weiterer Ehrenamtler hat uns zu seinem Geburtstag eingeladen und insgesamt wurden uns immer neue Tips gegeben.
- Die Ferrias – Der einzige Ort, wo man günstiges Essen bekommt, zumindest, wenn man ein bisschen mit den Händler*innen spricht.
- Der Plaza de Artigas – In Uruguay dreht sich alles um den ehemaligen General und Politiker, der in zum Nationalhelden erklärt wurde und als „Vater der Unabhängigkeit Uruguays“ gilt. Gleich an unserem ersten Tag in der Altstadt haben wir eine Militärparade ihm zu Ehren beobachten können.
- Die Straßenmärkte in der Altstadt – Zu touristisch, um etwas zu kaufen, aber auch zu hübsch, um einfach dran vorbeizugehen.
- Die Bar Bremen – Wir waren zwar nicht drin, aber es war doch fast etwas lustig, auf einmal das Bremer Wappen und die vier Stadtmusikanten in einer Hauptstadt Südamerikas zu finden.
- Alle Wände der Stadt – Denn Montevideo ein lebendes Kunstwerk. Nicht nur Graffiti, sondern auch alle anderen Formen von Malereien schmücken vor allem aber nicht nur die Wände der Altstadt. Man könnte – und das haben wir auch zur Genüge getan – alle fünf Schritte stehenbleiben, um ein neues Foto zu machen, einen neuen Text zu lesen und etwas Neues zu lernen.
- Plaza Zabala und alle anderen Parks – Sind immer gut besucht und haben seltsamerweise auch immer genau eine freie Bank, wo man sich mit seinem Stück Karottenkuchen (günstigster Snack) hinsetzen kann.
- Das Museum Torres García – Der Künstler aus Montevideo ist vor Allem für das Werk „America Invertida“ bekannt, aber auch seine anderen Schaffensphasen werden eindrucksvoll dargestellt. Am besten hat uns aber die Töpferwerkstatt oben unterm Dach gefallen – ich weiß immer noch nicht, ob wir da wirklich hochdurften, denn der Eingang war etwas versteckt und definitiv kein Teil der Führung, aber die Menschen dort waren sehr nett und haben uns sogar Kurse angeboten
– leider wird sich das nur für die Freiwilligen, die länger in Montevideo bleiben, anbieten.
- Die Jazzbar „El Mingus“ – Leider konnte ich niemandem Doppelkopf beibringen, dafür haben wir bei den besten Tapas der Welt Lügen gespielt und Livemusik zugehört.
- Das Dach unseres Hostels – Dort wurden Geburtstage gefeiert, ein unglaublich leckerer Schokokuchen probiert und Festivaltrips geplant (Fontaines DC spielt im März in Buenos Aires! Leider schon zu spät für uns…)
- Die Clubs in unserem Barrio – „Barrio“ heißt so viel wie „Viertel“ oder „Kiez“ und unseres konnte sich echt sehen lassen. Von Reggaeton in einem queeren Club, Techno (mit Vinyl aufgelegt) und einer – leider sehr überfüllten – Feier für internationale Student*innen haben wir einen ersten Blick in die uruguayo Partyszene werfen können.
- Die Buchhandlungen und Büchercafés – Ich habe mein erstes rioplatensisch-spanisches Buch gekauft, das ich auch bald anfangen werde, zu lesen, wobei sich das sicherlich als längerer Prozess entpuppen wird.
- El Museo de la Memoria – Ein historisches Museum über die Diktatur in Uruguay, mit anspruchsvollen, aber auch sehr interessanten Texten.
- Der Plaza de la Diversidad Sexual – Urugay ist ein weltweiter Vorreiter, wenn es um die Rechte queerer Personen geht. So stehen „same sex sexual activities with an equal age of consent” seit 1934 nicht mehr unter Strafe (wie es zu der Zeit mit Rechten für Homosexuelle in Deutschland aussah, muss ich wohl nicht erzählen) unter Strafe und der Plaza de la Diversidad ehrt und erinnert an die Personen, die sich für weitere Änderungen und Durchbrüche eingesetzt haben.
Ab der zweiten Woche war der Urlaub dann vorbei und wir sind alle dort gelandet, wo wir unbedingt nie wieder hinwollten: In der Schule. Sechs (mit Pausen sieben) Stunden saßen wir in der Academia Uruguay, um Spanisch zu pauken und unsere Sprachbarriere für die kommende Zeit zumindest ein wenig zu minimieren. Wie erfolgreich das war wird sich noch herausstellen, dafür konnten wir einiges über die Kultur unseres Gastlandes mitnehmen:
Die Tänze (v.A. Tango, Candombe und Milonga), die Bedeutung von Mate (kriegt vielleicht sogar einen eigenen kurzen Eintrag), wie man Tortas Fritas macht (und isst), welche Musik man sich anhören sollte (La Vela Puerca ist das, worauf sich alle einigen können) und welche Filme zu schauen sind (einige habe ich auf meine Watchlist gesetzt – die ist aber leider sowieso schon viel zu lang).
Krönender Abschluss war dann der Geburtstag meiner Mitfreiwilligen Amira, in den ganz entspannt bei Pizza und einer Kleinigkeit zutrinken gefeiert wurde, denn am Morgen hieß es dann: Koffer packen, zur Station und dann ab in den Reisebus, um nach Fray Bentos zu fahren. Dort werden wir die nächsten Monate leben und arbeiten.
Trotz einiger Stresssituationen (eingezogener Karten, Sprachbarrieren, etc.) schaue ich auf zwei wunderschöne Wochen zurück, in denen das Land, die Stadt Montevideo, meine Mitfreiwilligen und viele andere mir wirklich ans Herz gewachsen sind.
Vielen Dank für diese wunderschöne Zeit mir euch, wir sehen uns bald wieder!
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