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Kunst, Kultur und Capoeira (Eine Woche Vorbereitungsseminar in 789 Wörtern)

Am 1.9.2024 hieß es für 261 „kulturweit“-Freiwillige: Auf nach Brandenburg an den Werbellinsee.

Mit insgesamt sechs Taschen, sehr ungeordneten Gedanken und einem mehr oder weniger korrekten Zugticket haben Julius und ich uns morgens in Düsseldorf von unseren Familien verabschiedet und uns in den ICE nach Berlin gesetzt. Durch die obligatorischen zwei Stunden Verspätung wurden wir zwar nicht von den Shuttlebussen abgeholt, das Problem hatten aber noch genug andere Freiwillige, sodass wir immerhin erste Kontakte knüpfen konnten.

Auf dem Seminargelände angekommen wurden wir nach Ländern in „Homezones“ eingeteilt: Wir Uruguay-Freiwilligen waren in einer Gruppe zusammen mit denen, die nach Brasilien gehen. Dort habe ich auch das erste Mal meine zukünftige Mitbewohnerin Amira in Person kennengelernt und mich über unsere Einsatzstelle ausgetauscht.

Die ersten Tage waren vor allem geprägt von gruppenbildenden Maßnahmen (erstaunlich viele Spiele, die ich auch schon mit den Fünftklässler*innen meiner Patenklasse gespielt habe), Kennenlernrunden und der Vorstellung von Erwartungen und Ängsten (von beiden gab es genug).

Auch inhaltlich wurde natürlich viel gearbeitet: Zu Wahrnehmung, Kultur und Vorurteilen, zu Verhalten im Notfall, zu Versicherung und Sicherheit, zur UNESCO und zu den Nationalkommissionen, zu globalen Machtzusammenhängen, zum fairen Berichten und differenzierten Perspektiven.

Des Weiteren wurden Reflexionsräume angeboten, speziell zur Betrachtung der eigenen Position im Freiwilligendienst.

Highlight für soziale Beziehungen waren natürlich die Workshops: Nicht nur Beachvolleyball, Korbflechten und Diskussionsräume, sondern vor allem auch „Theater der Unterdrückten“ und ein Kurs über Capoeira, einen brasilianischen Kampftanz, stießen auf großen Anklang. Dabei handelt es sich um eine afro-brasilianische Kunstform, die Kunst, Musik, Akrobatik, Geschichte, Training, Kampf und Gemeinschaft verbindet und mit traditioneller Trommelmusik begleitet wird. Seit 2014 gehört Capoeira zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO, wie inzwischen übrigens auch die Berliner Techno-Szene oder Reggae in Jamaika.
Vorgestellt wurde der Kurs von Jerô, unserem Homezone-Teamer, der eine Capoeira-Schule in Dresden besucht.

Lustigerweise habe ich zwei Leute getroffen, die ich vorher schon kannte: Ein Mädchen aus meiner Stadt und einen Jungen, den ich vor zwei Jahren in einem Volleyballcamp getroffen hatte.

In unterschiedlichen Gruppen haben wir Doppelkopf, Tischtennis und Beachvolleyball gespielt, Karaoke gesungen, sind im See schwimmen oder einfach zusammen spazieren gegangen und haben über all das geredet, was uns bevorsteht: sechs, bzw. zwölf Monate im in- oder außereuropäischen Ausland, eine eigene Wohnung, eine 40h-Woche, Sprachbarrieren, vielleicht etwas Heimweh und viele neue Erfahrungen, von denen alle spannend, aber nicht alle einfach sein werden.

Wie sich das für eine Gruppe Jugendlicher in der letzten Woche in der Nähe von Zuhause gehört wurde natürlich auch gefeiert, getanzt, gelacht, gesungen und – man munkelt – auch ein bisschen getrunken, Kontaktdaten ausgetauscht, von den Heimatstädten berichtet, zusammen musiziert und endlich realisiert, dass es für uns jetzt wirklich losgeht, dass unser Freiwilligendienst kein Hirngespinst oder Geschehnisse in ferner Zukunft ist, sondern dass er in einigen Tagen beginnt.

Vor allem, als es dann am Samstag hieß, Abschied zu nehmen und sich entweder für sechs Monate, zwölf oder potentiell auch länger nicht mehr zu sehen, wurden alle, mit denen mal zu tun gehabt hatte (um alle richtig kennenzulernen waren wir deutlich zu viele, aber zumindest von den anderen Südamerikafreiwilligen müsste ich inzwischen alle Namen und Einsatzorte kennen) einmal fest umarmt und dann „in die Freiheit entlassen“, wie man so schön sagt.

Am letzten Abend vorm Flug ging es dann für meine Mitreisenden und mich noch einmal durch Berlin und danach ins Bett, um am nächsten Tag nach Frankfurt zu fahren. Von dort aus ging der Flieger über São Paulo nach Montevideo. Über den Flug würde ich gerne mehr berichten, aber einerseits war es extrem nebelig, sodass man nicht viel gesehen hat, und zum anderen habe ich die meiste Zeit auch durchgeschlafen, weshalb ich das meiste ohnehin nicht mitbekommen hätte.

Gerade, während ich diesen Text schreibe, sitze ich in Montevideo und gehe durch die Fotos der Seminarzeit und reflektiere diese eine Woche, die es für mich schon als solche Wert war, den Freiwilligendienst zu starten.

Ich hoffe, dass alle anderen genauso gut angekommen sind, wie wir in Montevideo (worüber in naher oder ferner Zukunft auch noch berichtet werden wird) und freue mich jedes Mal, wenn ich Bilder aus Argentinien, Kroatien, Namibia oder anderen Teilen der Welt sehe, die gerade von neuen Freund*innen und diversen Bekanntschaften bereist werden.

Wir haben schon jetzt unser eigenes kleines Netzwerk und mit den anderen Freiwilligen, die in Südamerika (v. A. Argentinien, Uruguay, Paraguay, Brasilien, Bolivien, Peru und Kolumbien) eine eigene Gruppe, um Urlaube und eine gemeinsame Weihnachtsfeier zu planen.

Wie gut wir inhaltlich auf unser FSJ vorbereitet sind, das kann und will ich noch nicht sagen, aber emotional behaupte ich jetzt einfach mal, bereit zu sein – und wenn nicht, dann kann man daran auch nichts mehr ändern und das wird auch funktionieren, ich bin da an sich recht optimistisch. Vamos arriba und so, es ist alles gut und es geht aufwärts.

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Auf geht’s, weiter geht’s (oder: Momente, einen Blog zu beginnen)

Samstag 31.08.2024, 11:11 Uhr und die Uhrzeit ist Programm: In meinem Zimmer sieht es aus, als wäre gerade der Karneval verkündet worden. Morgen geht es los zum Vorbereitungsseminar und mein Koffer ist noch nicht gepackt, zwischen Bett und Schreibtisch stapeln sich Notizen, Klamotten und eine Auswahl von Büchern, die es am Ende nur in Auszügen mit nach Berlin schaffen wird.

Ich sitze auf dem Boden und starre auf den Berg an Gepäck, von dem ich mir noch nicht vorstellen kann, dass er irgendwie in meine Taschen passen wird.

Hätte ich mehr Zeit (und besser geplant) wäre das vermutlich ein guter Moment, meinen Blog anzufangen.

 

Samstag 31.08.2024, 17:23 Uhr und inzwischen ist der Koffer zwar zu, wird aber alle paar Minuten aufgemacht, um noch etwas nachzustopfen: Wanderschuhe, Mückenspray, ein Arbeitsvertrag, der Reisepass und ein Notizblock. Kann man ja immer mal brauchen.

Ich telefoniere mit zwei Freunden, verabschiedet haben wir uns zwar schon gestern, aber wann, wenn nicht am Tag vor der Abreise, ist der Zeitpunkt für letzte letzte Gespräche und erste letzte Geständnisse.

Man könnte auch, denke ich, während ich meine Wasserflasche suche, jetzt einen Blog anfangen und verwerfe den Gedanken, als mir auffällt, dass mein Laptop schon tief in meinem Rucksack vergraben ist.

 

Samstag 31.08.2024, 22:02 Uhr und ich kriege tausend Nachrichten, dass ich mich „doch bitte mal melden“ solle. Auch das wäre ein guter Moment, um einen Blog zu beginnen, aber die letzten Stunden in meiner Heimatstadt Mönchengladbach nutze ich dann doch lieber, um noch einmal bei meinem besten Freund vorbeizuschauen, Sachen abzuholen, um die ich mich schön längst hätte kümmern sollen und – man glaubt es kaum – etwas zu schlafen.

 

Sonntag 01.09.2024, 8:41 Uhr und Julius und ich sitzen seit fast zwei Stunden im Zug. Er wird nach Montecarlo in Argentinien gehen, ich nach Fray Bentos in Uruguay. Einen meiner besten Freunde in der Nähe zu wissen ist zwar beruhigend, aber auch zu ihm werden es ungefähr 13 Stunden sein, sagt Google Maps.

Endlich hole ich den Laptop raus und beginne, zu schreiben. „¡Vamos arriba!“ nenne ich meinen Blog, „Wir gehen nach oben!“ oder „Auf geht’s nach oben!“ würde ich es übersetzen, aber ein Freund von mir, der bis vor kurzem in Bolivien war und in seiner Reisezeit auch Montevideo, die Hauptstadt Uruguays, besucht hat, hat mir erzählt, dass man das dort gerne mal sagt. „Auf geht’s“ oder „Weiter geht’s“ oder sogar „Alles gut“, so hat sein Reiseführer es wohl verwendet. Und diese Mentalität finde ich eigentlich ganz schön als Titel für meine Zeit in Uruguay: „Auf geht’s“ in eine neue Heimat für sechs Monate, „weiter geht’s“ sowieso immer und „alles gut“ wird es schon werden.

Natürlich weiß ich grob, was auf mich zukommt.

Ich weiß, dass Uruguay ca. 3.423 Millionen Einwohner*innen hat, wovon etwa ein Drittel in Montevideo lebt,

ich weiß, dass ich in einer Kulturwelterbestätte, der Industrielandschaft Fray Bentos (die Beschreibung der UNESCO zu dieser Stätte findet ihr hier: https://whc.unesco.org/en/list/1464), eingeteilt bin,

ich weiß, dass meine Mitbewohnerin Amira heißt und wir offiziell noch keine Wohnung haben,

ich weiß, dass die gängige Währung Pesos ist, man tendenziell aber auch gut mit Karte zahlen kann,

ich weiß, dass viele Veränderungen auf mich zukommen werden,

ich weiß, dass der urguayanische Wahlspruch „libertad o muerte“ („Freiheit oder Tod“) ist und ich das relativ ikonisch finde,

ich weiß, dass ich viel Mate trinken werde (die ehemaligen Freiwilligen sagen, das sei eine essentielle Voraussetzung für die Integration vor Ort),

ich weiß, dass mein mühsam in der Schule zusammengeschabtes Hochspanisch mich beim Dialekt der Uruguay@s nicht weit bringen wird,

ich weiß, dass ich sehr aufgeregt und auch ein wenig nervös bin,

ich weiß, dass man sich hätte besser vorbereiten können,

ich weiß, dass es in Uruguay immer irgendwie um Artigas geht, den Gründervater und Unabhängigkeitskämpfer,

ich weiß, dass eine vegetarische Ernährung schwierig aber machbar wird,

ich weiß, dass die Welt auch nicht untergehen wird, wenn ich ein paar Anlaufschwierigkeiten habe.

„Ich weiß, das ich nichts weiß“ soll Sokrates so oder so ähnlich gesagt haben und dem schließe ich mich an.

Ich weiß, dass ich nichts weiß, zumindest noch nicht viel von Belang, und das ist auch gut so.

Vamos arriba, es geht trotzdem weiter, es geht trotzdem aufwärts.

 

Sonntag 01.09.2024, 9:42 Uhr und ich beende meinen ersten Artikel für diesen Blog, der, fairerweise, noch wenig Inhaltliches zu bieten hat und eher eine Sammlung kleinerer Aphorismen darstellt.

Den Moment, meinen Blog zu beginnen habe ich doch noch gefunden, und einen Namen gleich mit. Pünktlich in Berlin ankommen werden Julius und ich wahrscheinlich nicht, dafür ist die Bahn ihrem Ruf zu treu geblieben und hat sich auf dem Weg zu viel Verspätung eingefahren, aber auch das werden wir überleben.

Bis zum 07.09.2024 geht dann unser Vorbereitungsseminar am Werbellinsee: Workshops, Homezones, Awarenessarbeit, aber auch Sport, mit anderen Freiwilligen Connecten und viel Karten spielen (meine persönliche Mission ist es ja, mindestens drei Mitspieler*innen für eine Runde Doppelkopf zu finden). Am 08.09.2024 darf ich dann meinen Flug antreten, von Frankfurt über São Paulo nach Montevideo, wo die anderen Uruguay-Freiwilligen und ich auch 1-2 Wochen bleiben werden, um die Hauptstadt zu erkunden, uns (metaphorisch und wortwörtlich) zu akklimatisieren und unseren obligatorischen Sprachkurs zu absolvieren. Aber dazu schreibe ich bestimmt noch etwas, wenn es soweit ist.

Dieser Artikel ist fast eher ein Teaser, eine kleine Erinnerung für mich selbst, wie es vor der Ausreise war, damit ich in sechs Monaten darauf zurückschauen kann, um mich zu wundern, was sich alles verändert hat.

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