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„No eres de Fray?“ (Die ersten Wochen in unserer Einsatzstelle)

Die Rambla am Abend beim Matetrinken

Seit etwas mehr als zwei Wochen sind Amira und ich schon in Fray Bentos, der Hauptstadt des Departemento Río Negro in Uruguay, denn hier befindet sich unsere Einsatzstelle: Das Museum der Industriellen Revolution, welches seit 2015 auch als UNESCO-Weltkulturerbestätte gilt.

Mealprep für die Arbeit: Brot mit Avocado und Tomate

Nach unserer ca. 3-stündigen Busfahrt hat der Museumdirektor uns von der Busstation abgeholt und uns kurz in unsere Wohnung übergesetzt. Dort angekommen mussten wir uns erstmal ein wenig akklimatisieren, denn sie war in deutlich schlechterem Zustand als angenommen und des Weiteren ziemlich dreckig. Unsere erste Herausforderung war es also, auf Spanisch mit der Vermieterin zu diskutieren und eine Reinigung und Reparatur des Fensters zu bekommen, was uns jedoch auch mehr oder weniger gut gelungen ist: Inzwischen regnet es nicht mehr rein, aus dem Loch in der Wand kommen keine Spinnen mehr und so sauber, wie die Wohnung jetzt ist, schaut sie eigentlich ganz ansehnlich aus.

Der Blick von unserem Dach

Außerdem ist der Weg zur Arbeit nicht weit, so dass wir jeden Dienstag bis Samstag (Sonntag und Montag haben wir – meistens – frei) morgens entspannt 25 Minuten zum Industriegelände gehen können – direkt an der Rambla entlang und mit wunderschönem Blick auf den Fluss, an dessen anderem Ufer man bereits die Lichter aus Argentinien sieht.

Insgesamt ist die Stadt mit seinen ca. 25.000 Einwohner*innen zwar recht klein, aber auch wirklich hübsch mit einigen schönen Parkstücken, Uferpromenaden, zwei Häfen und interessanten Gebäuden. Außerdem ist so alles in Gehweite: Der Supermarkt (in dem es Avocado für 13ct, aber auch Hummus für 8€ gibt), das Ufer, das Fitnessstudio und auch die Sporthalle, denn ich habe es tatsächlich – entgegen vorheriger Erwartungen – geschafft, eine Volleyballgruppe zu finden. Leider wird zwar nur einmal

Meine neue Volleyballmannschaft

die Woche trainiert, doch dafür erinnert sie mich sehr an mein Hobby-/Mixed-Training von Zuhause – abgesehen natürlich von der Tatsache, dass ich kaum ein Wort verstehe. Denn während mein Spanisch zwar reicht, um mich auf der Arbeit und in direkten Gesprächen zurechtzufinden, ist es doch etwas vollkommen anderes, wenn in einer Halle mit 30 Menschen alle durcheinander schreien und sich übereinander lustig machen – spaßhaft zwar, aber mit einem Vokabular, das man nicht unbedingt in der Schule lernt.

Amira auf dem Weg von unserem Wohnungsdach

Abgesehen davon sind unsere sozialen Kontakte sehr von unseren Arbeitskollegen geprägt (vor allem von Nicolas, der uns auch manchmal so Events mitnimmt oder hinfährt), außerdem von den Grundschulkindern, die wir auf einer Führung kennengelernt haben und die uns jetzt immer hinterherrennen, wenn wir sie wieder sehen, und einer Gruppe von Studierenden der UTEC – der technischen Universität, die uns mehr oder minder in ihren Kreis mitaufgenommen haben.

Auf der Arbeit selbst haben wir zwar hin und wieder Leerlauf, meistens findet sich aber gut etwas zu tun – wenn nicht für Führungen und Recherchen selbst, dann für eine der anderen Aktivitäten, die hier stattfinden, denn das Museumsgelände fungiert auch als Veranstaltungsgelände für Tanzkreise, Schachturniere oder andere Events s, außerdem befinden sich hier auch ein Boxring, ein Labor und ein Hafen.

Unser Mitarbeiter Nico auf dem Dach der Kühlkammern

Besucher*innen der regulären Führung des Museums sind neben Schulklassen, die man immer gut an ihren weißen Kitteln und teilweise den marineblauen Schleifen erkennt, auch einige Europäer*innen, vor allem aus der Schweiz, aber auch aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden oder sonst woher. Für sie wird die Tour auch auf Englisch angeboten – eine Aufgabe, die Amira und ich vielleicht auch bald übernehmen werden.

Ein Highlight war auch der Día del Patrimonio (Tag des Denkmals), der dieses Wochenende stattgefunden hat, und im Museum mit einem Weintasting gefeiert wurde. Klingt erstmal unpassend, tatsächlich hat der Wein in Uruguay jedoch nicht nur aktuell Jubiläum und lange Tradition, sondern war auch prägend für die Immigrations- und Industriegeschichte des Landes – genau wie die LEMCO (Liebig Extract of Meat Company), also die Fabrik, auf dessen ehemaligem Gelände das Museum heute steht. So wirklich begeistert, Samstag und Sonntag dafür zu arbeiten waren Amira und ich zwar anfangs nicht, aber alles in allem war es eine wirklich lustige Erfahrung und wir haben einige interessante Gespräche führen können – und das ein oder andere Gleis Wein gesponsert bekommen.

Caballos! (Pferde!)

Weitere Besonderheit des Museums, bzw. der ganzen Stadt, sind die Tiere. Und damit meine ich nicht die bunten Vögel (von denen gibt es zwar auch genug, vor allem die grünen Papageien und Rotschopfangaren sind selten zu überhören) oder die Schlangen (bisher haben wir nur zwei sehr kleine Exemplare gesehen), sondern vor Allem die Pferde und Hunde, die weder über Halsband und Halfter, noch über Leine und Strick verfügen, und frei in der Stadt herumlaufen. Auf dem Industriegelände grast eine ganze Herde, durch die man immer durchlaufen muss, wenn man zum Casa Grande (einem anderen Ausstellungsraum) möchte.

Anscheinend ist es typisch für die Region, seine Tiere einfach umherstreunen zu lassen und davon auszugehen, dass sie wiederkommen.

Blick über das Fabrikgelände

Diese Mentalität – es tranquil, also langsam angehen zu lassen und davon auszugehen, dass schon alles gut wird – ist generell recht bezeichnend für diese Stadt, in der weder wirklich viel noch wirklich wenig passiert und jeder einen direkt darauf anspricht, wenn man Deutsch redet. „No eres de aqui?“ (Du bist nicht von hier?) oder „No eres de Fray?“ (Du bist nicht aus Fray / Fray Bentos?) sind Sätze, die ich fast täglich höre und die gewissermaßen auch zu den Sätzen passen, die ich selbst am häufigsten sage: „Qué?“ (Was?/Wiebitte?), „Otra vez, por favor“ (Sag das noch mal, bitte), „Puedes repertirlo/explicarlo?“ (Kannst du das wiederholen/erklären?) und „No sé/entiendo“ (Ich weiß es nicht / Ich verstehe es nicht). Denn dass das Spanisch hier vor Ort ganz anders klingt, als in Spanien oder den meisten anderen lateinamerikanischen Ländern war mir zwar klar, aber gerade der breite Dialekt unseres Kollegen Mica, oder der Slang des Jugendlichen stellen mich täglich vor Herausforderungen. Herausforderungen wohlgemerkt, die durchaus zu meistern sind und bei denen ich dann doch Vertrauen in mich und meine Mitfreiwilligen habe, dass wir sie überwinden werden.

In diesem Sinne lässt sich wohl zusammenfassen, dass ich nicht nur gut angekommen und mich eingelebt habe, sondern dass ich auch schnell mehr über diesen Ort und seine Sprache lerne und davon ausgehe, noch viele weitere spannenden Menschen kennenzulernen.

Der Hafen von Fray Bentos

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Grüße aus der Stadt der bunten Wände (Urlaub und Sprachkurs in Montevideo)

 

Der Strand von Montevideo

Als wir am 9. September aus dem Flieger steigen hat noch niemand von uns das Gefühl, angekommen zu sein. Verschlafen, latent überfordert, eingeschüchtert von den Wechselkursen und auf der Suche nach einem verlorengegangenen Koffer stehen fünf der neun Uruguayfreiwilligen hinter der Einreisekontrolle und erleben innerhalb von Sekunden eine Achterbahnfahrt der Gefühle: Freude (Wir sind in Montevideo!!!), Überforderung (Ich verstehe kein Wort), Verwirrung (Wie spät ist es in Deutschland?), Nervosität (Wir sind in Montevideo, Klappe die zweite) und Aufregung (Jetzt geht es wirklich los!)

 

Toni, eine Mitfreiwillige, wird schon am Bahnhof von ihren Ansprechpersonen abgeholt, der Rest von uns wird zum Youki Haus, unserem Hostel für die nächsten zwei Wochen gebracht. Dort angekommen die Überraschung: Micheal, der die Unterkunft zusammen mit seinem Freund Vincent leitet, spricht Deutsch! Und er hat einige Tipps für uns: Events, Bars, Parks und Museen.

Die ersten Tage hat dafür allerdings niemand den Nerv, stattdessen wurden Handyvertrage organisiert, Währungen umgetauscht, Mieten versucht zu zahlen, es wird umgezogen und gefroren – denn niemand von uns war mental richtig darauf eingestellt gewesen, dass in Uruguay Frühlingsanfang ist, wenn wir ankommen.

Der fällt zwar deutlich milder aus, als in Deutschland, doch gerade an der Rambla – der Strandpromonade – kann es sehr windig sein.

Nach einer kurzen Zeit der Eingewöhnung geht es richtig los: Neben gemeinsamem Kochen und Arbeiten erkunden wir in Kleingruppen die Stadt aus allen erdenklichen Winkeln. Schon nach fünf Tagen beginnen einige von uns, das Hostel und auch Montevideo „Zuhause“ zu nennen, und diesen „Zuhause“ hat es in sich: Trotz gerade einmal knapp 1,4 Millionen Einwohner (was gerade den Berliner*innen unter uns wenig vorkommt), findet man alles, oder fast alles, was das Herz begehrt – wenn man bereit ist, ordentlich Geld auszugeben, denn gerade die Lebensmittelpreise sind hoch in dieser Stadt.

Schnell haben wir auch gelernt, uns in der Stadt zurechtzufinden. Wer nach Uruguay geht, der sollte wissen, dass man die Busse an den Haltestellen heranwinken muss, sonst bleiben sie nicht stehen.

Auch der Gedanke, es werde immer wärmer, je mehr man in den Süden fliegt, ist natürlich ein Trugschluss, wenn man aus dem deutschen Spätsommer kommt und zum Frühlingsanfang in Südamerika landet.

Unterschätzt habe ich die Anzahl der Matebecher und Thermosflaschen, überschätzt die Verbreitung von Englisch auch unter den Jugendlichen.

Doch nach der – tatsächlichen und metaphorischen – Akklimatisierung ging es für uns dann quer durch die Stadt.

 

Ein paar Etappen unserer Erkundungstrips waren:

  1. Der Sonnenuntergang an der Rambla

    Die Rambla – Eine wunderschöne Uferpromenade, an der die Bewohner*innen laufen gehen, Mate trinken, Rollschuhfahren (sehr prominent hier) und Angeln gehen

  2. Der Strand – Eignet sich perfekt zum Musikhören, Eisessen und Menschenbeobachten, bei besserem Wetter bestimmt auch zum Schwimmen
  3. Das Hostel selbst – Denn dort kamen Leute aus verschiedenen Teilen Lateinamerikas zusammen und haben uns erste Einblicke in die Kultur gegeben: Von einer Ehrenamtlerin habe ich wunderbare uruguayo Musikempfehlungen bekommen (mein Favorit bisher ist La Vela Puerca, eine Rockband aus Montevideo selbst), mit ihr und ihrer Freundin haben wir über Kunst und Politik diskutiert (der bisherige Hochpunkt meiner Spanischkenntnisse), von drei kolumbianischen Gästen haben wir versucht, tanzen zu lernen, ein weiterer Ehrenamtler hat uns zu seinem Geburtstag eingeladen und insgesamt wurden uns immer neue Tips gegeben.
  4. Die Ferrias – Der einzige Ort, wo man günstiges Essen bekommt, zumindest, wenn man ein bisschen mit den Händler*innen spricht.

    Ein Obst- und Gemüsemarkt

  5. Der Plaza de Artigas – In Uruguay dreht sich alles um den ehemaligen General und Politiker, der in zum Nationalhelden erklärt wurde und als „Vater der Unabhängigkeit Uruguays“ gilt. Gleich an unserem ersten Tag in der Altstadt haben wir eine Militärparade ihm zu Ehren beobachten können.
  6. Die Straßenmärkte in der Altstadt – Zu touristisch, um etwas zu kaufen, aber auch zu hübsch, um einfach dran vorbeizugehen.
  7. Die Bar Bremen – Wir waren zwar nicht drin, aber es war doch fast etwas lustig, auf einmal das Bremer Wappen und die vier Stadtmusikanten in einer Hauptstadt Südamerikas zu finden.
  8. Alle Wände der Stadt – Denn Montevideo ein lebendes Kunstwerk. Nicht nur Graffiti, sondern auch alle anderen Formen von Malereien schmücken vor allem aber nicht nur die Wände der Altstadt. Man könnte – und das haben wir auch zur Genüge getan – alle fünf Schritte stehenbleiben, um ein neues Foto zu machen, einen neuen Text zu lesen und etwas Neues zu lernen.
  9. Plaza Zabala und alle anderen Parks – Sind immer gut besucht und haben seltsamerweise auch immer genau eine freie Bank, wo man sich mit seinem Stück Karottenkuchen (günstigster Snack) hinsetzen kann.
  10. Das Museum Torres García – Der Künstler aus Montevideo ist vor Allem für das Werk „America Invertida“ bekannt, aber auch seine anderen Schaffensphasen werden eindrucksvoll dargestellt. Am besten hat uns aber die Töpferwerkstatt oben unterm Dach gefallen – ich weiß immer noch nicht, ob wir da wirklich hochdurften, denn der Eingang war etwas versteckt und definitiv kein Teil der Führung, aber die Menschen dort waren sehr nett und haben uns sogar Kurse angeboten

    Kartenspielen in der Jazzbar

    – leider wird sich das nur für die Freiwilligen, die länger in Montevideo bleiben, anbieten.

  11. Die Jazzbar „El Mingus“ – Leider konnte ich niemandem Doppelkopf beibringen, dafür haben wir bei den besten Tapas der Welt Lügen gespielt und Livemusik zugehört.
  12. Das Dach unseres Hostels – Dort wurden Geburtstage gefeiert, ein unglaublich leckerer Schokokuchen probiert und Festivaltrips geplant (Fontaines DC spielt im März in Buenos Aires! Leider schon zu spät für uns…)
  13. Die Clubs in unserem Barrio – „Barrio“ heißt so viel wie „Viertel“ oder „Kiez“ und unseres konnte sich echt sehen lassen. Von Reggaeton in einem queeren Club, Techno (mit Vinyl aufgelegt) und einer – leider sehr überfüllten – Feier für internationale Student*innen haben wir einen ersten Blick in die uruguayo Partyszene werfen können.
  14. Die Buchhandlungen und Büchercafés – Ich habe mein erstes rioplatensisch-spanisches Buch gekauft, das ich auch bald anfangen werde, zu lesen, wobei sich das sicherlich als längerer Prozess entpuppen wird.
  15. El Museo de la Memoria – Ein historisches Museum über die Diktatur in Uruguay, mit anspruchsvollen, aber auch sehr interessanten Texten.
  16. Der Plaza de la Diversidad Sexual – Urugay ist ein weltweiter Vorreiter, wenn es um die Rechte queerer Personen geht. So stehen „same sex sexual activities with an equal age of consent” seit 1934 nicht mehr unter Strafe (wie es zu der Zeit mit Rechten für Homosexuelle in Deutschland aussah, muss ich wohl nicht erzählen) unter Strafe und der Plaza de la Diversidad ehrt und erinnert an die Personen, die sich für weitere Änderungen und Durchbrüche eingesetzt haben.

 

Ab der zweiten Woche war der Urlaub dann vorbei und wir sind alle dort gelandet, wo wir unbedingt nie wieder hinwollten: In der Schule. Sechs (mit Pausen sieben) Stunden saßen wir in der Academia Uruguay, um Spanisch zu pauken und unsere Sprachbarriere für die kommende Zeit zumindest ein wenig zu minimieren. Wie erfolgreich das war wird sich noch herausstellen, dafür konnten wir einiges über die Kultur unseres Gastlandes mitnehmen:

Die Tänze (v.A. Tango, Candombe und Milonga), die Bedeutung von Mate (kriegt vielleicht sogar einen eigenen kurzen Eintrag), wie man Tortas Fritas macht (und isst), welche Musik man sich anhören sollte (La Vela Puerca ist das, worauf sich alle einigen können) und welche Filme zu schauen sind (einige habe ich auf meine Watchlist gesetzt – die ist aber leider sowieso schon viel zu lang).

Eine der vielen Wandmalereien in Montevideo (und ich)

 

Krönender Abschluss war dann der Geburtstag meiner Mitfreiwilligen Amira, in den ganz entspannt bei Pizza und einer Kleinigkeit zutrinken gefeiert wurde, denn am Morgen hieß es dann: Koffer packen, zur Station und dann ab in den Reisebus, um nach Fray Bentos zu fahren. Dort werden wir die nächsten Monate leben und arbeiten.

Trotz einiger Stresssituationen (eingezogener Karten, Sprachbarrieren, etc.) schaue ich auf zwei wunderschöne Wochen zurück, in denen das Land, die Stadt Montevideo, meine Mitfreiwilligen und viele andere mir wirklich ans Herz gewachsen sind.

Vielen Dank für diese wunderschöne Zeit mir euch, wir sehen uns bald wieder!    

 

Ausnahmsweise mal nicht Artigas        

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Kunst, Kultur und Capoeira (Eine Woche Vorbereitungsseminar in 789 Wörtern)

Am 1.9.2024 hieß es für 261 „kulturweit“-Freiwillige: Auf nach Brandenburg an den Werbellinsee.

Mit insgesamt sechs Taschen, sehr ungeordneten Gedanken und einem mehr oder weniger korrekten Zugticket haben Julius und ich uns morgens in Düsseldorf von unseren Familien verabschiedet und uns in den ICE nach Berlin gesetzt. Durch die obligatorischen zwei Stunden Verspätung wurden wir zwar nicht von den Shuttlebussen abgeholt, das Problem hatten aber noch genug andere Freiwillige, sodass wir immerhin erste Kontakte knüpfen konnten.

Auf dem Seminargelände angekommen wurden wir nach Ländern in „Homezones“ eingeteilt: Wir Uruguay-Freiwilligen waren in einer Gruppe zusammen mit denen, die nach Brasilien gehen. Dort habe ich auch das erste Mal meine zukünftige Mitbewohnerin Amira in Person kennengelernt und mich über unsere Einsatzstelle ausgetauscht.

Die ersten Tage waren vor allem geprägt von gruppenbildenden Maßnahmen (erstaunlich viele Spiele, die ich auch schon mit den Fünftklässler*innen meiner Patenklasse gespielt habe), Kennenlernrunden und der Vorstellung von Erwartungen und Ängsten (von beiden gab es genug).

Auch inhaltlich wurde natürlich viel gearbeitet: Zu Wahrnehmung, Kultur und Vorurteilen, zu Verhalten im Notfall, zu Versicherung und Sicherheit, zur UNESCO und zu den Nationalkommissionen, zu globalen Machtzusammenhängen, zum fairen Berichten und differenzierten Perspektiven.

Des Weiteren wurden Reflexionsräume angeboten, speziell zur Betrachtung der eigenen Position im Freiwilligendienst.

Highlight für soziale Beziehungen waren natürlich die Workshops: Nicht nur Beachvolleyball, Korbflechten und Diskussionsräume, sondern vor allem auch „Theater der Unterdrückten“ und ein Kurs über Capoeira, einen brasilianischen Kampftanz, stießen auf großen Anklang. Dabei handelt es sich um eine afro-brasilianische Kunstform, die Kunst, Musik, Akrobatik, Geschichte, Training, Kampf und Gemeinschaft verbindet und mit traditioneller Trommelmusik begleitet wird. Seit 2014 gehört Capoeira zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO, wie inzwischen übrigens auch die Berliner Techno-Szene oder Reggae in Jamaika.
Vorgestellt wurde der Kurs von Jerô, unserem Homezone-Teamer, der eine Capoeira-Schule in Dresden besucht.

Lustigerweise habe ich zwei Leute getroffen, die ich vorher schon kannte: Ein Mädchen aus meiner Stadt und einen Jungen, den ich vor zwei Jahren in einem Volleyballcamp getroffen hatte.

In unterschiedlichen Gruppen haben wir Doppelkopf, Tischtennis und Beachvolleyball gespielt, Karaoke gesungen, sind im See schwimmen oder einfach zusammen spazieren gegangen und haben über all das geredet, was uns bevorsteht: sechs, bzw. zwölf Monate im in- oder außereuropäischen Ausland, eine eigene Wohnung, eine 40h-Woche, Sprachbarrieren, vielleicht etwas Heimweh und viele neue Erfahrungen, von denen alle spannend, aber nicht alle einfach sein werden.

Wie sich das für eine Gruppe Jugendlicher in der letzten Woche in der Nähe von Zuhause gehört wurde natürlich auch gefeiert, getanzt, gelacht, gesungen und – man munkelt – auch ein bisschen getrunken, Kontaktdaten ausgetauscht, von den Heimatstädten berichtet, zusammen musiziert und endlich realisiert, dass es für uns jetzt wirklich losgeht, dass unser Freiwilligendienst kein Hirngespinst oder Geschehnisse in ferner Zukunft ist, sondern dass er in einigen Tagen beginnt.

Vor allem, als es dann am Samstag hieß, Abschied zu nehmen und sich entweder für sechs Monate, zwölf oder potentiell auch länger nicht mehr zu sehen, wurden alle, mit denen mal zu tun gehabt hatte (um alle richtig kennenzulernen waren wir deutlich zu viele, aber zumindest von den anderen Südamerikafreiwilligen müsste ich inzwischen alle Namen und Einsatzorte kennen) einmal fest umarmt und dann „in die Freiheit entlassen“, wie man so schön sagt.

Am letzten Abend vorm Flug ging es dann für meine Mitreisenden und mich noch einmal durch Berlin und danach ins Bett, um am nächsten Tag nach Frankfurt zu fahren. Von dort aus ging der Flieger über São Paulo nach Montevideo. Über den Flug würde ich gerne mehr berichten, aber einerseits war es extrem nebelig, sodass man nicht viel gesehen hat, und zum anderen habe ich die meiste Zeit auch durchgeschlafen, weshalb ich das meiste ohnehin nicht mitbekommen hätte.

Gerade, während ich diesen Text schreibe, sitze ich in Montevideo und gehe durch die Fotos der Seminarzeit und reflektiere diese eine Woche, die es für mich schon als solche Wert war, den Freiwilligendienst zu starten.

Ich hoffe, dass alle anderen genauso gut angekommen sind, wie wir in Montevideo (worüber in naher oder ferner Zukunft auch noch berichtet werden wird) und freue mich jedes Mal, wenn ich Bilder aus Argentinien, Kroatien, Namibia oder anderen Teilen der Welt sehe, die gerade von neuen Freund*innen und diversen Bekanntschaften bereist werden.

Wir haben schon jetzt unser eigenes kleines Netzwerk und mit den anderen Freiwilligen, die in Südamerika (v. A. Argentinien, Uruguay, Paraguay, Brasilien, Bolivien, Peru und Kolumbien) eine eigene Gruppe, um Urlaube und eine gemeinsame Weihnachtsfeier zu planen.

Wie gut wir inhaltlich auf unser FSJ vorbereitet sind, das kann und will ich noch nicht sagen, aber emotional behaupte ich jetzt einfach mal, bereit zu sein – und wenn nicht, dann kann man daran auch nichts mehr ändern und das wird auch funktionieren, ich bin da an sich recht optimistisch. Vamos arriba und so, es ist alles gut und es geht aufwärts.

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Auf geht’s, weiter geht’s (oder: Momente, einen Blog zu beginnen)

Samstag 31.08.2024, 11:11 Uhr und die Uhrzeit ist Programm: In meinem Zimmer sieht es aus, als wäre gerade der Karneval verkündet worden. Morgen geht es los zum Vorbereitungsseminar und mein Koffer ist noch nicht gepackt, zwischen Bett und Schreibtisch stapeln sich Notizen, Klamotten und eine Auswahl von Büchern, die es am Ende nur in Auszügen mit nach Berlin schaffen wird.

Ich sitze auf dem Boden und starre auf den Berg an Gepäck, von dem ich mir noch nicht vorstellen kann, dass er irgendwie in meine Taschen passen wird.

Hätte ich mehr Zeit (und besser geplant) wäre das vermutlich ein guter Moment, meinen Blog anzufangen.

 

Samstag 31.08.2024, 17:23 Uhr und inzwischen ist der Koffer zwar zu, wird aber alle paar Minuten aufgemacht, um noch etwas nachzustopfen: Wanderschuhe, Mückenspray, ein Arbeitsvertrag, der Reisepass und ein Notizblock. Kann man ja immer mal brauchen.

Ich telefoniere mit zwei Freunden, verabschiedet haben wir uns zwar schon gestern, aber wann, wenn nicht am Tag vor der Abreise, ist der Zeitpunkt für letzte letzte Gespräche und erste letzte Geständnisse.

Man könnte auch, denke ich, während ich meine Wasserflasche suche, jetzt einen Blog anfangen und verwerfe den Gedanken, als mir auffällt, dass mein Laptop schon tief in meinem Rucksack vergraben ist.

 

Samstag 31.08.2024, 22:02 Uhr und ich kriege tausend Nachrichten, dass ich mich „doch bitte mal melden“ solle. Auch das wäre ein guter Moment, um einen Blog zu beginnen, aber die letzten Stunden in meiner Heimatstadt Mönchengladbach nutze ich dann doch lieber, um noch einmal bei meinem besten Freund vorbeizuschauen, Sachen abzuholen, um die ich mich schön längst hätte kümmern sollen und – man glaubt es kaum – etwas zu schlafen.

 

Sonntag 01.09.2024, 8:41 Uhr und Julius und ich sitzen seit fast zwei Stunden im Zug. Er wird nach Montecarlo in Argentinien gehen, ich nach Fray Bentos in Uruguay. Einen meiner besten Freunde in der Nähe zu wissen ist zwar beruhigend, aber auch zu ihm werden es ungefähr 13 Stunden sein, sagt Google Maps.

Endlich hole ich den Laptop raus und beginne, zu schreiben. „¡Vamos arriba!“ nenne ich meinen Blog, „Wir gehen nach oben!“ oder „Auf geht’s nach oben!“ würde ich es übersetzen, aber ein Freund von mir, der bis vor kurzem in Bolivien war und in seiner Reisezeit auch Montevideo, die Hauptstadt Uruguays, besucht hat, hat mir erzählt, dass man das dort gerne mal sagt. „Auf geht’s“ oder „Weiter geht’s“ oder sogar „Alles gut“, so hat sein Reiseführer es wohl verwendet. Und diese Mentalität finde ich eigentlich ganz schön als Titel für meine Zeit in Uruguay: „Auf geht’s“ in eine neue Heimat für sechs Monate, „weiter geht’s“ sowieso immer und „alles gut“ wird es schon werden.

Natürlich weiß ich grob, was auf mich zukommt.

Ich weiß, dass Uruguay ca. 3.423 Millionen Einwohner*innen hat, wovon etwa ein Drittel in Montevideo lebt,

ich weiß, dass ich in einer Kulturwelterbestätte, der Industrielandschaft Fray Bentos (die Beschreibung der UNESCO zu dieser Stätte findet ihr hier: https://whc.unesco.org/en/list/1464), eingeteilt bin,

ich weiß, dass meine Mitbewohnerin Amira heißt und wir offiziell noch keine Wohnung haben,

ich weiß, dass die gängige Währung Pesos ist, man tendenziell aber auch gut mit Karte zahlen kann,

ich weiß, dass viele Veränderungen auf mich zukommen werden,

ich weiß, dass der urguayanische Wahlspruch „libertad o muerte“ („Freiheit oder Tod“) ist und ich das relativ ikonisch finde,

ich weiß, dass ich viel Mate trinken werde (die ehemaligen Freiwilligen sagen, das sei eine essentielle Voraussetzung für die Integration vor Ort),

ich weiß, dass mein mühsam in der Schule zusammengeschabtes Hochspanisch mich beim Dialekt der Uruguay@s nicht weit bringen wird,

ich weiß, dass ich sehr aufgeregt und auch ein wenig nervös bin,

ich weiß, dass man sich hätte besser vorbereiten können,

ich weiß, dass es in Uruguay immer irgendwie um Artigas geht, den Gründervater und Unabhängigkeitskämpfer,

ich weiß, dass eine vegetarische Ernährung schwierig aber machbar wird,

ich weiß, dass die Welt auch nicht untergehen wird, wenn ich ein paar Anlaufschwierigkeiten habe.

„Ich weiß, das ich nichts weiß“ soll Sokrates so oder so ähnlich gesagt haben und dem schließe ich mich an.

Ich weiß, dass ich nichts weiß, zumindest noch nicht viel von Belang, und das ist auch gut so.

Vamos arriba, es geht trotzdem weiter, es geht trotzdem aufwärts.

 

Sonntag 01.09.2024, 9:42 Uhr und ich beende meinen ersten Artikel für diesen Blog, der, fairerweise, noch wenig Inhaltliches zu bieten hat und eher eine Sammlung kleinerer Aphorismen darstellt.

Den Moment, meinen Blog zu beginnen habe ich doch noch gefunden, und einen Namen gleich mit. Pünktlich in Berlin ankommen werden Julius und ich wahrscheinlich nicht, dafür ist die Bahn ihrem Ruf zu treu geblieben und hat sich auf dem Weg zu viel Verspätung eingefahren, aber auch das werden wir überleben.

Bis zum 07.09.2024 geht dann unser Vorbereitungsseminar am Werbellinsee: Workshops, Homezones, Awarenessarbeit, aber auch Sport, mit anderen Freiwilligen Connecten und viel Karten spielen (meine persönliche Mission ist es ja, mindestens drei Mitspieler*innen für eine Runde Doppelkopf zu finden). Am 08.09.2024 darf ich dann meinen Flug antreten, von Frankfurt über São Paulo nach Montevideo, wo die anderen Uruguay-Freiwilligen und ich auch 1-2 Wochen bleiben werden, um die Hauptstadt zu erkunden, uns (metaphorisch und wortwörtlich) zu akklimatisieren und unseren obligatorischen Sprachkurs zu absolvieren. Aber dazu schreibe ich bestimmt noch etwas, wenn es soweit ist.

Dieser Artikel ist fast eher ein Teaser, eine kleine Erinnerung für mich selbst, wie es vor der Ausreise war, damit ich in sechs Monaten darauf zurückschauen kann, um mich zu wundern, was sich alles verändert hat.

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