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Auf geht’s, weiter geht’s (oder: Momente, einen Blog zu beginnen)

Samstag 31.08.2024, 11:11 Uhr und die Uhrzeit ist Programm: In meinem Zimmer sieht es aus, als wäre gerade der Karneval verkündet worden. Morgen geht es los zum Vorbereitungsseminar und mein Koffer ist noch nicht gepackt, zwischen Bett und Schreibtisch stapeln sich Notizen, Klamotten und eine Auswahl von Büchern, die es am Ende nur in Auszügen mit nach Berlin schaffen wird.

Ich sitze auf dem Boden und starre auf den Berg an Gepäck, von dem ich mir noch nicht vorstellen kann, dass er irgendwie in meine Taschen passen wird.

Hätte ich mehr Zeit (und besser geplant) wäre das vermutlich ein guter Moment, meinen Blog anzufangen.

 

Samstag 31.08.2024, 17:23 Uhr und inzwischen ist der Koffer zwar zu, wird aber alle paar Minuten aufgemacht, um noch etwas nachzustopfen: Wanderschuhe, Mückenspray, ein Arbeitsvertrag, der Reisepass und ein Notizblock. Kann man ja immer mal brauchen.

Ich telefoniere mit zwei Freunden, verabschiedet haben wir uns zwar schon gestern, aber wann, wenn nicht am Tag vor der Abreise, ist der Zeitpunkt für letzte letzte Gespräche und erste letzte Geständnisse.

Man könnte auch, denke ich, während ich meine Wasserflasche suche, jetzt einen Blog anfangen und verwerfe den Gedanken, als mir auffällt, dass mein Laptop schon tief in meinem Rucksack vergraben ist.

 

Samstag 31.08.2024, 22:02 Uhr und ich kriege tausend Nachrichten, dass ich mich „doch bitte mal melden“ solle. Auch das wäre ein guter Moment, um einen Blog zu beginnen, aber die letzten Stunden in meiner Heimatstadt Mönchengladbach nutze ich dann doch lieber, um noch einmal bei meinem besten Freund vorbeizuschauen, Sachen abzuholen, um die ich mich schön längst hätte kümmern sollen und – man glaubt es kaum – etwas zu schlafen.

 

Sonntag 01.09.2024, 8:41 Uhr und Julius und ich sitzen seit fast zwei Stunden im Zug. Er wird nach Montecarlo in Argentinien gehen, ich nach Fray Bentos in Uruguay. Einen meiner besten Freunde in der Nähe zu wissen ist zwar beruhigend, aber auch zu ihm werden es ungefähr 13 Stunden sein, sagt Google Maps.

Endlich hole ich den Laptop raus und beginne, zu schreiben. „¡Vamos arriba!“ nenne ich meinen Blog, „Wir gehen nach oben!“ oder „Auf geht’s nach oben!“ würde ich es übersetzen, aber ein Freund von mir, der bis vor kurzem in Bolivien war und in seiner Reisezeit auch Montevideo, die Hauptstadt Uruguays, besucht hat, hat mir erzählt, dass man das dort gerne mal sagt. „Auf geht’s“ oder „Weiter geht’s“ oder sogar „Alles gut“, so hat sein Reiseführer es wohl verwendet. Und diese Mentalität finde ich eigentlich ganz schön als Titel für meine Zeit in Uruguay: „Auf geht’s“ in eine neue Heimat für sechs Monate, „weiter geht’s“ sowieso immer und „alles gut“ wird es schon werden.

Natürlich weiß ich grob, was auf mich zukommt.

Ich weiß, dass Uruguay ca. 3.423 Millionen Einwohner*innen hat, wovon etwa ein Drittel in Montevideo lebt,

ich weiß, dass ich in einer Kulturwelterbestätte, der Industrielandschaft Fray Bentos (die Beschreibung der UNESCO zu dieser Stätte findet ihr hier: https://whc.unesco.org/en/list/1464), eingeteilt bin,

ich weiß, dass meine Mitbewohnerin Amira heißt und wir offiziell noch keine Wohnung haben,

ich weiß, dass die gängige Währung Pesos ist, man tendenziell aber auch gut mit Karte zahlen kann,

ich weiß, dass viele Veränderungen auf mich zukommen werden,

ich weiß, dass der urguayanische Wahlspruch „libertad o muerte“ („Freiheit oder Tod“) ist und ich das relativ ikonisch finde,

ich weiß, dass ich viel Mate trinken werde (die ehemaligen Freiwilligen sagen, das sei eine essentielle Voraussetzung für die Integration vor Ort),

ich weiß, dass mein mühsam in der Schule zusammengeschabtes Hochspanisch mich beim Dialekt der Uruguay@s nicht weit bringen wird,

ich weiß, dass ich sehr aufgeregt und auch ein wenig nervös bin,

ich weiß, dass man sich hätte besser vorbereiten können,

ich weiß, dass es in Uruguay immer irgendwie um Artigas geht, den Gründervater und Unabhängigkeitskämpfer,

ich weiß, dass eine vegetarische Ernährung schwierig aber machbar wird,

ich weiß, dass die Welt auch nicht untergehen wird, wenn ich ein paar Anlaufschwierigkeiten habe.

„Ich weiß, das ich nichts weiß“ soll Sokrates so oder so ähnlich gesagt haben und dem schließe ich mich an.

Ich weiß, dass ich nichts weiß, zumindest noch nicht viel von Belang, und das ist auch gut so.

Vamos arriba, es geht trotzdem weiter, es geht trotzdem aufwärts.

 

Sonntag 01.09.2024, 9:42 Uhr und ich beende meinen ersten Artikel für diesen Blog, der, fairerweise, noch wenig Inhaltliches zu bieten hat und eher eine Sammlung kleinerer Aphorismen darstellt.

Den Moment, meinen Blog zu beginnen habe ich doch noch gefunden, und einen Namen gleich mit. Pünktlich in Berlin ankommen werden Julius und ich wahrscheinlich nicht, dafür ist die Bahn ihrem Ruf zu treu geblieben und hat sich auf dem Weg zu viel Verspätung eingefahren, aber auch das werden wir überleben.

Bis zum 07.09.2024 geht dann unser Vorbereitungsseminar am Werbellinsee: Workshops, Homezones, Awarenessarbeit, aber auch Sport, mit anderen Freiwilligen Connecten und viel Karten spielen (meine persönliche Mission ist es ja, mindestens drei Mitspieler*innen für eine Runde Doppelkopf zu finden). Am 08.09.2024 darf ich dann meinen Flug antreten, von Frankfurt über São Paulo nach Montevideo, wo die anderen Uruguay-Freiwilligen und ich auch 1-2 Wochen bleiben werden, um die Hauptstadt zu erkunden, uns (metaphorisch und wortwörtlich) zu akklimatisieren und unseren obligatorischen Sprachkurs zu absolvieren. Aber dazu schreibe ich bestimmt noch etwas, wenn es soweit ist.

Dieser Artikel ist fast eher ein Teaser, eine kleine Erinnerung für mich selbst, wie es vor der Ausreise war, damit ich in sechs Monaten darauf zurückschauen kann, um mich zu wundern, was sich alles verändert hat.

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