Bisher habe ich versucht, allem eine Zeit und einen Platz zuzuteilen. Den Ereignissen ihre chronologische Reihenfolge nicht wegzunehmen. Aber um ehrlich zu sein, ist das gänzlich unmöglich, schlichtweg unrealistisch. Was ich hier schreibe, ist ein Blog und kein Tagebuch. Ich fasse Erlebnisse zusammen, gebe den Inhalt von Wochen in nicht mehr als wenigen Minuten wieder und desto mehr Zeit verrinnt, desto stärker gehen meine eigenen Gedanken und Überlegungen ineinander über. Auf die an einem Tag weise scheinende Entscheidung trifft bereits die Reue des nächsten Tages, was ein gänzlich akkurates Aufschreiben der Ereignisse und meiner eigenen Gefühle, so wie sie denn in jedem einzelnen Moment seit Beginn meiner Reise in die Mongolei geschehen sind und waren, schlichtweg unmöglich macht. Somit ist auch dieser Bericht auf gewisse Weise nur teils Realität und teils das Ergebnis meiner eigenen Hirngespinste.
Was ich in diesem Blog bisher getan habe, ist eine Welt erschaffen. Ich habe verschiedene Charaktere und Orte vorgestellt, eine Atmosphäre kreiert, der notwendige Teil einer jeden Geschichte eben. Aber das alles ist nicht viel mehr als die Spitze des Eisbergs. Was ihr jetzt hören werdet, ist der besser behütete, verborgene Teil dieses Abenteuers. Eben die oben erwähnten Hirngespinste, die mein Gehirn rund um die Uhr am Laufen halten, in ihrem nahezu vollen Ausmaß.
Wir alle sind mit unterschiedlichen Erwartungen in die Mongolei gekommen. Ein jeder von uns hatte ein Bild davon im Kopf, was uns an diesem auf gewisse Weise vom Rest der Welt abgeschnittenen Ort inmitten der Steppe erwarten würde. Das Problem mit diesen Bildern ist, dass, wenn sie sich zu tief in unserem Inneren verankern, wenn sie zu spezifisch sind, uns die Realität, mit der wir letztendlich konfrontiert werden, gänzlich fremd erscheinen wird. Sie wird etwas alienhaftes haben.
Ich habe mir vor meiner Reise in die Mongolei ehrlich gesagt kaum Gedanken darüber gemacht, was mich hier erwarten würde. Dank zwei mongolischen Mädchen, mit denen ich zur Schule gegangen bin, hatte ich die Mongolei bereits lange vor meinem FSJ als “cool” abgestempelt und mehr Gedanken habe ich mir nie wirklich gemacht. Aufgrund von Stress und naja auch einer guten Menge an Faulheit habe ich sämtliche empfohlene Hintergrundrecherche übersprungen und bin auf gewisse Weise direkt ins kalte Wasser gesprungen. Aber trotz fehlender Vorbereitung hatte ich den meisten Leuten hier etwas voraus: Ich kannte Leute aus der Mongolei und selbst wenn sie beide Teil der oberen Mittelschicht waren und mein Kontakt zur Kultur somit sehr einseitig war, war sie kennengelernt zu haben immer noch Gold wert.
Das Problem ist, dass in Deutschland die übliche Vorstellung einer mongolischen Person keine Oberstufenschülern ist, die in High Heels zu Cardi Bs Musik tanzt. Die Mongolei ist für die meisten nimmerendende karge Landschaften, Kamele, Pferde und Familien gezeichnet von Traditionen, die uns gänzlich unfamiliär sind, alles in allem etwas Exotisches.
Während ich mir sicher bin ,dass man so etwas hier finden kann und auch die oben genannten Aspekte Teil dieses Landes sind, bilden sie nicht den Teil des Landes, denn man antreffen wird, wenn man in einem Apartment in der Nähe der Shangrila Mall wohnt. Einer der zentralsten Orte nur möglich. Deshalb kam, und das schon mehr als einmal, die Frage nach der “echten” Mongolei auf. Eine meiner Mitbewohnerinnen hat die drei Jungs beneidet, die genau wie wir hier ein FSJ machen, aber eine Wohnung in einem deutlich ärmeren Stadtteil gemietet haben. Sie haben uns erzählt, wie sie dort in der Gegend mit den Kindern Basketball gespielt haben, wie Leute gemeinsam mit ihnen Fotos machen wollten und wie spekuliert wurde, ob sie Russen sind oder nicht.
Aber die Wahrheit ist, es gibt keine bestimmte Mongolei, die echter ist, als die andere. Klar erleben wir hier alle eine unterschiedliche Realität, aber das macht die Erfahrungen von einem von uns nicht weniger authentisch als die von einem anderen. Bestimmte Erlebnisse hier sind nicht schlichtweg „falsch“, nur weil sie nicht unseren Erwartungen des Landes entsprechen. Elegante Wolkenkratzer und Menschen, deren Taschen praktisch vor lauter Geld bersten, sind genauso sehr Teil dieses Landes wie Leute, die deutlich weniger besitzen. Und die Wahrheit ist, dass wenn du genauso viel Zeit wie ich im Ausland verbracht hast, dann schätzt du jedes bisschen Familiarität in der Fremde. Weil du genau weißt, dass das Leben fern von der Heimat auch so schon schwierig genug werden wird. Selbst wenn eine andere Kultur auf den ersten Schlag gar nicht so fremd erscheinen mag, wirst du schnell herausfinden, wie unterschiedlich sie von deiner eigenen wirklich ist. Dann wirst du es plötzlich wertschätzen, wenn du nach einem langen Arbeitstag in den Supermarkt gehst und nicht die Inhaltsstoffe von jedem einzelnen Produkt mithilfe von Google Translate übersetzen musst.
Und genau das ist meine Angst, meine größte Angst. Ich habe ein sehr anderes Leben als die meisten Menschen gehabt und ich habe Angst, dass in nicht allzu ferner Zukunft die Erwartungen und Erfahrungen meiner Mitbewohner und meine eigenen aufeinander prallen werden, auf eine Art und Weise, die nicht viel mehr als Zerstörung hinterlassen wird. Im Gegensatz zu den meisten Menschen habe ich mein ganzes Leben damit verbracht, mich an neue Situationen anzupassen. Ich bin auf gewisse Weise zu einem Chamäleon geworden. Ich weiß wie ich gehen und reden muss, um nicht wie ein stereotypischer Tourist zu erscheinen.
Diesen Sommer hatte ich bereits einen ersten Vorgeschmack dieser Unterschiede zwischen mir und anderen und es hat mir alles andere als gefallen. Diesen Sommer war ich eine Woche gemeinsam mit einer Freundin aus Deutschland in New York City. Da sie krank war, habe ich die ersten paar Tage genutzt, um die Stadt alleine zu erkunden. Nicht ein einziges Mal hatte ich das Gefühl, aus der Masse herauszustechen. Selbst als ich beim Spazierengehen laut auf Deutsch telefoniert habe, schien niemand meine Präsenz allzu sehr zu bemerken. Schließlich gibt es in New York tausende Einwanderer und jemanden in einer anderen Sprache sprechen zu hören, ist keine Überraschung.
Das alles hat sich geändert, als es meiner Freundin wieder besser ging und wir gemeinsam auf Erkundungstour gegangen sind. Plötzlich wurden wir angestarrt, angesprochen und ich habe mich auf gewisse Weise entblößt gefühlt. Ich habe nicht mehr als ein paar Sekunden gebraucht, um die Unterschiede in meinem und ihrem Verhalten zu bemerken. Jedes Mal war ich innerlich am Fluchen, weil ich mir der Aufmerksamkeit von anderen, die unabdingbar folgen würde, bereits bewusst war. Einer Aufmerksamkeit, welche sich auf zwei Weisen zeigt, die mir beide gleich unangenehm sind.
Die erste, gut gemeint, aber dennoch störend, ist die Aufmerksamkeit von Security Guards und anderen Personen, welche sich für einen längeren Zeitraum im selben Raum wie man selbst aufhalten und die eigene Unbeholfenheit erkennen. Nach dieser Erkenntnis kommt oft die Frage, was man denn suche oder brauche und während dies an sich zwar gänzlich gut gemeint ist, ist es letztendlich nicht mehr als eine traurige Erinnerung daran, dass man selbst eigentlich nicht hierher gehört. Das es Wissen gibt, das einem selbst verborgen ist und das diese Wissenslücke offensichtlich ist.
Die zweite Art von Aufmerksamkeit kommt von Händlern und Verkäufern, dieselben wie sie auf arabischen und lateinamerikanischen Märkten anzutreffen sind und die, sobald sie auch nur die kleinste Anomalität in deinem Verhalten entdecken, den Preis ihrer Waren ums dreifache erhöhen. Diese Art von Aufmerksamkeit dehnt sich aus auf Taxifahrer, Tourguides und alle möglichen anderen Personen, die hoffen, aus deiner Hilflosigkeit in der Fremde Profit zu schlagen. In manchen Fällen, zumindest hier in der Mongolei, ist dieses Verhalten auch durchaus nachvollziehbar, wenn auch nichtsdestotrotz nervig. Hier Ausländer zu sein bedeutet Geld für Flugtickets, Unterkunft und alles mögliche weitere zu haben. Selbst wenn ich mich in Deutschland keineswegs als reich einstufen würde, gehöre ich doch zur Mittelschicht der Bevölkerung, was hier in der Mongolei aber dann doch eher die obere Mittelschicht ist.
Jedenfalls habe ich diesen Sommer in New York bereits einen ersten Eindruck davon bekommen, wie mein eigenes Dasein als Ausländerin wohl sein wird und dass, während ich selbst mich zwar schnell an neue Situationen anpasse, dies für andere Leute nicht unbedingt der Fall ist. Denn es erfordert Können, welches ich mir in meinen zwölf Jahren Schule, die ich an fünf verschiedenen Schulen in drei verschiedenen Kontinenten angeeignet habe. Ich habe gelernt, Teil von Personengruppen zu werden, ohne tatsächlich dazuzugehören. Ich habe ein Talent dafür entwickelt, nahezu überall und unter allen möglichen Umständen die Illusion eines glücklichen Zuhause zu kreieren, welche nicht selten schon bald darauf zur Realität wird.
Ich habe Angst, dass genau dies die anderen Freiwilligen an ihre Grenzen bringen wird, dass sie womöglich daran zerbrechen werden. Dass der Kulturschock zu groß für sie sein wird, die Realität hier gänzlich anders als ihre Erwartungen, das Gefühl ein Fremder zu sein, der Wolf im Schafspelz (wenn auch ohne die bösen Absichten), zu stark. Ich kann es bereits jetzt fühlen. Ich sehe ihnen den Stress an, merke, wie sie versuchen, sich selbst beschäftigt zu halten, in der verzweifelten Suche nach Kontrolle. Aber manchmal, manchmal ist es in Situationen wie dieser nötig, sämtliche Kontrolle abzugeben, um in der Lage zu sein, sich vollständig zu entfalten und weiterzuentwickeln.