Vor dem Sprung

Bevor wir alle in die Flieger gestiegen sind und uns in Richtung unserer Einsatzländer aufgemacht haben, hatten wir alle gemeinsam ein 10-tägiges Vorbereitungsseminar am Werbellinsee in Berlin. Angeblich, um zu vermeiden, dass sich in uns das Gefühl breitmacht, gänzlich ins kalte Wasser geworfen zu werden, wenn wir denn dann später in alle Welt aufbrechen.

Wir hatten etwas über eine Woche voller Theorie bezüglich Kolonialismus, Rassismus, interkultureller Sensibilisierung und über die Importanz Geschichten auf eine “faire” Art und Weise zu erzählen. Aber wie wir Seiten über Seiten an Informationen gehändigt bekommen haben, begannen die Tage sich zu strecken, wurden immer länger. Die Zeit schien, falls überhaupt, dann nur unendlich langsam zu verstreichen. 

Jeden Morgen drei Stunden lang über Massenmorde und alles Übel in der Welt zu lernen und dann nach einer kurzen Mittagspause voller Kraft und Energie zu sein, um diese Themen nochmals auseinanderzunehmen und zu diskutieren, ist nicht mehr als eine Wunschvorstellung. Eine Überschätzung des eigenen, menschlichen Potenzials und Leistung. Dies sind keine Themen, die man leichtfertig verkraftet. Es braucht Zeit, um Informationen wie diese zu verarbeiten, da sie einem sonst irgendwann einen zu großen Tribut abverlangen. 

Und so kam es dazu, dass als die Bar auf dem Seminargelände aufmachte, sich ein monotoner Beigeschmack an die Tage anhaftete. Die meisten von uns wachten kurz vor neun auf, ausgelaugt und übermüdet von den zu kurzen Nächten, manche noch leicht verkatert. Gerade noch rechtzeitig, um die Überbleibsel vom Frühstück einzusammeln. Die Vormittage begannen zu verschwimmen, nahtlos ineinander überzugehen. Die meisten von uns zu müde und erschöpft, um den Seminarinhalten noch volle Aufmerksamkeit zu schenken. 

Dann begann das Mittagessen, eine Kombination aus 50% vegetarischem und 50% veganem Essen. Ein Segen für manche und gleichzeitig Grund für einen Aufschrei von vielen anderen. Ich persönlich gehörte zu den Personen, die am Essen nicht viel zu beanstanden fanden und allgemein damit zufrieden waren. Aber nach zwei Jahren Internatsessen könnte man mir wahrscheinlich auch alles mögliche vorlegen und solange es nicht in Öl schwimmt und zumindest etwas Geschmack hat, würde ich glücklich sein.

Die Nachmittage bestanden meistens aus einer Vielzahl von Workshops, wobei die Themen selbst bei weitem nicht vielfältig waren. Waren doch die Inhalte letztendlich alle nahezu identisch, lediglich getarnt durch leichte Unterschiede in der Namensgebung der Workshops. Lediglich ein paar grenzten sich von der Mehrheit ab: Workshops für BiPoc Leute (Black, Indigenous, People of Color) und Menschen aus sozial schwächeren Familien. Sie stachen vor allem dadurch aus der Masse heraus, dass von den Aushängen für besagte Workshops kaum Zettel zur Teilnahme abgerissen wurden. Von wem sollten sie das denn auch? Obwohl wir über 300 Seminarteilnehmer waren, war ich in der Lage, sämtliche BiPoc Leute an einer Hand aufzuzählen und praktisch jede Person, mit der ich während des Seminars gesprochen habe, hatte gerade ihr Abitur abgeschlossen oder war bereits im Studium. Es stimmt zwar, kulturweit verlangt von seinen Teilnehmern keine Hochschulzulassung, aber es ist nun mal nichtsdestotrotz auf eine bestimmte Personengruppe ausgelegt.

Dies wurde auch den meisten anderen Teilnehmern nach einem sogenannten Diskussionsabend bewusst. Es ging um verschiedene Perspektiven bezüglich der Kritik an kulturweit. Das Problem mit den verschiedenen Perspektiven war, dass sie eigentlich gar nicht so verschieden waren. Waren doch sämtliche Podiumsteilnehmer Mitarbeiter von kulturweit. So wurden dann also verschiedene Artikel, in welchen kulturweit kritisiert wird, vorgelesen, nur um dann einstimmig entkräftet zu werden. Das Konzept, sich mit der Kritik auseinanderzusetzen, an sich eigentlich ein nobles, nur wirkte die gesamte Diskussion zu scheinheilig, zu sehr wie eine Predigt, in welcher eigentlich nur die eigenen Interessen gestärkt werden sollen. So ist etwas, dass vom Prinzip her eigentlich gar keine schlechte Idee war zum kleinen seminareigenen Skandal geworden. Ich selbst bin zwiegespalten und kenne mich, um ehrlich zu sein, auch gar nicht genug mit der Thematik aus, um ein reflektiertes Statement abzugeben. Was ich allerdings im  Vergleich zu vielen anderen habe, ist meine lange Erfahrung im Ausland. Mein Aufwachsen in zwei gänzlich verschiedenen Welten. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass das, was wir hier tun, verwerflich ist. Ist kulturweit perfekt? Bei weitem nicht, aber wer sich selbst als Verbreiter von Kolonialismus sieht, weil er an einem Programm wie diesem teilnimmt, mutet sich meiner Ansicht nach selbst zu viel Bedeutung zu. Die meisten von uns sind gerade mal ein halbes Jahr im Ausland und auch wenn manche von uns beim Deutschunterricht helfen, ist unsere Präsenz an den Schulen kaum lang genug, um einen bleibenden Eindruck im Land zu hinterlassen. Wenn du an einem Programm wie diesem teilnimmst, wirst du für etwas Abwechslung im Leben der Schüler sorgen und vielleicht ein paar Lehrkräfte entlasten. Wobei selber Unterrichten, dürfen wir ja auch sowieso gar nicht. Aber wie gesagt, ich bin eigentlich gar nicht befugt, Themen wie diese zu kommentieren, schließlich ist mein eigenes Wissen auch mehr als lückenhaft.

Wobei ich durchaus viel auf dem Seminar gelernt habe. Das einzige Problem mit meinem neuen Wissen ist, dass es nahezu komplett aus Theorie besteht. Aus Dingen, die gut zu wissen, aber schwer auf die reale Welt zu übertragen sind. Wir haben uns etwa viel Wissen über interkulturelle Sensibilität angeeignet, ohne tatsächlich irgendetwas über die Kulturen in unseren Einsatzländern zu lernen. Und wie kann man Missverständnisse oder Statements, welche eine starke emotionale Reaktion bei bestimmten Völkern hervorrufen, vermeiden, wenn man nichts über besagte Völker lernt?

Und so wurden wir letztendlich trotz allem ins eiskalte Wasser geworfen.

Aber ich kann euch einen kleinen, flüchtigen Blick in die Zukunft geben: Obwohl manche von uns verzweifelt versuchen, ihren Kopf über Wasser zu halten, während andere von uns mit Leichtigkeit hindurch schwimmen, ist noch niemand gesunken.

Ausblick auf den Werbellinsee 1

Ausblick auf den Werbellinsee 2

Ausblick auf den Werbellinsee 3

Ausblick auf den Werbellinsee 4

Zusammen mit Jola in Laurins Hängematte am letzten Tag