Theoretisch

Theoretisch hat jeder Mongole 0,54 km² für sich alleine. Theoretisch hätte ich also unendlich viel Platz. Nun ja, theoretisch. Tatsächlich wohnt fast die Hälfte der um die 3 Millionen Mongolen in der Hauptstadt Ulaanbaatar (UB für Eingeweihte). Und ich mittendrin. Juhuu Großstadt! Wer mich nicht kennt, sollte auf die Ironie hingewiesen werden, eigentlich brauche ich frische Landluft zum Glücksichsein. Häuser bis zum Horizont, die den Himmel verdecken, gehören nicht dazu.
Aber ich habe mir das ja so ausgesucht. Deshalb gilt es, das Beste draus zu machen! Auf jeden Fall werde ich mich in den nächsten 12 Monaten ganz praktisch als Stadtmensch austesten und sehen, wie es mir dabei ergeht. Der Sternenhimmel ist schonmal selbst von der Stadt aus beeindruckend – und das nicht nur theoretisch.

Und nun zu den wirklich wichtigen Dingen:
Es ist Samstag, 30.09.2014, irgendwann zwischen 6 und 7 Uhr Ortszeit, und ich suche in der „Halle“ des Chinggis Khaan International Airport („Raum“ trifft es eher) nach einer Spur von Minjbadgar Kazagvai, kurz Micki, meiner Ansprechpartnerin und Deutschlehrerin an der AvH-Schule. Typisch Mongolin kommt sie ein paar Minuten verspätet, da haben auch diverse Deutschlandaufenthalte nichts dran geändert. Macht aber nichts, ich habe schon von dieser Landeseigenschaft gehört und auch alle Taxiangebote erfolgreich ignorieren können. Außerdem freue ich mich immernoch über die Aussicht aus dem Flugzeug, Sonnenaufgang, braune Hügel und dazwischen eine Stadt, die von ausgedehnten Jurtenvierteln umgeben ist.

Nach einem kurzen Zwischenstopp bei Micki zuhause geht es weiter zu meiner neuen Gastfamilie, die sich als Mathelehrerin der AvH und zwei ihrer Kinder (13 + 25) herausstellt. Leider spricht auch nur der ältere Sohn ein paar Brocken Englisch. Ich muss also ganz fix Mongolisch lernen und meine Hand-und-Fuß Kommunikation perfektionieren.
Mein Zimmer ist wohl das Büro, denn es gibt nur einen Schreibtisch mit Computer drauf und einen Stuhl. Kein Bett. Und keinen Schrank. Gerade letzteres wird bei zwei vollen Gepäckstücken auf Dauer etwas nervig. Dafür habe ich in der kleinen 3-Zimmer Wohnung als einzige ein eigenes Zimmer, welches nicht gleichzeitig als Wohnzimmer genutzt wird.
Beim Jetlag-Mittagsschlaf kann ich dann auch gleich das austesten, was als „mongolische Matratze“ bekannt ist. Eine isomattenähnliche Unterlage aus mehreren dünnen Decken und Matten. Gut nur, dass ich einen Schlafsack dabei habe.

Abends nimmt mich Kathrin, eine Kulturweitfreiwillige die von Februar 2014 bis 2015 in UB ist, mit in ein koreanisches Restaurant und stellt mir eine mongolische Freundin und einen mongolischen Freund, der aber bis auf die Semesterferien in Deutschland ist, vor. Ich fühle mich gleich wohl und finde es sehr nett, dass Kathrin gleich den Kontakt gesucht hat. (Falls du das liest.. vielen Dank dafür!) Das Essen schmeckt sehr gut und ist echt preiswert. Ich trinke auch mein erstes mongolisches Bier: Khan Bräu dark. Mehr zum Essen hier werde ich aber später mal schreiben. Die Unterschiede verdienen einen eigenen Beitrag, wenn nicht sogar mehrere…

Danach geht es mit dem Auto noch zur Dsaisan Gedenkstätte, die im Süden der Stadt auf einem Hügel liegt. Sie soll an die im 2. Weltkrieg gefallenen Sovietsoldaten erinnern. Außerdem gibt es Wandmosaike zur russisch-mongolischen Geschichte. Wir genießen aber in erster Linie die Aussicht auf die Lichter der Stadt und den Sternenhimmel. Wolken gibt es nämlich fast nie über UB. Darum fallen die Temperaturen auch im Sommer nachts unter 10 °C. Nach noch einem kurzen Abstecher zum Sukhbaatar Square, UBs zentralen Platz, geht es dann auch „nach Hause“ ins Warme.

Am Sonntag treffe ich mich nachmittags mit Charlotte, die für 6 Monaten bei der Unesco National Commission arbeitet. Kathrin und der deutsche Mongole sind auch wieder dabei. Wir sind als richtige Touristen unterwegs, gehen erst ins Cafe Amsterdam (durch Lonely Planet nur von Touristen besucht) und dann noch zu einer Vorstellung des Mongolian National Song and Dance Ensemble ‚Tumen Ekh‘. Traditionelle Tänze, Gesänge und Musik sind für Touristen aufbereitet. Es gibt sogar einen singenden, tanzenden und springenden Schamanen. Trotzdem ist es interessant und gut, besonders die Grübchen der Sänger und Musikanten gefallen mir. Fotos sind zwar offiziell nicht erlaubt… aber pssst.

Leider geht der Abend nicht so schön weiter. Der Himmel kurz nach dem Sonnenuntergang ist noch beeindruckend, einen Eindruck bei mir hat aber auch der kleine Welpe gemacht, den wir an einen Zaun angebunden gefunden haben. Wahrscheinlich ausgesetzt in einer gewerbegebietsähnlichen Gegend. Eine Paintball Anlage und ein Freizeitpark nebenan. Endlich befreit rennt der kleine Hund dann auch schon um uns herum, bellt, quietscht und will spielen. Er ist echt niedlich. Aber was können wir für ihn tun? Anfassen alleine kann schon wer weiß was übertragen. Trotzdem hätte ich ihn am liebsten mitgenommen, durchgeknuddelt und zum Tierarzt gebracht. Dabei weiß ich noch nicht einmal, ob es hier einen Tierarzt gibt und wenn hätte ich mich mit ihm nie verständigen können. Der Welpe denkt aber ähnlich und rennt uns hinterher. Akute Herzbrechgefahr. Wir werden ihn los, indem wir ihn über einen Zaun setzen.

 

[Absatz bei fehlendem Tierinteresse einfach überspringen.] Auf dem Rückweg treffen wir den Welpen aber wieder. Er verfolgt uns, bis wir bei einer Tankstelle an zwei Männern vorbeikommen, die im Sitzen an ihrem Auto arbeiten. Zwei Sekunden abgelenkt lassen wir den Hund stehen und verschwinden um die nächste Ecke. Ich hoffe inständig, dass sich einer der Männer oder irgendwer dem Kleinen annimmt. Wahrscheinlich ist er ansonsten tot besser dran als als Straßenhund. Ich sehe zwar in den nächsten Tagen noch ein paar mehr heimatlose Hunde, doch nicht so viele wie man vermuten könnte. Wahrscheinlich überleben die meisten den langen kalten Winter einfach nicht.
(Nein, es tut mir nicht leid, soviel über den Welpen geschrieben zu haben.)

Nach diesem traurigen Erlebnis gehen wir noch in einen Jazz Club, ein Restaurant, in dem live Musik gespielt wird. Die Band mischt Jazz mit Country und Folk, ist aber ganz gut. Fazit: Tiger Bier schmeckt auch gut und UB hat überraschend viel zu bieten.

Montagnachmittag war ich dann noch mit meinem Gastbruder in der Stadt. Wir sind zum Gandan Kloster gelaufen. Da gibt es fast so viele Tauben wie in Venedig. Das erste Mal in einem buddhistischen Tempel war dennoch beeindruckend. Viele glänzende Gebetsmühlen und in der Mitte die 26 Meter hohe Statue der Göttin Janraisig. Fast noch schöner fand ich allerdings die Schnitzereien und Verzierungen, die die Decke und Säulen verzieren. In einem weiteren Gebäude wurde gerade eine Zeremonie abgehalten. Ein Nebenhof wäre die perfekte Idylle zum Ruhe tanken, gäbe es nicht den Eintrittspreis ins Kloster, der zum Glück entfällt, wenn man mit Einheimischen unterwegs ist.

Mit einem Einheimischen unterwegs zu sein hat auch den Vorteil, dass man trotz Putinbesuch bis direkt vor die große Chinggis Klan Statue neben der Tür zum Regierungspalast kommt. Beziehungen sind alles. Zufälligerweise arbeitet mein Gastbruder nämlich im Regierungspalast und kennt die Wachen.

 

Was ist noch so alles passiert?

Über die ersten Tage in der Schule gibt es nochmal einen eigenen Beitrag… demnächst…

Über den Visumsstress vermutlich nicht, das ist echt zu stressig und nervig.

Und über meine erste vergorene Stutenmilch, airag, findet ihr bald was unter Kulinarisch.

 

Mittlerweile, an Tag 4, haben sich meine 0,54 km² sogar um einen Schrank (Marke Leichtbauweise) erweitert. Ein Bett bzw. eine europäische Matratze fehlt leider immernoch.

In diesem Sinne Gute Nacht!

 

6 Gedanken zu „Theoretisch“

  1. Hi Svenja,

    mutig und kreativ! Dein Schreibstil ist extrem gut, knackig und präzise. Inhaltlich erlebst du sowieso grad was, wovon ich nur träumen kann. Ich wünsch dir als österreichischer – was bin ich eigentlich? – Großonkel (???) ganz ganz viel Spaß und intensive Erlebnisse da drüben! Freu mich, dich einmal live kennenzulernen.

    Christian

    1. Hej Christian,
      dankeschön! Freut mich, dass du hergefunden hast. Großonkel, Onkel 2.Grades oder einfach Cousin meines Vaters.. ich weiß es auch nicht.
      Übers live kennenlernen kann man ja nochmal sprechen, wenn ich wieder im Lande bin (bzw. im deutschsprachigen Raum für Österreich). So oder so wäre das eine schöne Sache! Viele Grüße aus UB!
      Svenja

  2. Hallo liebe Svenja,
    wir sind heute auf Umwegen an Deinen tollen ersten Bericht
    aus UB gekommen. Wir freuen uns für Dich.
    Übrigends, wir haben auf dem Dachboden noch eine Matratze
    liegen. Oma möchte sie am liebsten sofort bringen.
    Wir grüßen ganz toll – auch Deine neuen Freunde und Deine
    Gastfamilie.Bleib gesund.!!!
    Oma und Opa

    1. Ihr seid die Coolsten!! :D
      Ich freue mich, dass ihr mitlest! Die Grüße werden gleich morgen verteilt. Alle Matratzen bitte zwischen Seoul Street und Bahnhof abgeben. Da ist so ein von den Russen gebautes Haus, findet ihr schon.
      Liebe Grüße nach Tellmer!

  3. Hallo liebe Weltreisende.
    Deine ersten Berichte finde ich schon sehr interessant und freue mich auf diesem Wege etwas über die Mongolei und UB zu erfahren. Schön wenn es dir gut geht und europäische Matratzen sind nicht alles.
    Fühl dich gedrückt….

    1. Ui noch ein Kommentar :) Danke. Ja europäische Matratzen sind schon was ganz Besonderes und gegen steinharte Jurtenbetten sind mongolische Matratzen dann doch vorzuziehen, zumindest vom Comfort her, nicht vom Feeling. Liebe Grüße!

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