Wissen was Weite ist, oder: Sitzen auf einem ganz neuen Level

24. August 2012
von Nuri Hamdan

Unsere spontane Entscheidung nach Gansu, in den Nordwesten Chinas zu fahren ließ uns keine andere Wahl, als die einzigen Tickets, die für den 37 Stundenzug ins über 2300 km entfernte Lanzhou noch zu haben waren, zu kaufen. Hardseater. Das bedeutet kerzengerade Sitze, drei Sitze nebeneinander und sechs Sitze einander gegenüber mit einem Tisch in der Mitte. Mit unseren Büchern, leckeren Jackfruitchips, viel Optimismus und einem Eis zur positiven Konditionierung machten wir uns auf den Weg. Die erste Nacht war lang. Sehr lang. Höchstens eine Stunde Schlaf am Stück. Mein Kopf auf Franzis Schulter, Franzis Kopf am Fenster. Franzis Kopf auf ihren Armen auf dem Tisch, mein Kopf auf Franzis Rücken und andersherum. Schockiert mussten wir feststellen, dass sogar einige Fahrgäste nicht einmal mehr Sitzplätze bekommen hatten und so weite Teile der Fahrt stehen mussten.
Den Tag bekamen wir erstaunlich gut rum. Lesen hilft und auch Essen und gelegentliches Einnicken.

In der zweiten Nacht waren viele schon ausgestiegen. Wir konnten zusammengerollt auf unserer Sitzbank liegen. Später wurde es sogar so leer, dass wir sogar jede eine eigene Bank hatten und uns fast schon ausstrecken konnten. In der Nacht sind die Stunden verschwommen. In einem Rausch aus lähmender Müdigkeit und verschlafener Benommenheit wachten wir ständig aus dem Halbschlaf auf, mussten uns anders positionieren und weiterschlafen. Manchmal wusste ich beim Aufwachen nicht wie ich in die Position gekommen war, in der ich geschlafen hatte.

Weil wir bei der Ankunft in Lanzhou das Gefühl hatten noch nicht genug gefahren zu sein, gönnten wir uns lediglich eine Portion Lanzhou lamian, sehr leckere Nudeln, die auf eine bestimmte Art mit der Hand gezogen werden, sodass sie wie dicke Spaghetti aussehen und überall in China zu bekommen sind. Anschließend fuhren wir etwa drei Stunden mit dem Bus in einen kleinen Ort mit dem Namen Xiahe.

Als wir abends einen kleinen Spaziergang am Kloster entlang machten hatten wir eine sehr interessante Unterhaltung mit einem Mönch, der sehr gut englisch sprechen konnte. Er erzählte uns, dass er sowohl an der Beida, als auch an der Qinghua, zwei der renommiertesten Universitäten Chinas, studiert hatte und sich dann entschloss sein Leben dem Buddhismus zu widmen. Auf knapp 3000 m überm Meeresspiegel und unter einem klaren Sternenhimmel gehört dies wohl mit zu einem meiner schönsten Chinaerlebnissen.

Davon sollten in den nächsten Tagen auch noch einige folgen. Zum Beispiel der Anblick der unbeschreiblichen Weite in der Steppe Ganjia mit unseren Zimmernachbarn aus dem Hostel mit denen wir uns auf Chinesisch unterhielten oder das Klettern in einer stockfinsteren Höhle, in der uns ein Mönch mit Taschenlampen durch enge Gänge und über rutschige Steine hoch und runter führte oder beobachten zu können wie tief der Glaube der Menschen verwurzelt ist, die morgens im riesigen Tempel Labrang beteten und einen Pilgerweg um den Tempel herum entlanggingen.

Nach zwei Nächten fuhren wir in den kleinen Ort Lamu, der auf der Grenze zwischen Gansu und Sichuan liegt und deshalb zwei Tempel hat, einen auf Gansu-Boden, den anderen Sichuan-Boden. Dort trafen wir Johanna, die bereits zwei Wochen durch Sichuan gereist war und stiegen mit ihr und unserem chinesischen Freund aus Xiahe, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte unser Reisebegleiter zu sein auf einen Hügel, um von dort aus die Aussicht zu genießen. Wieder diese unglaubliche Weite.
Als wir Donner hörten, machten wir uns jedoch schnell auf den Rückweg. Sobald wir im Hostel ankamen, fing es an in Strömen zu regnen, sodass die nichtasphaltierte Straße zu einem großen Schlammweg wurde. Der Strom in unserem Hostel musste mit einem Generator produziert werden, aber der Ofen in der Mitte des Gemeinschaftsraumes verbreitete eine wohlige Wärme.

Von unserem Plan durch die tolle Landschaft zu reiten, mussten wir uns aufgrund des anhaltenden Regens am nächsten Tag verabschieden. Stattdessen entschieden wir, in einen anderen Ort zu fahren. Klingt einfach, könnte einfach sein, aber irgendwie hat das nicht direkt geklappt. Wir haben zu sechst ein Auto mieten wollen. Nachdem wir schon einen Fahrer auserkoren hatten, nahm unser selbsternannter Reiseführer aber in letzter Minute nach einigem Hin und Her das Angebot eines anderen Fahrers an. Wir stiegen also ein und kamen… nichtmal bis zum Ortsausgang. Unser Fahrer, der kurz nach der Abfahrt einen Anruf bekommen hatte, erklärte uns, dass er etwas erledigen müsse. Also Kommando zurück und nach fünf Minuten waren wir  schon wieder zurück am Hostel. Johanna, von der wir uns schon verabschiedet hatten, wunderte sich auch ein wenig. Wir luden also unser Gepäck in einen anderen Wagen und fuhren mit dem Fahrer, mit dem wir bereits am Anfang gepant hatten zu fahren, durch die grandiose Landschaft.
Wir kamen erst am späten Nachmittag im schönen Songpan an, aber nutzten die Zeit für einen gemütlichen Stadtspaziergang.

Die Fahrt des Grauens
Am nächsten Morgen fuhren wir mit dem Bus. Schon wieder. Wir wollten ins 8 Stunden entfernte Chengdu, wo wir am nächsten Tag Franzis Zug nach Peking und meinen nach Shenzhen kriegen wollten.
Unser frühes Aufstehen, um den Bus um 7:00 zu bekommen wurde nicht belohnt. Hier eine Chronik:
5:28 wir werden von unserem Reisebegleiter zwei Minuten vor der ausgemachten Aufstehzeit geweckt und versuchen ihm noch völlig schlaftrunken auf Chinesisch zu erklären, dass wir doch HALB ausgemacht hatten.
5:56 das WC bestehend aus einem riesigen Loch mit zwei Brettern darüber ist eine Zumutung, besonders am frühen morgen
6:30 aus Versehen habe ich Suppe mit Rinderinnereien bestellt. Es sah doch aus wie ganz normales Fleisch. Ich muss mich geschlagen geben. Ich esse vieles zum Frühstück und habe das Gericht auch schonmal gegessen, aber das ist zu viel für mich. Ich tunke das Brot in die Suppe, zu mehr kann ich mich beim besten Willen nicht durchringen.
7:00 wir sitzen im Bus. Schlafen!
9:00 ein kleiner Zwischenstopp, danach lesen
11:00 wir halten an einer Art Raststelle und fahren nicht mehr weiter. Man sagt uns, dass wir erst um 22:00 weiter können, weil die Straße wegen heruntergefallener Steine gesperrt sei
Zeit mit Lesen und Essen totschlagen
14:00 es geht weiter
15:00 wir bleiben am Ende eines ewig lang scheinenden Staus stehen. Kein Weiterkommen bis zum übernächsten Tag sagt man uns. Erstmal raus aus dem stickigen Bus. Es wird gleich viel wärmer, wenn man nicht mehr so hoch ist. Noch keine Panik, eben sind wir ja auch weitergekommen. Erstmal ins Gras setzen und abwarten. Die anderen müssen ja auch alle nach Chengdu gebracht werden. In unserem chinesischen Freund keimt jedoch langsam Panik auf. Er versucht aufgeregt irgendetwas zu regeln.
15:15 wir gehen bis zur nächsten Kurve um eine Idee der Länge des Staus zu bekommen. Wir können bis zur nächsten Kurve sehen, dahinter scheint es noch weiter zu gehen, aber es ist zu warm, um es weiter auszukundschaften. Lieber wieder zurück in den Schatten.
16:00 einige Busse und Autos wenden. Warum macht unserer das nicht? Warum scheint unser Busfahrer keinerlei Anstalten zu machen etwas an der Situation zu ändern? Gibt es wirklich nur einen einzigen Weg nach Chengdu?
16:20 wir fahren weiter, aber nur um die Lücken, die durch die wendenden Busse entstanden sind zu füllen.
16:30 unser reisebegleiter hat einen Fahrer gefunden, der uns für viel Geld nach Chengdu bringen kann und drängt uns zu einer Entscheidung. Wir haben das Gefühl, dass es egal ist wie wir uns entscheiden, wir werden sowieso denken, dass wir die falsche Entscheidung getroffen haben. Schließlich ergreifen wir die Chance- vielleicht die einzige um unseren Zug rechtzeitig zu bekommen.
16:34 wir stehen mit unserem Gepäck bereit, doch der Fahrer will eine andere Gruppe mitnehmen, die ihm noch mehr Geld bietet. Was soll das?
16:40 wir haben uns durchgesetzt und versuchen unser Gepäck unterzubringen
16:45 ohne auch nur einen Anflug von Beinfreiheit und mit Franzis Rucksack auf dem Schoß sitzen Franzi, unser chinesischer Freund und ich ganz hinten in einem Minibus mit noch fünf anderen Passagieren + Fahrer und sind auf dem Weg nach Chengdu
18:30 langsam habe ich das Gefühl, dass ich keine Luft mehr kriege. Beim nächsten Halt muss ich raus. Der Fahrer weiß nicht genau wo er lang fahren soll. Er liebäugelt mit einem sehr steilen Schotterweg. Als wir jedoch sehen, wie sich ein Jeep nur mit Mühe und Not hochkämpfen kann, entscheidet er sich dagegen und wir schlagen einen anderen Weg ein.
19:15 das Licht reicht nicht mehr zum Lesen. Uns bleibt nur noch mein iPod für die restliche Fahrt. Wie lange das auch immer sei mag.
21:15 wir fahren durch die totale Finsternis in Serpentinen einen Berg hoch. Nur vereinzelt sieht man Lichter und wir sind beängstigend langsam.
21:30 wir halten kurz. Unser Fahrer macht irgendetwas am Motor
21:35 wir halten. Aus einem Bach füllt unser Fahrer aus einem kleinen Bach neben der Straße Wasser in Plastikflaschen und aus den Flaschen in den Kühler (?). Man kann sehen, wie das Wasser aus unzähligen Löchern unten wieder herausfließt. Hatte ich erwähnt, dass wir mitten im Nirgendwo sind, unser Fahrer selbst wahrscheinlich nicht genau weiß wo wir sind und es stockfinster ist?
21:40 wir halten an einer Tankstelle, wo ganz viele Leute vor unserem Auto stehen und den Motor begutachten.
21:55 Irgendetwas scheint es bewirkt zu haben. Wir fahren wieder in normaler Geschwindigkeit. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir jetzt nicht mehr bergauf fahren.
23:52 Obwohl man seine Beine nirgends ausstrecken kann, die Rückenlehne zu kurz ist, um seinen Kopf anzulehnen und die Schmerzen in der Steißbeinregion zunehmen, will ich nur noch schlafen
3:30 wir sind angekommen. Wir haben es tatsächlich bis nach Chengdu geschafft. Sogar der Fahrer scheint erleichtert. Das hätte er vielleicht auch nicht mehr erwartet.
4:00 wir sind in einem echt coolen Hostel in Chengdu, Franzi und ich haben sogar ein Zimmer für uns allein. Der Strom funktioniert einwandfrei, die Toiletten sind sauber und es gibt fließendes angenehm warmes Wasser!
4:45 nach einer wunderbaren Dusche liegen wir! Komischerweise sind wir gar nicht mehr müde. Also checken wir unsere Emails. Ich habe die Zusage für meinen Wunschstudiengang an meiner Wunschuni. Jetzt bin ich erst Recht nicht mehr müde. Also schauen wir einen Film zuende, den wir schonmal angefangen hatten.
5:30 schlafen! In diesem himmlischen Bett. Auch wenn es nur bis 11:00 ist.

Nach einem leckeren sichuanesischen Essen heißt es auch schon Abschied nehmen von Chengdu und Franzi. Die Aussicht auf das baldige Nachbereitungsseminar macht es etwas leichter zu akzeptieren, dass unsere gemeinsame Zeit in China vorbei ist.
Dann steht mir eine einsame wieder 37 Stunden dauernde Fahrt bevor, aber zum Glück kann ich die zum größten Teil liegend verbringen.
Noch drei Tage in Shenzhen, dann nach Shanghai, dort auch nochmal drei Tage und dann geht’s schon zurück nach Hause.

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