Wir müssen über den Fußball reden… | Flamengo, Fußball und ein bisschen Wahnsinn

Samstag, 29. November: Rios größter Verein – und größter Fußballclub der Welt – gewinnt die Copa Libertadores gegen Palmeiras aus São Paulo, die Champions League Lateinamerikas. Mit Rio und São Paulo stehen sich im Stadion in Lima, Peru, nicht nur zwei große brasilianische Fußballclubs gegenüber, sondern auch zwei Megastädte, zwei Mentalitäten und zwei Lebensphilosophien. Libertadores bedeutet auf Spanisch „Befreier“ und bezieht sich auf historische und für Lateinamerika bedeutende Persönlichkeiten wie Simón Bolívar, José de San Martín oder Antonio José de Sucre, die im 19. Jahrhundert maßgeblich an der Unabhängigkeit der südamerikanischen Länder von der spanischen Kolonialherrschaft beteiligt waren.

Eine „Befreiung“ spürt man auch in Rios Straßen. Noch nie habe ich so viele Fußballfreund*innen auf einem Fleck gesehen. Jung und Alt, alle sozialen Schichten teilen die Liebe für ihren schwarz-roten Verein. Sie tanzen auf den Straßen, die leer sind. Niemand, aber auch fast niemand, fährt an diesem Tag durch die Stadt – und wenn, dann wird das Spiel im Auto natürlich mitverfolgt. Alle skandieren „Mengoooo“ oder „Eu gosto de vocêeee“ (ich mag dich), „Dá-lhe, dá-lhe, dá-lhe, ô, dá-lhe-ô, dá-lhe-ô“, um nur ein paar der zahllosen Fangesänge zu zitieren.

Ein Dude steigt auf einen kleinen Bus, der unglücklicherweise neben der Bar geparkt hat, in der etwa 500 Menschen das Spiel verfolgt haben, und tanzt auf dem Dach – eine riesige Delle entsteht. Doch das scheint niemanden zu jucken. Den Besitzer vermutlich auch nicht; ihm muss ja bewusst gewesen sein, was es heißt, sein Auto an der Straße zu parken. Alle sind in Ekstase, schreien, freuen sich, man umarmt plötzlich fremde Menschen, sagt sich, wie toll Mengo ist („Einmal Mengo, immer Mengo“). Viele werden am nächsten Tag keine Stimme mehr haben. Pyros werden gezündet, die Polizei feiert sogar mit.

Die wenigen Busse, die durchfahren, sind menschenleer; die Fahrer hupen laut und tanzen auf ihrem Sitz. Ein Motorradfahrer eines Kurierdienstes wird von einer Horde Fußballfans übermannt, sie hindern ihn am Weiterfahren, steigen auf ihn und bringen die Federung an ihre Grenzen. Es ist wirklich schwer zu beschreiben, was für ein verrückter Geist an diesem Tag durch die Avenida Nossa Senhora da Copacabana weht. Was denkt ein Tourist oder Geschäftsperson, die heute in Rio landet und durch die Straßen zum Hotel gefahren wird?

ALLE lieben Fußball. Alle feiern ihn.

Ich habe ja die Theorie, dass man in Rio nicht wohnen kann, wenn man keinen Fußball mag. Der Verkehr steht an den Fußball-Tagen still, man muss mit zweistündigen Staus rechnen. Ein eingefleischter Fan erzählte mir auch, dass viele Verlobte den Hochzeitsmonat November von Beginn an ausschließen – es könnte ja das Finale der Copa Libertadores sein. Alle reden über den Fußball – oder schreien vielmehr –, alle sind empört, feiern im Rausch. Eine Frau sitzt in der Bar ein paar Reihen hinter mir. Egal ob die Spieler den Ball auch nur mit der Fußspitze berühren, sie brüllt ein „puta que pariu“ (zu deutsch: Die Hure, die *****, mir fällt die Übersetzung nicht adäquat ein).

Doch wie kam es dazu? Fangen wir ganz von vorne an.

Ich bin an meiner Uni, ein Verkäufer hat am Eingang einen Stand mit Stickern aufgebaut. Auf ihnen stehen die Kürzel der Uni „UFF“ (Universidade Federal Fluminense, auf Deutsch etwa: Bundesuniversität Fluminense, also der Region um Rio). Was mir sofort auffällt: Nicht nur trägt der junge Mann ein schwarz-rotes Flamengo-Shirt, sondern er fragt jeden Interessierten auch, welches Team man unterstützt. Sagt man „Flamengo“, fällt der Preis. Ich bin „natürlich“ Flamengo-Fan.

Aber es stimmt tatsächlich: Als ich in Rio ankam, hatte ich wenig Ahnung vom lokalen Fußball. Als mich nach einer Woche ein Freund fragte, ob wir ins bekannte Maracanã-Stadion wollen, sage ich zu – und merke, dass ich noch keine passende Bekleidung für das Spiel habe. Also stolpere ich in einen Flamengo-Fan-Shop, die es hier in Brasilien überall gibt. Schnell komme ich mit den Verkäufern ins Gespräch und erwerbe ein schönes rot-schwarzes Trikot für das Spiel. Es wird mich auf meiner Reise noch oft begleiten.

Das Witzige an der Story ist, dass an diesem Tag auch die welcoming ceremony der Universität stattfand. Ich ging also im Flamengo-Shirt hin und erfuhr sehr spontan, dass sich alle Auslandsstudierenden (etwa 150 an der Zahl) persönlich vorstellen müssen, inklusive eines fun facts oder einer persönlichen Vorliebe. Ich ratterte also Standardinfos herunter und ergänzte am Schluss, dass ich ein großer Fan des Fußballclubs … Botafogo … sei. Wie peinlich! Und das im Flamengo-Shirt. Ich weiß auch nicht, wie ich die Teams verwechseln konnte. Alle 200 Menschen im Saal – vor allem die fußballkundigen Brasilianer – grölten, manche aus Spaß, manche aus Empörung. Auf jeden Fall war das Eis gebrochen. Und ich werde nie wieder vergessen, wie der Fußballclub heißt.

Rückblickend hätte ich sagen müssen: Ich mag das Viertel von Botafogo, aber das Team von Flamengo. Beide Teams sind nämlich nach Stadtvierteln Rios in der Zona Sul, der Südzone, benannt. Außerdem gibt es in Rio noch das „Vasco“-Team sowie Fluminense, die allesamt in der ersten Liga, aber nicht alle im Maracana-Stadion spielen. Vier Teams aus einer Millionenstadt in der ersten Liga – das muss man sich in der deutschen Bundesliga mal vorstellen. Insgesamt spielen zwölf Teams in der ersten Liga, auch das ist beeindruckend.

Das besagte Flamengo-Spiel klappte an jenem Tag nicht mehr, dafür durfte ich eine Woche später zu einem Fluminense-Spiel ins Maracanã. Fluminense-Fans sagt man nach, dass sie etwas sanfter, weniger aggressiv und elitärer seien. Fluminense-Fan zu sein bedeutet oft, der höheren Gesellschaftsschicht anzugehören. Man sieht deutlich weniger Menschen mit Fluminense-Shirts als mit Flamengo-Trikots – die man sogar außerhalb von Rio sieht. Als neulich ein Fischer aus dem Amazonas anlässlich der COP 30 in Belém interviewt wurde, trug er – wie auch anders zu erwarten – ein Flamengo-Trikot.

Die beschriebenen Szenen vom 29. November würden sich mit Fluminense-Fans wohl nicht ereignen. Trotzdem werde ich mein erstes Mal im Maracanã nie vergessen. Die Tickets sind recht erschwinglich; als Student bekommt man, wie bei vielen Aktivitäten in Brasilien, 50 % Rabatt. Die Tickets können also umgerechnet nur etwa vier Euro kosten. Trotzdem werde ich erfahren müssen, dass diese vier Euro für manche meiner Kommiliton*innen und eingefleischtesten Fußball- und Flamengo-Fans teuer sind. Wie gerne würden sie dieses Stadion einmal besuchen! Und der Gringo, der zu Besuch kommt, geht da gefühlt jede Woche hin.

Der Ticketkauf ist jedoch eine ziemliche Hexerei: Man muss zwei separate Konten erstellen, unzählige Daten angeben und sich am Ende mittels biometrischer Daten registrieren. Auf diese Art gelangt man auch ins Stadion. Das Gesicht wird kurz gescannt – und schwupps, ist man durchs Drehkreuz. Erinnert mich ein bisschen an China oder an einen Überwachungsstaat. Während man durchs Stadion läuft, knipsen offizielle Fotografen laufend Bilder. Am Tag darauf kann man sich auf seinem Profil alle Fotos anschauen und die erwerben, auf denen man zu sehen ist. Irgendwie praktisch – aber auch gruselig.

Doch unser Gevatter Datenschutz wird in Brasilien sowieso nicht so ernst genommen, jedenfalls nicht so wie in Deutschland – aber hierzu an anderer Stelle ein ausführlicher Bericht. Daran habe ich auch nicht gedacht, als ich endlich zum ersten Mal das gigantische Maracanã betrat. 80 000 Plätze beherbergt dieses Stadion, früher sogar 120 000 durch zusätzliche Stehplätze. Ich schließe die Augen und blicke in die runde, riesige Arena, in der alles lebt, alles schreit, alles vereint ist – für den kleinen Ball in der Mitte des Spielfelds, der dieses Land, ja, die Menschheit irgendwie zusammenhält. Dort oben sitzt König Pelé, dessen Name die Straße neben dem Stadion trägt, und lächelt. (Okay, das war jetzt zu viel Fußball-Kitsch.)

Ich muss natürlich sofort an das „7:1“-Spiel denken, das in diesem Stadion stattfand und ein nationales Trauma für Brasilien darstellt. Das Thema sollte man tunlichst vermeiden – es sei denn, man wird (als Deutscher!) darauf angesprochen.

Das Spiel beginnt, doch ich achte eher auf die Atmosphäre, die Gesänge. Fluminense gewinnt 2:1; als die Tore fallen, gibt es moderaten Jubel. Ich finde das Trikot sehr ästhetisch, man sagt hier „Tricolor“, auch allgemein zum Verein.

Als ich eine Woche später zu einem Flamengo-Spiel – wieder im Maracanã – gehe, betrete ich eine komplett andere Welt: lauter, verrückter, aufgedrehter. Flamengo gewinnt 8:0 gegen Vitória, einen – zugegeben – ziemlich schlechten Verein. Pyros während des Spiels, wehende Fahnen, Fangesänge das ganze Spiel über. Ein anderes Mal bin ich im „Sektor Norte“ (Nordsektor) des Stadions, wo die Fankurve sitzt. Ich habe vom Spiel nichts mitbekommen, nicht mal den Anpfiff. Zwischen immensen Flaggen, Geschrei, Pyros und einer Vielzahl an Flamenguistas (den Fans) war das ganze Stadion wie in ein anderes Licht getaucht. In der Pause gibt es ein Pagode-Konzert – wirkt fast wie ein bisschen Samba-Touch, ein Vorgeschmack auf Karneval.

Ich frage mich, etwas fies: Würden diese Menschen andere Dinge, etwa die Demokratie, auch so vehement verteidigen?

„Weißt du, Mark, in jedem Land braucht es etwas, das die Gesellschaft zusammenhält, etwas, hinter das sich jeder vereinen kann. Bei uns ist es der Karneval und der Fußball – vor allem Flamengo“, sagt ein brasilianischer Bekannter zu mir. „Brot und Spiele“, würden andere sagen (vielleicht im Römischen Reich?). Solange der Rubel rollt, die Wirtschaft läuft und die Angestellten um 6 Uhr pünktlich bei der Arbeit sind, darf und muss der Fußball als Katalysator für all die aufgestauten Emotionen fungieren. Und das nach einigen schwierigen Wochen für Rio – unter anderem durch die Mega-Operation.

Und eine andere Sache stimmt auch: Der Fußball ist hier komplett unpolitisch. Während bei uns wegen einer „One-Love-Binde“ während der WM in Katar fast ein diplomatisches Erdbeben ausgelöst wird, positioniert sich der brasilianische Fußball kaum zu politischen Fragen. Ausnahmen sind rar – etwa wenn einer der berühmtesten Fußballspieler der Welt, Neymar, in einem TikTok-Video Bolsonaro unterstützt oder zumindest dessen Wahlslogan singt. Das kann hier durchaus Kontroversen auslösen.

Es ist ja auch verständlich: Mengo ist der größte Fußballclub der Welt mit 45 Millionen Anhänger*innen. Es sind Menschen aus allen sozialen Klassen, jeglicher politischer Couleur. Politik – die Trennung in links und rechts, gut und böse – wird für 90 Minuten vergessen. Und am Ende liegen sich alle versöhnlich in den Armen: der Unternehmensberater neben seinem Pförtner, der Chef mit seiner Angestellten. Irgendwie auch ein schönes Bild.

Doch manchmal geht dieser Fußballwahn auch etwas zu weit. Als die Anhänger den Mannschaftsbus bis zum Flughafen begleitete, von wo aus die Spieler nach Lima zum Finale flogen, kamen so viele Menschen, dass man von oben, das zeigen Drohnen-Aufnahmen, gar keinen Bus mehr sah, sondern nur ein schwarz-rotes Meer. Einigen Verrückten gelang es sogar, die Notfalltür des Busses auf dem Dach zu öffnen und ins Innere des Fahrzeugs zu gelangen, wo die Spieler mit ihren Kopfhörer schliefen oder sich mental auf die Reise und das Spiel vorbereiteten. Auch am Sonntag, dem Tag nach dem Finale, tummelt sich alles im Zentrum. Eine riesige Party zu Ehren der schwarz-roten Helden wird veranstaltet!

Es ist wahrlich schwer, das Phänomen „Fußball“ in Brasilien rational zu greifen und in vernünftige Worte zu verpacken.

Auch jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, schrecke ich kurz auf: Schüsse, Lärm, Geschrei. Bei solchen Szenen muss ich kurz innehalten. Ich denke an die Mega-Operation zurück. Doch nein – es ist nur ein Tor von Flamengo.

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