Rio, 28. Oktober – Sie kamen mit voller Härte (Bericht)

Bei aller bisherigen Wertschätzung und all den Glücksgefühlen über mein Leben hier in Brasilien – all die wertschätzenden Gespräche, Begegnungen, Umarmungen und Reisen, die ich in diesem wunderbaren Land erleben durfte (Näheres hierzu später) – möchte ich heute einen besonderen Moment teilen. Es war der erste Tag, an dem ich so etwas wie Angst gespürt habe.

Mittag des 28. Oktober. Ich bin alleine zu Hause. Meine Vermieterin, eine brasilianische Schauspielerin, ist verreist. Ich also allein in dieser viel zu großen Künstlerwohnung. Ich lerne für eine anstehende Prüfung, habe mich aber als Ausgleich mit einer Freundin zum Essen verabredet, vielleicht wollen wir danach noch zum Samba. Als ich das Haus verlasse, um eine Kleinigkeit zu essen und einzukaufen, schreibt sie mir, dass Kurse wohl ausfallen – es gebe Auseinandersetzungen zwischen Drogengangs und Polizei. Ich denke mir, dass das wohl wieder Fake News sind, die hier häufig über WhatsApp zirkulieren, und drücke den Aufzugknopf. Man muss auch nicht alles immer so dramatisch nehmen.

Ich betrete die kleine Bar, nur wenige Meter von meinem Wohngebäude entfernt, hier in Copacabana. Die Stimmung ist diesmal anders. Während sonst Musik läuft oder ein Fußballspiel übertragen wird, ist davon nichts zu spüren. Alle starren gebannt auf die Fernseher. Als ich die Nachrichten sehe, vergeht mir der Appetit: Offenbar gab es eine großangelegte Operation der Militärpolizei in Rio, irgendetwas von 60 Toten. Ich höre genauer hin, alle sind aufgebracht und sprechen sehr schnell. Die Nachrichten zeigen Explosionen und brennende Häuser. Obwohl der Vergleich hinkt, denke ich: Es sieht aus wie Gaza. Und viele um mich herum sagen das auch.

Auffällig ist, wie schnell verkündet wird, dass es sich bei den Toten um „Banditen“ gehandelt habe. Gleichzeitig zeigen die Bilder Menschen, die nicht nach Hause gelangen. Autobahnen sind gesperrt, die 13-Kilometer-Brücke zwischen Rio und Niterói wird für den Verkehr gesperrt, auch die Fähren fahren nicht. Die Situation wirkt gespenstisch. Menschen kommen in die Bar und fragen den Besitzer, ob die Metro in Copacabana noch fährt. Hier ist es noch ruhig, aber mir wird mulmig. Nach all den Postkartenmomenten in Rio, den Tagen am Strand und den typischen Touri-Aktivitäten ist dies einer dieser Momente, in denen mich die traurige Realität einholt. Die Realität der Drogengewalt, des Narco-Terrorismus und der Unsicherheit.

Ich bin nicht blauäugig – natürlich war Sicherheit seit meiner Ankunft in Rio ein großes Thema. Und mir wird erneut meine privilegierte Position bewusst: In Copacabana und der Zona Sul (Botafogo, Copacabana, Ipanema, Leblon …) ist es vergleichsweise ruhig. Keine Schüsse, keine brennenden Busse, keine Straßensperren. Keine Menschen, die gezwungen sind, auf der Straße zu übernachten – abgesehen von den Obdachlosen, die zum Stadtbild gehören.

Doch woher wissen die Nachrichtensender so sicher, dass es sich ausschließlich um Drogendealer handelt? Haben die Schützen das im Moment des Abschusses eindeutig gewusst? Sind möglicherweise Unschuldige unter den Toten? Unten im Nachrichtenband steht, dass zwei unbeteiligte Passanten und ein Uber-Fahrer getötet wurden.

Ich denke an Familien, die morgens von Raketen und Schüssen geweckt wurden. An Eltern, die ihre Kinder in Schutzräume bringen mussten. Immer mehr Informationen kommen herein, ich schaue kaum noch auf meinen Teller, nur auf den Fernseher: Vor allem die Favelas in Penha und im Complexo do Alemão, eine der gefährlichsten Gegenden Rios, sind betroffen. Wohl auch die Cidade de Deus. Die Stadt Gottes. Doch Gott schien an diesem Morgen nicht da gewesen zu sein. Ich merke erneut, wie verdammt privilegiert ich bin. Sicher in Copacabana. Keine Schüsse, die mich wecken.

Penha – dort bin ich am Sonntag noch mit dem Auto entlanggefahren, ohne groß nachzudenken. In der Nähe hatte ich vor wenigen Wochen eine Schule besucht. Und nun: 75 Raketen, Bilder wie aus einem Kriegsgebiet. Wie viele Menschen heute traumatisiert wurden? Die Zahl der Toten steigt auf 64. Ich verstehe, dass die Operation seit Langem geplant war. 2.500 Militärpolizisten rückten in die Favelas ein, um die zwei größten Drogenkartelle der Stadt zu bekämpfen, darunter das Comando Vermelho („Rotes Kommando“), das ganze Stadtteile kontrolliert.

Irgendwann ist es mir zu viel. Ich gehe einkaufen, um dann schnell nach Hause zu kommen. Auch an der Supermarktkasse ist die Stimmung angespannt. Viele Menschen verfolgen die Nachrichten auf dem Smartphone. Anrufe werden getätigt, Fahrten organisiert.

Meine Universität in Niterói hat alle Kurse abgesagt; andere Bildungseinrichtungen ebenso. Viele Unternehmen schicken ihre Mitarbeiter früher nach Hause. Busse fahren teilweise nicht. Eine Freundin sitzt an der Fährstation fest. Ich muss an die Pandemie denken: Alles macht dicht. Später höre ich, dass viele Geschäfte geschlossen haben.

Ich frage mich, ob die Operation noch läuft oder vorbei ist. Niemand weiß es. Vielleicht ist die Frage naiv. Diese Polizei scheint entschieden, kompromisslos. 81 Festnahmen bisher. Ich tue mich schwer, alles einzuordnen, und hoffe nur, dass möglichst wenige Unschuldige betroffen sind.

64 Tote (letztendlich werden es 120 sein) – solche Zahlen hört man sonst nach Anschlägen. Auch wenn es hauptsächlich Kriminelle gewesen sein mögen: Die Vorstellung, dass mitten in den Alltag Militär eindringt und alles mit sich reißt, ist unheimlich. Gleichzeitig wird berichtet, dass das Comando Vermelho Drohnen eingesetzt hat, um Bomben auf die Polizei abzuwerfen. Dass Drogenkartelle über moderne High-Tech-Ausrüstung verfügen, lässt mich sprachlos zurück. Besser ausgestattet als der Staat.

Zuhause schalte ich sofort den Fernseher an. Wenig Neues. Menschen werden interviewt, die verzweifelt versuchen, nach Hause zu kommen. Der Gouverneur spricht, der Bürgermeister auch. Der Präsident ist im Ausland. Alle befürworten den Einsatz. Ich bin weiterhin ambivalent. Was ich begreife: Es war der größte und blutigste Einsatz gegen das organisierte Verbrechen seit vielen Jahren.

Während die Nachrichten ununterbrochen Bilder zeigen, schreibe ich Freunden. Und etwas Tröstliches passiert: In jeder WhatsApp-Gruppe fragt man, ob es mir gutgeht. Professoren, Kommilitonen, Freunde. Ich bekomme sogar eine Mail des Deutschen Generalkonsulats. Gut, dass ich in der Krisenvorsorgeliste des Auswärtigen Amtes (Elefand-Liste) eingetragen bin. Sie erklären kurz, was passiert ist, und wohin man sich wenden kann. Danke, Deutschland.

Ich fühle mich sicher. Aber viele tun es gerade nicht. Menschen, die in Favelas in ihren Häusern ausharren und nicht wissen, was der nächste Tag bringt.

Dieser Tag lässt mich mit vielen Fragen zurück. Ich habe erneut gespürt, wie volatil die Sicherheitslage ist und dass Gewalt und Razzien zum Alltag gehören – wenn auch räumlich ungleich verteilt. In Marseille hatte ich schon erlebt, dass ein Campus wegen Drogenhandel geschlossen wurde. Aber das hier ist eine andere Dimension.

Ich schreibe einem befreundeten Lehrer, der mit seinen Schülern im Klassenzimmer festsaß. Alle hatten Angst. Wie muss es für ein Grundschulkind sein, mit solcher Gewalt aufzuwachsen? Das hat kein Kind auf der Welt verdient. Ich schreibe ihm, traurig und wütend. Er antwortet knapp: „Mark, diese Kinder sind das schon gewohnt.“ Wie naiv-privilegiert von mir. Ich erinnere mich daran, wie sie mich vor ein paar Wochen fragten, ob Deutschland gefährlich sei. Dieses Sicherheitsdenken ist in ihren Köpfen fest verankert.

Mein Kopf rauscht. Ich schalte den Fernseher aus und versuche zu schlafen. Der heutige Tag wird mich nicht so schnell loslassen.

11.11.2025: Die Zeit ist vergangen, und der Alltag ist nach Rio zurückgekehrt. Manchmal spricht man noch über die Ereignisse. Man ist zur Tagesordnung übergegangen. Auf Social Media jagt ein Polizeivideo das nächste: Hier wird jemand ausgeraubt, da wird ein Portmonee gestohlen, dort wird ein Restaurant überfallen.  Ein gewaltiger Sturm tobte, der Bäume und Straßenlaternen rausriss, Prince William war zu Besuch (man munkelt, die Sicherheitslage sei auch seinetwegen und wegen einer Bürgermeisterkonferenz zum Klimawandel verbessert worden) und fand ein aufgeräumtes Rio vor. Aufgeräumt nach außen – aber in den Seelen der Cariocas scheint sich eine große Müdigkeit breitgemacht zu haben. Der Konflikt tobt weiter, und mit ihm wachsen Wut und Fragen. Warum mussten Unschuldige sterben? Warum begegnet man Gewalt mit Gewalt?

Ein Kommilitone sagt zu mir: „In São Paulo haben sie es doch auch geschafft, die großen Drogenbosse festzunehmen, ohne einen einzigen umzubringen.“ Angesichts der Ereignisse wurde sogar eine Prüfung abgesagt, eine sehr mutige Professorin hat beschlossen, die Stunde der unschuldigen Opfer zu widmen und uns Studierende zu Wort kommen zu lassen. Also mit „Uns Studierende“ meine ich nicht mich, da ich nicht in Brasilien aufgewachsen bin. Ich habe heute mal nichts zu melden. Wie peinlich wäre es auch, wenn ich als Gringo, der in Copacabana wohnt, meinen neunmalklugen Senf zur Sicherheitslage zu geben? Als ob ich den Locals ihre Stadt erkläre. Während dieser Stunde, die ausnahmsweise auf Portugiesisch statt auf Spanisch abgehalten wird, höre ich ganz viel zu. Und lerne. Höre von Geschichten eines Freundes, dessen Mutter ihm riet, sich immer schick anzuziehen, wenn er zur Uni fährt. Er wohnt in einer Stadt neben Niterói. Die Polizei würde, laut der Mutter, auf jemanden, der schick gekleidet ist, eher nicht schießen oder ihn nicht festnehmen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen.

Die Menschen fragen sich jetzt ständig: „Wo warst du, als die Mega-Operation begann?“ – ähnlich wie bei 9/11 (auch wenn der Vergleich hinkt). Eine Haushälterin erzählt mir, dass sie in der Nacht vom 28. auf den 29. Oktober auf der Straße übernachten musste. Ein Bus hatte die Straße blockiert. Einige meiner Freunde mussten in Niterói bei einem Freund übernachten, da die Barca, also die Fähre, nicht fuhr und die Brücke gesperrt war. Die Uni hat kurzfristig Schlafplätze zur Verfügung gestellt.

Die deutschen Medien berichteten vergleichsweise spät. Das ZDF-Heute-Format schickte ein kurzes Reel, später folgten Tagesschau und andere Leitmedien. Viele Leute schrieben mir über verschiedene Kanäle, wollten wissen, wie die Lage sei. Wieder einmal wurde mir bewusst, wie privilegiert ich war: Ich konnte allen sagen, dass es mir gut geht.

Unterdessen erhielt ich eine weitere E-Mail des Auswärtigen Amts mit dem Hinweis, dass in den kommenden Wochen weitere Operationen in weiteren Favelas geplant sein könnten – unter anderem in der Rocinha, einer Favela, die ich vor wenigen Wochen im Rahmen einer kommerziellen Tour besucht habe. Dazu habe ich inzwischen eine klare Haltung: Bei allem Bemühen der Anbieter, soziale Projekte und das „authentische Leben“ zu zeigen – es ist erschreckend, wie viele Touristen Favelas als exotisches Spektakel betrachten. Sie machen Fotos, fotografieren wildfremde Menschen und belästigen sie in ihrem Alltag. Teilweise fahren Jeeps durch die Gassen, die aussehen wie Safari-Fahrzeuge. Tropische Menschenbeobachtung wie im Zoo.

„Oh, die Armen, schaut mal, in was für Häusern die leben“, sagt Alman 1.
Alman 2 ergänzt: „Also eine Baugenehmigung haben die hier sicher nicht!“

In einer perfekten Welt gäbe es keine Favelas. Punkt.
In einer perfekten Welt könnten Kinder auf den Straßen spielen, ohne Angst, erschossen zu werden – wie die kleine Ágatha vor ein paar Jahren.
In einer perfekten Welt würde nicht alle zehn Sekunden ein Handy auf der Straße gestohlen, um anschließend auf Märkten in den Favelas verkauft zu werden.
In einer perfekten Welt stünden keine Sechzehnjährigen mit Maschinengewehren an den Eingängen ganzer Stadtviertel.

Rio hat weitergelächelt, doch das Lächeln sitzt seither ein wenig schief.

 

 

 

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