Vor kurzem las ich zwei sensationnelle Bücher, die mich seitdem nicht mehr loslassen.
Sie beschäftigen sich mit den Fragen, die mich seit jeher umtreiben: Wer bin ich? Inwiefern bestimmt meine Migrationsgeschichte mein Sein? Gibt es Weiß-Sein? Bin ich weiß genug?
Im Folgenden will ich die Bücher kurz, knapp und kritisch besprechen, ehe ich meine eigenen Gedanken mit der Rezension verknüpfe:
Identitti ist ein blogartiger Roman aus hochaktuellen Schnipseln deutscher Gegenwartsdebatten: Nivedita Anand betet ihre Professorin in Postcolonial Studies an, die in Dupatta auftritt, zahlreiche Bestseller über Rassismus, Postkoloniale Theorie geschrieben hat und eine indische Herkunft vorgibt. Ihr Name: Saraswati (mit sch!). Wie eine indische Gottheit. Wie ein Mantra. Man braucht keinen Nachnamen. Nur ein Problem: Sie heißt eigentlich Sara Vera und ist Zahnarzttochter aus Karlsruhe.
Dschinns führt achterbahnartig durch die Biographien der fünf Hauptcharaktere der Familie Yilmaz (?). Was alle vereint: Der Tod. Vater Hüseyin stirbt just, als er den Schlüssel seiner Eigentumswohnung in Istanbul ausgehändigt bekommt. Nach dreißig Jahren Arbeit in der Fabrik schmerzen die Knochen, von der Seele ganz zu schweigen. Auf einmal müssen alle zur Beerdigung – und haben Gelegenheit, die Widersprüche und Lebenslügen der Familiengeschichte aufzudecken. Oder eben nicht?
Beide Bücher erzählen mit Tempo, Witz und einer ziemlichen Gelassenheit über die deutsche Heuchelei, die Marginalisierung von Randgruppen und dem Wunsch nach Selbstbestimmung.
Während Identitti sozusagen die Aufsteigerbiographie anders herum erzählt (Saraswati hat ihren Status auch deshalb, weil sie nicht-weiß ist), legt Dschinns den Finger in die deutsche Wunde und erzählt Schicksale, wie sie sich zu tausendfach in Deutschland abgespielt haben: Gastarbeiterfamilie tritt auf deutsche Kälte. Die Menschen, die dieses Land nach dem 2. Weltkrieg mit aufgebaut werden, werden mit brennenden Flüchtlingsheimen (Mölln, Lichtenhagen) und einer Verachtung konfrontiert, die sich etwa darin bemerkbar macht, dass der Fußballtrainer von Hüseyins Sohn Ümit eine Bibel in türkischer Übersetzung mit nach Hause geschickt bekommt. „Ganz unten“ titelte einst Günter Wallraff, als er mit verdunkelten Pupillen als verkleideter türkischer Gastarbeiter in die Abgründe der deutschen Gesellschaft stieg. Ich muss immer daran denken, wie diese Biographien unser Land bis heute prägen. Menschen, die Fleiß und Loyalität gegenüber ihrer neuen Heimat über alles Andere stellten.
Das ist auch ein Aspekt, den ich an Dschinns schätze und in Identitti vermisse: Das Bodenständige, der Wert von Familie, Anstand und Respekt. Identitti verliert sich oft in akademischem BlaBla, Saraswati braucht gefühlt zehn Jahre, um ein Geständnis abzulegen. Stattdessen wird eine Nivedita eindrücklich als zerrissen beschrieben – einerseits loyal ihrem größten Vorbild, anderseits auch voller Fragen und Zweifel. Kali, die indische Göttin, begleitet den Leser ständig als Niveditas Gewissen. Die Art und Weise, wie diese Gottheit zur narrativen Instanz transformiert wird, verdient Hochachtung – kein Wunder, dass Mithu Sanyal für den Buchpreis im Jahr 2022 nominiert wurde.
Ich kann mich mit Nivedita insofern identifizieren, als dass ich mir schon oft die Frage wie sie gestellt habe: Wie „ausländisch“ bin ich eigentlich? Bin ich deutsch genug oder mexikanisch? Mir ist bewusst, dass diese Frage aus heutiger Perspektive problematisch sein kann Bzw. der Identitätsbegriff kein statischer ist, sondern ein Potpourri aus verschiedenen soziobiographischen Aspekten, die mich geprägt haben. Aber ich fühle mit Nivedita, wenn sie sich fragt: „Wie braun bin ich eigentlich“? Auch ich habe mich dabei ertappt, dass ich mich in meiner Eitelkeit frönte, aus einem relativ „exotischen“ Land zu kommen. Ich war und bin schon immer stolz auf meine beiden Identitäten. Gott sei Dank habe ich in meinem Leben noch nie eine rassistische Erfahrung machen müssen (und die immergleichen Kommentare, ob ich als Mexikaner Drogen besorgen könne, zähle ich nicht mit rein). Ich war immer stolzer auf meine mexikanische Identität als auf die deutsche – auch, weil in Mexiko ein anderes Verhältnis zum „Vaterland“ (auch dieser Begriff ist in Deutschland – zu recht! – kritisch zu betrachten). Wir können es uns als Deutsche aus Respekt vor unserer Vergangenheit nicht leisten, am 3. Oktober fahnenschwenkend durch die Straßen zu laufen. Und das ist auch gut so. In Mexiko sieht man zum 15. September an jeder Ecke Mexiko-Medaillen, Fähnchen, Flaggen und sonstigen Nationalkitsch. Der Katholizismus, die Traditionen, Folklor, Essen hält dieses Land irgendwie zusammen – der Zentralismus über die Hauptstadt Mexiko-Stadt tut auch sein Übriges. Hier ist Deutschland durch den Föderalismus und die regionalen Besonderheiten anders geprägt. Aber gut, ich schweife ab.
Man will ja immer das, was man nicht hat. Da ich in Deutschland sozialisiert bin und den Großteil meiner Schulbildung hier genossen, war Mexiko immer der sonnige Sehnsuchtsort, wo Familie und Freund*innen warteten. Nivedita will auffallen – sie will sich ihre Identität über ihre Andersartigkeit konstruieren – und über ihr PoC-Sein, wobei auch sie zum Schluss kommt, dass sie auch nicht richtig PoC ist. Hier hätte ich mir mehr Auseinandersetzung mit ihrer eigenen (Familien-)Biographie gewünscht. In Ihrem Wahn und Bewunderung für Saraswati bleibt sie oft recht blass.
Auch ich habe oft gemerkt, wie ich mich hinter meiner Herkunft Mexiko verstecken wollte – selbst, als ich mit deutschen Touristen in Mexiko-Stadt kein Deutsch reden wollte. Ich habe mich zeitweise eher als Mexikaner gesehen, was zur traumatischen Erfahrung führte, als ich zum Spiel Deutschland gegen Mexiko zur WM 2018 in Mexiko-Montur ging – als einziger im deutschen Biergarten. Die Reaktionen waren entsprechend…
Der hochbrisante Punkt an Identitti ist jedoch, ob Identität in Form von race wie ein Kleidungsstück angezogen werden kann. Der Knackpunkt ist bei Saraswati, dass sie sich in ihrer akademischen Karriere Glaubwürdigkeit verschaffen will, in dem sie ihre Privilegien als Zahnarzttochter ablegt. Sie beschreibt stets, dass sie es im Auftrag der unterdrückten Minderheit getan habe und daher durch eine Art Hölle gegangen sei. Diese Argumentation ist sehr fragwürdig und wird eigentlich nur von Oluchi, einer Nebenfigur und Anführerin der Proteste gegen sie, in Frage gestellt. Eigentlich hätte ich ein konfrontatives Statement in all seiner Klarheit von Nivedita erwartet, die ja tagelang in Saraswatis Wohnung vagabundiert.
Die Frage, die sich mir und vermutlich anderen Leser*innen stellt, lautet: Wäre Saraswati auch ohne diese Rolle so erfolgreich geworden? Sie ist und bleibt ja eine ausgezeichnete Wissenschaftlerin und Expertin…
Aber wie gesagt: Saraswati bleibt uns Antworten zu ihrem Werdegang schuldig. Was dieses Buch aber genial macht: Twitter-Verläufe, Facebook-Einträge und Ticker-Meldungen im Stile von bekannten Persönlichkeiten wie Ijoma Mangold oder Ruprecht Polenz nachzuzeichen – klugerweise mit Genehmigung der realen Persönlichkeiten. Dadurch besitzt man beim Lesen das Gefühl, einem realen Diskurs über den Fall Saraswati zu folgen. Die Erzählschleife am Ende zu Hanau 2020 ist angebracht, wirkt aber etwas künstlich herbeigezeugt.
Zurück zu Dschinns: Eine identitätspolitische Auseinandersetzung findet hier nicht statt, aber Dschinns schafft trotzdem Großes: Das Unausgesprochene in Familien aussprechen zu lassen. Die Kränkungen, Verzichte, Ängste, Nöte, die sich durch eine Migrationsgeschichte ergaben. Der Entzug von Rechten, die Untedrückung der Frau (v.a. Bei Sevda), die Bevorzugung der jüngeren Kinder, ein unausgelebtes Coming-Out bei Ümit, das Aufeinanderprallen von studentischer Ideologie und konservativ geprägten Familienwerten, wie sie Perihan erlebte. Jede Figur trägt Dschinns, also böse Geister, mit sich herum, die sich am Ende in einem fulminanten Spektakel entladen (mehr verrate ich hier nicht!).
Durch die wechselnde interne Fokalisierung stellt sich natürlich die Frage, ob nicht die Dschinns der Figuren selbst die Geschichte erzählen. Hochspannend auch die Thematisierung und Tabuisierung der kurdischen Herkunft der Familie (zuhause in Deutschland wurde kein Kurdisch mehr gesprochen), die sich im Verlaufe der Handlung als Kernkonflikt herauskristallisiert. Es geht also doch irgendwie um Identität, eine Familienidentität durch die Perspektive aller Familienmitglieder.
Bei all diesen Stärken bleibt jedoch auch kritisch anzumerken, dass insbesondere die Figur des Hakan sehr stereotypisiert gezeichnet ist. Natürlich fährt er im Sportwagen in die Türkei, heizt über bayrische Autobahnen und wird von den Polizeibeamten rassistisch angegangen. Auch seine fragile Männlichkeit (nach außen gibt er den Proll) wirkt etwas überzeichnet. Aber naja, gut, dass Sevda im Gegenzug am meisten Raum erhält. Sie ist eine Figur, zu der man aufblickt. Kein Wunder, dass das finale Wortgefecht ihr und der Mutter gehört, während der Rest der Familie spontan nach Antalya an die Küste fährt – mit Hakans Auto, also besitzt er doch eine Funktion.
Mit Dschinns konnte ich mich nicht so identifizieren wie mit Identitti, einfach aus meiner Biographie heraus, aber trotzdem habe ich in jeder Zeile mitgefiebert, war live dabei, als Sevdas Wohnung brannte, als Hüseyin seinen Sohn anschrie, weil er mit Graffitis gesprüht hatte. Dieses Buch weckt auf und führt uns exemplarisch ein Gastarbeiter-Beispiel vor Augen, die unser Land durch unermüdliche Arbeit vorangebracht hat – ohne Rücksicht auf familiäre Verluste. Dschinns zeigt, wie stark wir Menschen durch unsere familiäre Sozialisation und unsere Geister, also kulturellen Vorstellungen und Traditionen, beeinflusst werden. Es zeigt aber auch, wie wir uns davon lösen können.
Identität – es bleibt ein bisschen „alles oder nichts“ und ist hochkomplex zu definieren. Aber zumindest sehe ich nach diesen Lektüren in diesem Dschungel etwas klarer und blicke aus zwei Perspektiven darauf: Aus der Familie und dem akademischen Elfenbeinturm.
Wer oder was sind wir? Auch das, was wir lesen.