Ich habe das Gefühl, je mehr passiert, je mehr Unsicherheit über mich hereinbricht, je mehr die Pandemielage meinen Alltag einschränkt, desto mehr klammere ich mich an Esslingen. Menschen wähnen sich in ungewissen Zeiten an Bekanntes, Vertrautes, Sicheres.
Esslingen ist meine Heimatstadt. Sie ist aber mehr als das. Und keine Angst, ich verfalle jetzt in keinen Lokalpatriotismus. Da ich nur die letzten neun Monate in dieser Stadt verbracht habe, war es Zeit, die Beziehungen zu diesem Ort zu überdenken – jener Ort, der mir so viel gegeben und nichts genommen hat.
Jetzt folgt der Satz des Jahres: Eigentlich sollte ich ja aktuell in Brasilien sein. Kinder beim Deutschlernen helfen, Amazonas genießen und so. Wenn ich manchmal die Augen schließe, spüre ich die Schmetterlinge auf meinen Schultern landen. Ich höre die dumpfen Rufe eines dicken Marktverkäufers, der sich die Seele aus dem Leib schreit, der Geruch nach frischem Fisch und ja, weiß Gott, auch eingelegten Delfinpenissen, die es auf dem Markt gibt. Mein Sportshirt ließe sich minutenlang auswringen, in meinen Flipflops hat sich ein Steinchen verirrt, das nun unaufhörlich ein Loch in meinen dicken Zeh bohrt. Meine Füße sind schmutzig und das ist auch gut so. Um mich herum irren tollkühne Taxis, Taxi, Taxi, von den Dächern fallen Cashewnüsse. Keine Masken-träger weit und breit zu sehen. Die Schule ist rötlich angestrichen, vergilbte Farbe, aus dem Pförtnerhäuschen lugt ein verschmitzter Herr mit Baseball-Cup hervor, er wünscht mir einen guten Tag. Ich bin ja der Neue. Im Klassenzimmer fasse ich an nasse Kreide. „Konjugation der regelmäßigen Verben“ hallt es kühl in den klimatisierten Saal. Mehrere Finger schnippen in die Höhe. Wie ist es denn so in Deutschland? Was machen die Menschen den ganzen tag? Bauen sie den ganzen Tag Autos? Esst ihr echt Wurst?
Im Autobauerland ist es sehr still. Ding Dang Dong. Die astronomische Uhr am Rathausplatz zeigt Mitternacht an. Liebsamen Glockenklänge erstrecken sich von den Weinbergen bis ins Neckartal. In Stuttgart zuckt wahrscheinlich ein besorgter Bürger mit den Schultern. In den mittelalterlichen Fachwerkgassen weht der Duft nach echter Freiheit. Ohne zu murren folge ich meinem Instinkt: Erst über die Agnesbrücke hin an den Wehrneckarkanal. Keine Maskenträger weit und breit. Lediglich ein kleines Tröpfchen Licht leistet mir Kompanie. Eine fette Ratte hat sich ein Stückchen Brot vom Straßenrand geschnappt und verteidigt es vehement. Ja, auch das ist Esslingen und das ist auch gut so. Am Pflaster kann man leicht stolpern, also irre ich weiter, ja jogge sogar! Ich will meine Stadt schließlich kennenlernen. Am Hafenmarkt packt mich dann das schlechte Gewissen: Hier sollte der alljährliche Mittelaltermarkt stattfinden. Eine Menge Mitleidiger durch Massen an mehr Menschlein gedrängt. Winterstiefel aus aller Welt drücken auf das restaurierte Kopfsteinpflaster. Noch ein Glühwein hier, noch ein Pünschchen da.. Lachen, angeregte Gespräche, ja, wir waren dieses Jahr sogar in Spanien! Irgendwoher schallt es „Jingle bells“, es bleiben aber single bells, der weihnachtliche Duftton aus Esslingen übertrifft sogar weichgespülte Melodien aus den USA. Das sind die Momente, an denen man sich freut, Esslinger zu sein. Mandarinenduft, Rentierhörner, man hat alle Hausaufgaben brav gemacht und freut sich auf das Rumliegen und Glotzen, gepaart mit fettigem Essen. Mit Verwandten, die man besucht.
Das hat mir dieses Jahr noch gefehlt.