Fica tudo bem?! Eingesperrt in der alten Wirklichkeit oder: Ein paar Post-Brasilien-C*r*na-Gedanken

So, tach Leute. Heute mal keine Begrüßung auf Portugiesisch, denn, ist ja klar wie Kloßbrühe, ich bin nicht dort. Inzwischen ist ein Monat vergangen und ich hatte die „Ehre“, wieder bei meinen Eltern einzuziehen. Der Gedanke, dass ich vor vier Wochen noch durch brasilianische Straßen schlenderte und die stille Hoffnung im Rucksack trug, dass alles irgendwie durch magische Umstände, dem Stopp einer globalen Pandemie und ein seeeehr nettes kulturweit-Team klappen könnte, fühlt sich mittlerweile surreal an. Covid-19 (ich kann den anderen NAMEN EINFACH NICHT MEHR HÖREN)  hat mich eines Besseren belehrt.

Daher fiel es mir gar nicht so leicht, dieses Medium mit ein paar „Post-Brasilien“-C*r*na-Gedanken zu füttern wie ein hungriges digitales Haustier. Und ja, dieser Blog ist so etwas wie mein kleines Haustier geworden. Ich werde versuchen, ihn am Leben zu erhalten und ihn mit Beiträgen, Texten und Gedankenreisen regelmäßig zu füllen.

Zurück zum Thema: Das Schlimme war gar nicht die Rückkehr aus Brasilien, die Absage des freiwilligen sozialen Jahres, der Abschied von Belém oder die gestorbenen Hoffnungen, sondern das mentale Ankommen in Deutschland – das Betreten eines Hauses, das ich für ein Jahr nicht mehr betreten sollte, das Telefonieren mit 1000 Leuten, denen ich erstmal erklären musste, warum ich jetzt doch nicht im Land der Tropen bin, sondern back in my old hood.

Und, obwohl es viele meiner Verwandten, Freunde & Familienangehörige sicherlich gut meinten, es gibt so einige Phrasen, die ich des Öfteren zu hören bekam und die mir NICHT, überhaupt NICHT weiterhalfen, sondern eher das Gegenteil bewirkten: Enttäuschung und ja, sogar etwas Wut.

Eine sehr, sehr liebe kulturweit-Freundin hat in ihrem Blog ein „Bullshit-Bingo“ gemacht – mit nettgemeinten, aber total unproduktiven Sätzen, die uns in dieser Lage ÜBERHAUPT NICHTS bringen.

Etwas Ähnliches möchte ich hier auch machen.

Beispiele gefällig?

Kurz vor meinem Abflug in Brasilien bekam ich eine Whatsapp-Nachricht meines Vaters:

„Bei meinen Spaziergängen werde ich von Leuten nach Dir angesprochen… alle geben uns ihr Mitgefühl.. […] Du kannst allen wieder Nachhilfe geben .. […] Ich dachte, diese Nachricht würde dich ein bisschen trösten. 

So sehr ich meinen Vater liebe und diese gutgemeinte Geste schätze, diese Nachricht hat mich ÜBERHAUPT nicht getröstet. Zur Info: Ich gebe jetzt seit knapp fünf Jahren Nachhilfe – und irgendwann will man auch etwas Neues ausprobieren. Ich hatte mich von allen meinen Nachhilfeschülern verabschiedet, mit dem heimlichen Hintergedanken, mich in mein Abenteuer Brasilien zu stürzen und endlich mal selbst in den Unterricht in Brasilien zu schnuppern statt Nachhilfe zu geben (worauf ich mich soo gefreut hatte!!). Und jetzt soll ich all das über Bord werfen und wieder bei denselben Leuten anfangen? In mein altes Leben exakt so zurückkehren, wie ich gegangen bin? – Nein, wirklich nein danke! 

Als eine Art Gegenreaktion verließ ich mein Haus für eine Woche nicht – ich hatte ehrlich gesagt keinen Bock auf Nachbarsgespräche über den Gartenzaun à la „Ach, Mark, was machst Du denn hier? Ich dachte, du bist in Brasilien?“ –  [kurze Mark-Erklärung, warum dieser Traum jetzt vorerst nicht geklappt hat] – betroffenes Lächeln. „Ach, das ist doch kein Problem. Du wirst sicherlich noch zurückkehren können“ – Ein aufgesetztes Fake-Lächeln meinerseits.

Oder: „Maaark, du armer, dein Vater hat uns ALLES erzählt. Unglaublich, was passiert ist? Aber jemand wie Du, findet schnell etwas Neues und wird sich irgendwo anders engagieren“. 

Wieso können sie alles wissen? Wissen sie, wie schön es in Belém war? Wissen wie, in welcher Unsicherheit ich dort sechs Tage lang gelebt habe? Ob ich gehen oder bleiben darf? Wissen Sie, wie es sich anfühlt ein ganzes geplantes Jahr über Bord zu werfen?

Sie wissen nur: „Mark ist nicht in Brasilien wegen Corona“. Und dann versuchen sie, so empathisch wie möglich zu reagieren. Ich will es ihnen wirklich nicht übelnehmen, weil es zum Teil Menschen sind, die ich sehr mag.

Ich habe meine Eltern angewiesen, meine Ankunft gegenüber Bekannten so geheim wie möglich zu halten. Ich wollte keine geheuchelten Beileidsbekundungen. Aber irgendwann sprachen mich immer mehr Leute darauf an und ich teilte es über die sozialen Netzwerke mit. Hier bekam ich Kommentare wie: „Schade, aber schön, dass du sicher zuhause bist. Hier ist es besser und sicher!“

Und ich sage euch, die Gespräche oben sind nicht fiktiv, nach vier Wochen war ich jetzt einige Male draußen, und ich habe solche Gespräche mit Nachbarn und Bekannten mindestens 10x geführt. Am besten sind immer noch die Leute, die das mit Humor nehmen wollen und Dinge sagen wie „Ziemlich kurzes FSJ, was?“ (lacht)

Was soll ich darauf antworten? 

Auch als ich neulich eine Nachbarin traf und diese mir mitteilte, dass sie sich soo freuen würden, mich wieder als Nachhilfelehrer zu haben (Zitat: „Wir rechnen fest mit dir“) und mir sogar ein Job anbot. Ich wusste gar nicht, was ich sagen soll.

Und ja, es schmerzt, aber ich muss es nochmal zur Sprache bringen: Ich bin nicht mehr in Belém. Ich werde kein freiwilliges soziales Jahr in Brasilien machen. Ich werde nicht in der Schule sein und mit Tiago und den Kindern arbeiten.

So, jetzt ist es raus. Seufz.

 

Ein kleiner Trost jedoch: Ich habe in der vergangenen Wochen – neben langen Umarmungen und wohltuenden Telefonaten mit wundervollen Menschen –  aber auch Sätze gehört, die mir Mut machen und die tatsächlich in mir etwas bewirkten:

„This really sucks man, I can imagine you really looked forward to it. I hope you get through these times unscathed“. 

Das ist EMPATHIE. Wir haben auf dem Vorbereitungsseminar soviel darüber gehört – wie wichtig es ist, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und ihre Gefühle zu verstehen.

Ich glaube, viele Menschen können sich einfach nicht vorstellen, was es heißt, wenn sich alle ihre Träume, Pläne und Erwartungen für ein Jahr auflösen – noch dazu an einem Ort, der im Vergleich zu ihrem Wohnort unterschiedlicher nicht sein könnte. Ich bin 19, habe mein Abi gemacht, zwei Praktika absolviert und wollte endlich raus von zuhaus – frei sein: von Zwängen, Konventionen, den immergleichen Leuten.

Ich habe drei Ehrenämter fallengelassen, Projekte beendet und sogar den Vorsitz eines Vereins abgegeben, den ich mit gegründet hatte. Und nun bin ich wieder da und habe nichtmal das wieder.

Anderseits: Ich bin frei. Und kann tun, was immer ich will.

Aber ich bin eben nicht in Belém.

Stattdessen sitze ich in meinem Zimmerchen wie vor der Reise, höre die immergleiche Musik, esse das immergleiche Essen und bin umgeben von der immergleichen Leuten.

Neulich saß ich im Wohnzimmer und zappte mich durch das Fernsehprogramm um 1-Uhr-morgens (was ich sonst nie tue). Ich blieb auf dem Musiksender „Deluxe Music“ und mir wurde das Musikvideo von „Dance Monkey“ präsentiert. Ich weiß, dass viele dieses Lied mittlerweile extrem nervig finden. Ich habe aber einen emotionalen Bezug zu diesem Lied. Kleine Story: Ich saß im Flixbus auf dem Weg zurück von München nach Stuttgart. Ich war den ganzen Tag in München gewesen und hatte mich mit schier endlos scheinender Visa-Bürokratie geplagt. Nach langen Diskussioenn mit dem Konsulat um fehlende Dokumente hatte ich das Gebäude mit rotem Kopf verlassen, um nach Brasilien zu telefonieren und die Dokumente zu besorgen (ehe mir auffiel, dass es zu diesem Zeitpunkt 5 Uhr morgens in São Paulo war). Als ich wieder hinaufwollte, war das Konsulat schon geschlossen – und alle meine mühsam besorgten Dokumente gleich mit drin. Ich ärgerte mich, zweifelte, ob ich es denn bei diesen konsularischen Hürden überhaupt noch nach Brasilien schaffen würde. Am Ende ging ich mit einer Münchner Bekannten entspannt mittaggessen, um Dampf abzulassen und war später mit einer anderen Freudin auf dem Weihnachtsmarkt. Insgesamt also doch ein rundum gelungener Tag. Ich saß jedenfalls im Bus und das Busradio (ich saß ganz vorne beim Fahrer) spielte genau dieses Lied. Ich lächelte und steckte alle meine damaligen Hoffnungen, Freuden, Ängste und Unzulänglichkeiten in Bezug auf das kommende Auslandsabenteuer in dieses fucking Lied. Es war Dezember. Am nächsten Tag erzählte ich meinen lieben Kolleginnen im Praktikum von dem Visumsabenteuer. Sie alle, und auch wirklich alle Menschen , mit denen ich das ganze halbe Jahr zu tun hatte, hatten mir Glück gewünscht. Der Visumsantrag dauerte danach zwar noch ein kleines bisschen und kostete mich ein klitzekleines My meiner Nerven, aber dann, Ende Januar, hielt ich das kleine Stückchen Papier ENDLICH in meinen Händen. Das Ticket in die Freiheit, dachte ich mir. In unserer internen Whatsapp-Gruppe hatten wir uns zu den Visumsproblemen schon gegenseitig unterstützt, beraten und Mut zugesprochen.

Noch drei Monaten sollten vergehen, ehe ich aufbrach. Nur um nach einer Woche wieder zurückgeschickt zu werden.

Diese Story und vor allem dieses Lied stehen exemplarisch für die neunmonatige mentale und physische Vorbereitung, die Mühen, die Nerven, die Abschiedsgespräche, das Aufgeben des alten Lebens.

Ich hörte also dieses Lied im Fernsehen. Und gerade, während ich diesen Text verfasse, höre ich es auch. Immer und immer wieder. Und die ganzen Gefühle kommen wieder hoch.

Und verdammt noch mal, ich will in kein Loch fallen. Die ganzen letzten Wochen habe ich versucht mich abzulenken: Sport gemacht, an diesem Blog herumgebastelt, um meine Brasilien-Woche so literarisch wie möglich aufzubereiten (*hust*), mit Freunden telefoniert, sogar gemalt habe ich. Alles schön und gut.

Mein Kopf und mein Geist turnen irgendwie immer noch in Brasilien herum. Ich habe wirklich eine Woche gebraucht, um meinen braunen Reisekoffer auch nur anzufassen. Und dann habe ich alle Klamotten, egal ob schmutzig oder sauber sofort in die Waschmaschine geworfen (liebe Umwelt, verzeih es mir dieses Mal!). Ich wollte mir das einzelne Auspacken jedes Kleidungsstücks, das Betrachten und Riechen daran („Das hätte ich sicherlich am Strand in Belém angezogen“) ersparen. Koffereinpacken und Kofferauspacken hat sowas fucking Symbolisches. Jedenfalls habe ich den letzten Wochen ausschließlich brasilianische Musik gehört, sogar Reis mit Bohnen (und natürlich farofaaa) gekocht. Mir zwei neue Bücher, natürlich über Brasilien bestellt, samt Tapioca und Maniokstärke. Mit einer Mitfreiwilligen auf Portugiesisch telefoniert. Und nicht zu vergessen: Alle zwei Tage eine neue Lektion Portugiesisch gepaukt. Ich wollte mit meinem Buch eigentlich vor der Abreise durch sein, aber vergebens. Zu faul, zu wenig Zeit.

Manchmal denke ich, ich mache das alles nur, um eines Tages wie von wilden Geistern aufgeweckt aufzustehen, meinen Koffer in die Hand zu nehmen und direkt in ein Flugzeug nach Südamerika zu steigen. Oder um für den Fall, dass mir Gott oder eine ominöse Gestalt mitteilt, dass die ganze Welt nur gerettet werden könne, wenn ich augenblicklich nach Brasilien abhaue, perfekt vorbereitet zu sein.

Jetzt denken sich bestimmt viele: Ja Mark, wieso heulst du dann hier rum? Du machst doch was draus. Ja. Ich habe versucht, mich ein bisschen davon abzulenken. Ich denke diese ganze Routine, die ich jetzt habe (um halb elf aufstehen, joggen gehen, frühstücken, eine Stunde in die Sonne legen, schreiben/basteln, Workout, lesen, Abendessen, Film/Netflix) ist/war eher ein Verdrängungsmechanismus. Jeder Tag hat seine feste Struktur. Wenn ich meine neue Bossa-Nova-Playlist anmache und die Augen schließe, entkomme ich für ein paar Sekunden aus dieser Struktur und ich stelle mir vor, wie ich, an einer Caipirinha nippend, an der Copacabana liege und alle Sorgen um mich vergesse. Ich wäre sicherlich gerade im dreimonatigen Urlaub und hätte es mir in einem kleinen, aber strandgelegenen Airbnb gemütlich gemacht. Abends würde ein Sambakonzert in Rios Stadtteil Leme rufen, danach noch mit meinen neuen brasilianischen Rio-Freunden auf einen Absacker in einen Funk-Club, ehe mich dann eine tropische Sanftheit wieder zurück an den Strand geleitetet, wo wir die ganze Copacabana für uns allein haben und um 5 Uhr morgens den Sonnenuntergang erleben. Ich hätte beim Anblick der Sonne an mein vergangenes Leben gedacht, was für eine großartige Entscheidung es doch gewesen sei, nach der Schule ins Ausland zu gehen. Was für tolle Erfahrungen und Bekanntschaften ich doch in Belém gemacht hätte. Ich hätte auch an unser Zwischenseminar in Argentinien gedacht. Wie schön es doch war, alle meine fantastischen Mitfreiwilligen und unseren Trainer zu treffen und von ihren Berichten in São Paulo, Salvador, Três de Maio, Paraguay und Uruguay zu hören. Wir hätten ein lustiges Spiel namens Mörder gespielt, wären abends in eine landestypische Kneipe gegangen, hätten gelacht, getrunken, gefeiert. Ach, wie schön hätte alles sein können.

Eine Freiwillige, die ein halbes Jahr in Brasilien war, hat das so ähnlich erlebt. Und ich war, ich kann es nicht anders sagen, neidisch. Vor allem in Bezug auf die gemeinsamen Reisen. Wir hatten innerhalb der Gruppe schon Pläne geschmiedet, wie wir uns alle an den Iguaçu-Wasserfällen treffen, da diese an einem strategisch günstigen Punkt an der Grenze Brasiliens, Argentiniens und Uruguays liegen.

Und trotzdem: ich bin angesichts der Situation extrem dankbar, dass ich wenigstens am Zielort war. Es ist wie bei einem Hund, der einen super saftigen Knochen hingeworfen bekommt, dieser ihm aber sofort wieder weggenommen wird. Zwar sehr bitter und gemein, aber der Hund kam wenigstens in den Geschmack des köstlichen Knochens. Er hat daran geknabbert, auch wenn es nur ein paar kleine Bisse waren. Auch ich habe an Brasilien geknabbert, ich habe einen Vorgeschmack von meinem FSJ erhalten.

Gerade deshalb bin ich wie besessen von diesem Land. Von anderen Freiwilligen, die nicht ausreisen konnten, höre ich, dass sie gerade absolut gar nichts mit ihrem Einsatzland zu tun haben möchten. Das ist absolut verständlich und mir würde es wahrscheinlich ähnlich gehen.

Und was mache ich jetzt?

Das ist eine schwierige, aber berechtigte Frage. Jegliches Planen in mehr als eine Woche im Voraus gestaltet sich gerade sehr schwierig – unter anderem was Reisen, Beschäftigung und Studium angeht. Man weiß nie, welche Vorschrift als nächstes umgesetzt wird. Als ich am Freitag, den 21.03. in Deutschland ankam, wurde just genau diesem Sonntag das Kontaktverbot verhängt. Schade, dass ich dieses Wochenende zum Schlafen und „Runterkommen“ gebraucht habe, sonst hätte ich die letzten Tage zum Auskosten des „normalen“ Lebens nutzen können. Diese Ausführung ist mit einem kleinen Augenzwinkern zu lesen, zumal ich ja in sieben Tagen fünfmal an Flughäfen war und ich somit leicht zur Virenschleuder hätte mutieren können.

Wisst ihr noch damals, als es legal war, sich mit mehr als zwei Freunden zu treffen? Dass ich diesen Satz einmal sage. Er klingt sonst so nach Diktatur und Repression.

Hätte mir noch im Dezember irgendein Vogel gesagt, dass man sich auf eine weltweite Viruswelle vorbereiten müsse, die aus China kommt und die ganze Welt still legt, ich hätte diese Person für verrückt erklärt und ihm einen „Vogel“ gezeigt.

Und heute laufen alle mit Masken rum. Vor zwei Wochen war in einkaufen und war echt erschrocken, von dem Klima, das ich dort zu spüren bekam. Die Menschen schauen sich nicht mal mehr in die Augen, als könne man durch zweisekündigen Blickkontakt das Virus übertragen. Die Gesellschaft ist irgendwie kälter geworden. Zumindest zum Teil. Auf der einen Seite gibt es die, die Nächstenliebe zeigen, Nachbarschaftseinkäufe erledigen, in Supermärkten aushelfen und den Laden am Laufen halten, auf der anderen Seite die, die jene Läden ausplündern, das weiße Gold für den Gesäßbereich hamstern und Menschen auf der Straße aus Angst vor einer Infektion nicht einmal mehr grüßen.

Leute, es ist keine Pest oder Ebola. 2-Meter-Abstand reichen. Und nein, ich bin kein Jünger der Covid-19-Leugner, ich finde nur, dass man nicht in die Büsche springen muss, wenn man sich begegnet. Und dass man nicht die Polizei rufen muss, wenn drei Nachbarskinder zusammen spielen. Denunziantentum und Spitzel hatte man in Deutschland lange genug.

So, kleiner Exkurs. Zurück zu den Plänen. Was hatten meine Mitfreiwilligen und ich nicht schon für sagenhafte Pläne geschmiedet …

Hier ein Best-Off (bitte das Beste ankreuzen)

O Ein offizielles oder nicht-offizielles Nachbereitungsseminar am Werbellinsee abhalten (um endlich im Sommer in diesen Scheiß-See zu springen)

O Eine Pommes-Bude eröffnen

O durch Südamerika auf einem Esel zu reisen

O oder etwas Ernsteres: Doch noch in die September-Ausreise zu kommen und wenigstens ein halbes Jahr unser FSJ an unseren Einsatzstellen zu absolvieren (Visa wären ja noch gültig)

Letzteres hat sich leider erledigt. Kulturweit ist sich nicht einmal sicher, ob es eine September-Ausreise 2020 geben wird. Wie gesagt: Man kann gerade sehr schlecht planen.

Und unter uns: Ich kann diese „Was machst du jetzt“-Frage nicht mehr hören. Als müsste ich immer ein Ass im Ärmel haben. Als hätte ich damit gerechnet, dass eine Pandemie mein FSJ beendet und ich mich jetzt umorientieren muss. Als müsste ich rund um die Uhr produktiv sein.

Kulturweit war so nett, uns auf ein Portal hinzuweisen, das Freiwillige an lokale Einsatzstellen vermittelt, die gerade händeringend nach Unterstützung suchen. Der Deal: Unser FSJ kann offiziell fortgeführt werden, für 6 Monate. Aus kulturweit sollte also kulturnah werden. Es ist löblich, dass sie trotzdem versuchen, uns ein Ersatzprogramm anzubieten, auch wenn es so ziemlich das Gegenteil eines Auslandsfreiwilligendienstes ist und sich in Einsatzort und Tätigkeitsprofil so drastisch unterscheidet.

Ich war interessiert und schaute mir das Ganze gleich mal an. Leider fand ich wenig Stellen, bei denen ich ab sofort anfangen könnte und ich hatte auch nicht wirklich das Gefühl, dass sie mich wirklich wollten und brauchten (lange Reaktionszeit auf E-Mails, keine Informationen etc.). Dann lasse ich das Ganze also mal sein. Die Stellen wären auch eh weiter weg gewesen und die vorgeschlagenen Tätigkeiten hätten mich auch nur mäßig interessiert.

Dann bleibe ich erstmal weiter hier. Ich weiß nicht, was kommen wird und wie sich alles entwickeln wird. Zur Beruhigung meines Gewissens habe ich mich in eine Liste für Corona-Nachbarschaftshilfe eingetragen und habe vielleicht noch ein Praktikum in Aussicht.

Am Anfang meiner Rückkehr baute sich in mir noch die baldige Perspektive auf, im Juni/Juli sofort zurück nach Brasilien reisen zu können, um wenigstens privat durchs Land zu reisen und in Belém die Schule und die Schüler kennenzulernen. Gerade schaut es danach aus, dass dieses Jahr überhaupt keine touristischen Reisen mehr möglich sein werden. Ach ja, und die Schule bleibt auch bis zu den Ferien geschlossen.

Deshalb quäle ich mich immer leicht, wenn ich das Verlangen spüre, mich nach Studienmöglichkeiten zu informieren. Viele meiner Mitmenschen deuten meinen Verbleib in Deutschland als automatische Handlungsaufforderung, mich nach Studienplätzen umzuschauen.  Unabhängig davon, dass ich zu spät für eine Bewerbung im Sommersemester kam und Bewerbungen für das Wintersemester erst ab Juni/Juli möglich sind, störe ich mich daran, so schnell von „Ich geh ins Ausland, um Zeit für mich zu haben und mich zu orientieren“ zu „Jetzt muss ich aber zu Potte kommen und sofort an die Uni“ umzuschwenken.

Fragen über Fragen. Es nervt mich, sie mir zu stellen. Und nein, ich weiß immer noch nicht ganz genau, was ich studieren möchte. Jeden Tag erhalte ich neue Angebote, Google Ads auf Facebook und Tipps von Freunden. Es gibt mittlerweile eine burj-kalifa-hohe Anzahl an Studiengängen – aller Couleur: Von European Governance über internationale Weinwirtschaft ist alles dabei. Irgendwie schön, dass so viele individuelle Angebote geschaffen werden, irgendwie aber auch anstrengend, wenn man wie ich die Qual der Wahl hat.

 

Ach ja, eine letzte Sache möchte ich hier nicht unausgesprochen lassen: Mir ist durchaus bewusst, dass meine Probleme nur Luxusprobleme sind. Es ist zwar ärgerlich für mich, dass ich mein Auslandsjahr nicht absolvieren durfte, aber ich bin zuhause – sicher und geborgen – bei meiner Familie. Ich habe ein Dach über den Kopf. Ich weiß, dass ich von einem funktionierenden und professionellen Gesundheitssystem profitiere und dass ich im Notfall eine gute Behandlung bekäme. Ich weiß, dass es mir an michts fehlt. Das Wetter ist sommerlich, ich kann jeden Tag in den Wald und an die frische Luft. Unabhängig von Corona (ups, jetzt habe ich es doch gesagt 🙁 ) könnte meine Situation nicht besser sein: Ich schlafe über 8 Stunden, gehe laufen, mache Sport, wir verbringen seit Langem wieder quality time in der Familie, reden, schauen Filme, gehen spazieren. Ich telefoniere mit längst vergessenen Freunden oder skype mit anderen wunderbaren Kulturweit-Menschen, um uns Mut zuzusprechen.

Früher, zu Schulzeiten und auch danach, hätte ich nie so gelebt: Mich so um meine Gesundheit gekümmert, so den Moment genossen und so dankbar gewesen, für all das was passiert.

Ich führe ein Leben, das ich ohne Corona NIE geführt hätte.

Wenn ich nur an meinen Bruder denke, der im Mai (voraussichtlich) Abitur schreibt: Er wird dieses Jahr keinen Abiball mit uns feiern, er wird keinen gemeinsamen Abschluss mit seiner Stufe erleben und auch an keiner Abschlussfahrt nach Kroatien teilnehmen. Wenn er überhaupt das Abitur schreibt, so wird es ihm wahrscheinlich per Post nach Hause geschickt. So stellt man sich doch auch kein letztes Jahr an der Schule vor.

Wenn ich mir nun vorstelle, dass Corona 2019 inmitten meiner Gemeinderats-Kandidatur, Abiturvorbereitung, England, und Mexiko-Reise geplatzt wäre, ich wäre unvorstellbar wütend und enttäuscht gewesen. Es hätte unter anderem ein Strich durch mein Abi, eine Studienreise, auf die ich mich so gefreut hatte und ein langersehntes Wiedersehen nach vier Jahren mit meiner mexikanischen Familie bedeutet.

Es ist Theoriedenken, I know. Und es gibt nie einen perfekten Zeitpunkt für eine Pandemie.  Trotzdem hat mir dieses Virus gezeigt, wie dankbar ich sein kann, für all die noch so kleinen Dinge, die BISHER in meinen Leben geklappt haben und die für mich einfach selbstverständlich waren.

Ein Treffen mit Freunden auf der Wiese? Why not? Ein Clubabend? Na, aber sichi! Ein herrlicher Urlaub im Süden? Da sind wir dabei!

Und trotzdem: Ich möchte überhaupt nichts beschönigen und nicht in das „Aber Corona ist doch auch eine großartige Chance“-Gelaber der Euphoriker verfallen, denen das Virus überhaupt nichts angetan hat.

Vor einigen Tagen ist ein entfernter Bekannter von mir aus Mexiko an Covid-19 gestorben. Es ist der erste Todesfall in meinem Umkreis. Ab diesem Punkt fing dieses Virus an, in meiner Welt real zu werden. Ich weiß, dass Menschen sterben. Ich weiß, dass viele Menschen gerade eingeengt in ihren Wohnungen sitzen und nicht raus in die Natur können. Ich weiß, dass mancherorts die häusliche Gewalt zunimmt. Ich leide mit allen weltweit mit, deren Existenz durch dieses Scheißding bedroht ist: Gastronomen, Hoteliers, Yoga-Lehrer in Berlin, Veranstaltungstechniker in Braunschweig, Strandverkäufer in Rio. Oder allen, denen ihr Gehalt so gekürzt wird, dass sie Mühe haben, für die Miete und die monatlichen Ausgaben über die Runden zu kommen. Ich habe die Bilder von den überfüllten Flüchtlings-Camps in Griechenland gesehen, von den Krankenhäusern in New York und den minütlich abfahrenden Leichenwägen in Bergamo. Von Menschen, die sich nichtmal mehr von ihren Angehörigen verabschieden oder einer Trauerfeier beiwohnen können. Es sind Bilder, die mich erschüttern.  Ich kann mir nicht anmaßen, auch nur ansatzweise vorzustellen, was das für eine prekäre Lage all diese Betroffenen ist. In Gebeten und Gedanken bin ich bei diesen Menschen.

NIEMAND, absolut niemand, hat so etwas verdient.

Wir alle sitzen dieses Mal im selben Boot. Und es gibt dieses Mal keinen Ausweg. Früher konnten dem/der gemeinen Durchschnittsbürger/in der westlichen Welt Probleme wie der Krieg in Syrien, das Massensterben im Yemen, die Wasserknappheit, die zunehmende Gewalt an Frauen, das Artensterben, die Amazonas-Brände und nicht zuletzt die Klimakatastrophe, um nur einige zu nennen, vierspurig am Arsch vorbeigehen (mit Betonung auf „konnten“). Dieses Mal betrifft es uns alle. Auch uns westliche Wohlstandsmaden.

Es ist eine historische Ausnahmesituation, wie Politiker dieser Tage gerne zu sagen pflegen. Und wenn ich Leben retten kann, in dem ich zuhause bleibe und keine Reisen unternehme, dann tue ich das verdammt nochmal. Nach Brasilien zu gehen ist jetzt zweitrangig, keine Frage.

Und schließlich finden schöne Reisen ja auch im Kopf statt.

Wo wir doch vorhin bei Liedern waren: Auf dem Seminar lernte ich durch Zufall ein wunderschönes Lied kennen, das unser aller Gemüter in der Gruppe gleichmäßig erwärmte: Fica Tudo Bem von Silva und Anita.

Mein Mitbewohner auf dem Seminar und Mitfreiwilliger aus Brasilien hörte es beim Duschen und habe es so aufgeschnappt und einen Ohrwurm bekommen, der sich durch die Tage auf dem Seminar und das Gruppengehör schlingelte. Von nun an sangen wir es beim Frühstück, Mittagessen, Abendessen, beim Spieleabend oder Beisammensein und Nacht-Disko im Zimmer.

Zu deutsch heißt der Titel: Es wird (oder bleibt) alles gut.

Ich bleibe optimistisch!