Eindeutig Argentinien

Seit fünf Tagen bin ich in Eldorado. Neben einer sauberen Erkältung gab es auch noch unglaublich viele neue intensive Eindrücke. Um keinen Apologie-artigen Exkurs über meine letzten Tage abzuliefern, soll im Folgenden auf die vier Faktoren eingegangen werden, an denen ich einwandfrei festmachen konnte, Deutschland verlassen zu haben und in Argentinien angekommen zu sein.

1. Siesta: Wenn die Welt aufhört, sich zu drehen

Ich komme gegen 14.30 in Eldorado an. Die Stadt ist leer, menschenverlassen, scheinbar leblos. In Nordargentinien bedeutet siesta, dass nichts mehr läuft, Läden haben geschlossen, Türen werden verriegelt, selbst die Fernseher werden scheinbar das einzige Mal zwischen 7 Uhr morgens und 12 Uhr nachts ausgeschaltet. Wer auch nur ansatzweise etwas vom argentinischen Tages- und Nachtrhythmus gehört hat, der weiß, dass der Teil der Nacht, in dem geschlafen wird, extrem kurz ist (Abendessen i.d.R. ab 22.30 Uhr, Nachtruhe dementsprechend ab frühestens halb eins). Es geht also gar nicht ohne siesta. Doch keine Regel ohne Ausnahme: Nachdem ich mich nach drei Tagen schon sehr an diese Nickerchen gewöhnt habe, mähen gegenüber Mitarbeiter der Kommune und graben ein Feld mit einem Bagger um. Ich fluche („que boludos!“) lege mich hin und schlafe trotzdem – wie das halt in Argentinien so gemacht wird.

2. Immer schön schlürfen – Mate

Ein Grund, warum die Argentinier trotz Schlafmangels durch den Tag wach kommen, ist Mate. Das hat mit dem pissgelben Hipstergetränk in Glasflaschen nur den Ursprung des Koffeins gemein: Die Mate-Pflanze, ein Stechpalmengewächs, das in der Region Misiones (da, wo ich grade bin) angebaut wird. Ansonsten funktioniert das ganz anders als alle anderen Getränke dieser Welt – einschließlich komplexer Rituale wie das Verkosten von Wein, Teezeremonien und aztekische Menschenopfer, zu denen Kakao getrunken wurde – aber nicht weniger durch feste Regeln gegliedert. Traditionellerweise in einen Becher aus Kürbis, die calabasa, wird die yerba, der Matetee, eingefüllt. Dahinein kommt die bombilla, ein Strohalm aus Metall mit Sieb unten dran, damit Tee und Staub draußen bleiben. Das wird dann mit heißem Wasser aufgebrüht und getrunken. Der- oder diejenige, der/die serviert, trinkt zu erst und reicht dann den Becher immer wieder neu aufgefüllt weiter. Ich muss mich immer zusammenreißen, um mich nicht zu bedanken, denn das bedeutet, dass man nichts mehr möchte. Irgendwann ist das Wasser lau und die yerba lasch – in der Fundación Wachnitz wird dies dann traditionellerweise als „Abwaschwasser“ bezeichnet, was gar keine so schlechte Bezeichnung ist. Mate wird mit jedem und jeder getrunken, in allen Lebenslagen und Situationen. Selbst in Grundschulen gibt es Mate-Pausen, nach denen die Kinder komplett durchdrehen – aber, wie es nun Mal in der Werbung heißt, Mate ist auch für deine Kinder gesund.

3. Verschiedene Perspektiven auf „5 Minuten“

Ein gewisser Linguist (Saussure) hat laut dem Vorlesungsskript seiner Zuhörenden wohl das Zeichensystem etabliert, gemäß dessen sich ein sprachliches Zeichen – also etwa der Begriff „fünf Minuten“ auf einen Referenten bezieht, im Falle des Deutschen auf eine Zeitspanne, die über ein normiertes System 300 Sekunden entspricht. Das ist in Fällen praktisch, wenn ich beispielsweise zu jemandem sage: „Die Nudeln brauchen noch fünf Minuten“, weiß er oder sie, dass nach ca. 300 Sekunden die Nudeln fertig sind, nach ca. 600 Sekunden hingegen nur noch Matsch über ist. In anderen Fällen ist das unpraktisch, wenn Prüflingen etwa gesagt wird, sie hätten nur noch 5 Minuten Zeit, sie aber noch etwa zwei Stunden bräuchten, um alle Aufgaben zu bearbeiten.

Ganz andere Probleme ergeben sich mit dem sprachlichen Zeichen der „fünf Minuten“ in Argentinien: Hier referiert das sprachliche Zeichen scheinbar mit vielem, aber niemals mit einer konkreten Zeitdauer von 300 Sekunden. Was genau das heißen soll weiß ich noch nicht, aber wenn eine Arbeitskollegin sagt „Ich mache das jetzt noch schnell in 5 Minuten fertig“, dann kann es gut sein, dass sie eine Stunde später noch dran sitzt. Ein Bus, der in fünf Minuten kommen soll, kann innerhalb der nächsten 3 Sekunden oder 3 Stunden um die Ecke biegen. Das Bauen von Häusern und das Geben einer Unterschrift können gleichsam 5 Minuten dauern.

Wichtig ist dabei, dass keines dieser Sprachsysteme keinerlei Vorteil gegenüber dem anderen besitzt – ärgerlich ist nur, wenn man gerade das falsche sprachliche System verwendet.

4. Warum ein Asado wenig mit Grillen zu tun hat

Heute, am Sonntag war das erste Mal seit meiner Ankunft bei einem Asado. Asado – das ist der Grill, das Grillen, die Gemeinschaft, die grillt, Fleisch, das gegrillt wird, und die Beilagen, die nicht gegrillt werden, Asado – das ist eine Institution des gesellschaftlichen Lebens. Asado – das nichts mit den fahrigen Dreibeingrills zu tun, die die Leute in München an das Isarufer, den Flaucher (gleichsam Grill für Fleisch und Mensch: Während das Steak gar wird, bruzeln die Menschen zu tausend in der Sonne drum herum) schleppen; noch weniger hat das mit den ewigen Kompetenzstreitigkeiten und verlagerten Vergleich von menschlicher Wurstware zu tun, wenn Gasgrills angepriesen, besondere Hölzer gelobt und luftgetrocknetes Fleisch beworben wird. Und noch weniger hat Asado mit Tofuwürsteln, Grillkäse und -gemüse zu tun. Asado bedeutet gegrilltes Tier und zwar vom Steak bis zu den Innereien. Ein Asado ist aus Backsteinen gemauert und hat in der Regel zwei Grillnischen, eine, in der Holz angezündet wird, eine zweite, auf der über den Kohlen, die aus der ersten Nische fallen, das Fleisch gebraten wird.

Zu dem Asado bei meiner Chefin Gisela und ihrer Familie kommen auch Freunde, es wird viel gelacht, aus einem Autoradio tönt Folklore. Sonntag Mittag gibt es Asado, hier wie einen halben Kilometer weiter in der Villa, dem Armenviertel, oder wie 1200 Kilometer Meter weiter in Buenos Aires – wahlweise auf einer Dachterrasse oder auf einem Wellblech auf einem freien Parkplatz, oder im über 4500 Kilometer entfernten Feuerland.

2 Gedanken zu „Eindeutig Argentinien

  1. Sehr schön, lieber Luis! Me voy al curso de español ahora (y tengo que hacer las deberes en las 18 minutos que están…). Abrazos!!! Envía nos un poco (o: mucho!!!) de sol que hace fuckísimo frío aquí!

  2. Gefällt mir überaus gut, dein Eintrag! Ergeht mir ähnlich mit den genannten Punkten (Jardín América, Misiones). Ergänzend könnte man noch die Bässe erwähnen, die aus den vorbeifahrenden Autos dringen. Reaggeton y Cumbia todo el dia!

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