Ein neues Zuhause

Ich bin jetzt knapp dreieinhalb Wochen in meiner Einsatzstelle hier in Fray Bentos. Und ich muss sagen, so langsam fühlt es sich danach an, als wäre ich angekommen. Zumindest habe ich mittlerweile realisiert, dass diese Kleinstadt am Río Uruguay bis August mein Zuhause sein wird. Nach unserer Ankunft Ende September wurden wir von unserem Vermieter abgeholt und direkt herzlich aufgenommen. Zunächst ein kurzer Irritationsmoment, war uns doch nicht bewusst, dass die Schlafzimmer in unserem Studierendenwohnheim mit einer anderen Person geteilt werden. Und so lernte ich meine Mitbewohnerin kennen, mit der allerdings bisher noch keine wirklichen Konversationen zustande kamen, abgesehen von unserem zweiten Tag, an dem wir von ihrer Familie, die zu diesem Zeitpunkt aus Maldonado zu Besuch war, zum Essen eingeladen wurden. Dass wir noch nicht wirklich viel miteinander zu tun hatten, liegt nicht daran, dass wir uns nicht verstehen würden, sondern vielmehr an unseren sehr unterschiedlichen Tagesrhythmen. Während ich meistens gegen 8 Uhr aufstehe, um entweder zur Arbeit zu gehen oder andere Dinge zu unternehmen und gegen 22:30 schlafen gehe, steht sie nie vor 13 Uhr auf und kommt oft mitten in der Nacht nach Hause oder sitzt den ganzen Tag (und die ganze Nacht) vor dem Computer. Das stört mich aber nicht wirklich, denn dadurch habe ich die meiste Zeit irgendwie doch das Gefühl, alleine zu wohnen. Mein Mitfreiwilliger hatte Glück und seine Wohnung aktuell noch mindestens bis März für sich alleine. Aber wie gesagt, so sehr stört mich das Ganze dann doch wieder nicht. Etwas nerviger ist die Tatsache, dass unser Wohnheim außerhalb der Stadt liegt und wir deshalb immer knappe 40 Minuten in die Stadt bzw. zur Arbeit laufen. Wir haben zwar Fahrräder, die sind aber ziemlich niedrig und deswegen nicht so ideal. Der Weg ist eigentlich auch immer ganz schön, aber mal sehen, ob ich die 40 Minuten immer noch laufen will, wenn es hier um die  45 Grad hat, wie uns schon verkündet wurde… Und die Wocheneinkäufe den ganzen Weg zu schleppen ist auch nicht immer so spaßig. Ich muss mir da mal noch eine bessere Lösung überlegen.
Am 25. September war dann unser erster Arbeitstag im „Museo de la Revolución Industrial“, an dem wir unsere Kolleg*innen kennenlernten. Unser Chef war zu diesem Zeitpunkt noch in Urlaub, weswegen wir die ersten Tage, außer bei ein paar Führungen mitzugehen, leider nicht viel tun konnten. Als er dann wieder bei der Arbeit war, wurden wir prompt dem Intendente (vergleichbar mit einem Landrat) der Region „Río Negro“ vorgestellt und bekamen eine Führung durch das kleine Theater der Stadt. Obwohl Fray Bentos klein ist, gibt es außer dem Theater noch ein weiteres Museum, unzählige Supermärkte und zahlreiche Geschäfte, mehrere Sportvereine und sogar einen Nachtclub, den wir allerdings noch nicht besucht haben.
Unsere Arbeit im Museum besteht vor allem darin, Führungen für nicht-spanischsprachige Tourist*innen zu geben. Wir waren ziemlich stolz, nach knapp zwei Wochen bereits komplett alleine Führungen zu machen und nicht nur zu übersetzen. Lediglich ein Kollege hier spricht Englisch und deswegen ist es sehr gerne gesehen, dass wir hier sind und dabei unterstützen können. Der Austausch mit den Gästen ist immer spannend und wir erfuhren, dass es wohl ziemlich beliebt bei einigen Europäer*innen ist, im September einen riesigen LKW mit Wohneinheit nach Montevideo zu verschiffen, dann selber nachzufliegen und dann durch Uruguay und Argentinien zu fahren, um den Jahreswechsel in Feuerland zu verbringen. Das ist zumindest, was uns die Mehrheit derjenigen erzählt hat, für die wir bisher schon Führungen machen durften, wenn wir gefragt haben, was sie nach Südamerika und Fray Bentos führt. Eine Ausnahme bildet das französische Pärchen, was letzte Woche da war und die eine Fahrradtour bis zu den Iguazu-Wasserfällen machen. Es gibt nichts, was es nicht gibt! Jedenfalls sind die Europäer*innen immer äußerst erstaunt und positiv überrascht, dass sie hier sogar eine Führung auf Englisch, Deutsch oder Französisch bekommen können, was im Falle des französischen Pärchens überraschenderweise sogar zu einem kleinen Trinkgeld für mich führte.
Abgesehen von den Führungen haben wir auf Wunsch unseres Chefs angefangen, Aktivitäten im Museum für Kinder zu entwickeln. Hier ist zu erwähnen, dass unser Chef uns selbst oft gerne mehr oder weniger ernsthaft „chiquilines“ nennt, ein uns vorher unbekannter südamerikanischer Ausdruck, der auf Deutsch etwa mit „Kinners“ zu übersetzen wäre. Im Zuge dessen entstand etwa ein Memory-Spiel zu den verschiedenen Produkten der Fabrik.
Wir hatten auch schon darüber gesprochen, dass wir bei der Social Media- und Öffentlichkeitsarbeit unterstützen sollen, das wurde bisher aber noch nicht weiter thematisiert. Leider kommt es ab und zu vor, dass wir 2 Stunden nur im Büro sitzen und nichts zu tun haben, aber sobald wir die Möglichkeit haben, mit unserem Chef über Langzeitprojekte zu sprechen, wird sich das wohl auch ändern. Um die Sprache zu lernen ist unsere Einsatzstelle jedenfalls perfekt, da wir, wie schon angesprochen, hier außer mit Spanisch nicht weit kommen.
Etwas schwierig stellt sich aktuell aber noch das Leute kennenlernen heraus. Es ist halt immer noch eine Kleinstadt, heißt, es kennt sich hier quasi schon jeder und es wird nicht wirklich damit gerechnet, dass sich Deutsche für ein Jahr hier her verirren. Es gibt zwar die „UTEC“, die technische Universität mit knapp 1000 Studierenden, aber irgendwie haben wir noch nicht herausgefunden, wo man diese am ehesten antreffen kann. Auch die Party-Zeiten sind hier etwas gewöhnungsbedürftig. In der Sprachschule in Montevideo wurde uns mit auf den Weg gegeben „In Montevideo geht man erst ab 3 Uhr in den Club, im Rest des Landes noch später!“. Das entspricht ja mal so gar nicht meinem Schlafrhythmus. Ich habe ja die Vermutung, dass ein Zusammenhang zwischen dem exzessiven Mate-Konsum der Uruguayos und diesen extremen Zeiten zusammenhängt… Das andere Extrem erlebten wir dann gestern, als wir zu einer Straßenparty mit vielen jungen Leuten dazustießen, die jedoch um 20 Uhr vom DJ als beendet erklärt wurde. Dementsprechend groß waren die Fragezeichen in unseren Köpfen über dieses abrupte Partyende. Aber das wird schon noch, da mache ich mir keine Sorgen. Ein junger Kollege, mit dem wir uns gut verstehen, ist hier im Ruderverein tätig und will uns mal mitnehmen, sobald die Saison im November wieder startet. Im Verein ist es sicherlich leichter, Leute kennenzulernen. Auch das Schwimmbad öffnet in zwei Wochen wieder, das muss ich dann auch mal auschecken.
Exzessiv ist bei den Uruguayos nicht nur der Matekonsum, sondern auch bei Fleisch und Alkohol sind sie ganz vorne mit dabei. Kein Wunder, denn beim traditionellen „asado“ (Grillen) wird mit 1-2 Kilo pro Person gerechnet. Da braucht man nicht mehr zu fragen, warum ausgerechnet hier die Fleischextraktfabrik gebaut wurde…

Natürlich werden wir nicht das ganze Jahr nur in Fray Bentos bleiben, sondern es sind bereits einige Reisen geplant. Wir haben bereits die Nachbarstadt Mercedes besichtigt und auch geplant, einige der anderen Einsatzstellen in Uruguay anzuschauen. Logistisch ist dies aufgrund der ziemlich enttäuschenden Reisebusverbindungen zwar etwas aufwendig, aber irgendwie wird das schon klappen. Mehrfach haben wir uns bereits darüber ausgelassen, warum es hier keine Highspeedzüge gibt, für die das Land mit einer höchsten Erhebung von sage und schreibe 500m eigentlich prädestiniert wäre. Aber das bleibt wohl ein Traum der europäischen Freiwilligen. Deswegen heißt es teilweise 6 Stunden Fahrt für eigentlich nur 150 km…
Außerdem geht es bereits am 11. November für 8 Tage nach Buenos Aires und somit auf den ersten Auslandstrip unseres Aufenthalts, um dort unser Zwischenseminar zu verbringen, welches zwar online stattfindet, wir uns die Erfahrung eines Seminars gemeinsam mit den anderen aber trotzdem nicht nehmen wollten.
Alle weiteren Reisen sind noch in Planung, aber Argentinien und Brasilien werden auf jeden Fall besonders bereist werden.

Und so schnell kann es gehen, sich an einem neuen Ort 11.000km entfernt zuhause zu fühlen. Auch wenn nicht alles perfekt ist (wir hatten zum Beispiel 3 Tage kein bzw. kaum Wasser) und ich mich an einiges noch gewöhnen muss, zum Beispiel die abartigen uruguayischen Preise, weil quasi alles importiert werden muss. Hier zahlt man für ein Glas Pesto gut und gerne mal 8€, ich muss also immer genau abwägen, was ich kaufe und was nicht. Das Einzige, was man hier wirklich hinterhergeschmissen bekommt, ist mobiles Internet für das Handy. Eine Aufladung für 20 GB bekomme ich für 4,69€. Da kann sich Deutschland mal eine Scheibe von abschneiden.
Aber davon lernt man ja auch für das Leben. Das Gleiche gilt für das Kochen für eine Person, das mich in den ersten zwei Wochen noch vor eine ziemliche Herausforderung gestellt hat, jetzt aber schon viel besser klappt.
Aber eigentlich fühle ich mich doch schon ziemlich wohl. Dies liegt sicherlich auch daran, dass die Stadt so „tranquilo“ ist, man darf halt wirklich nicht erwarten, dass hier viel abgeht, aber dann ist es eigentlich wirklich schön. Mir gefallen besonders die vielen Felder mit Kühen, Schafen und Pferden (die Unmengen an Straßenhunden eher weniger…) und die „Rambla“, die Flusspromenade, an der der Fluss jeden Abend in wunderschöne Orange- und Rottöne getaucht wird, bevor die Sonne in Windeseile hinter den Gebäuden der Fleischfabrik verschwindet.