Die Straßen sind voll, der Verkehr scheint für mich unberechenbar, die Regeln für mich undurchschaubar. Trotzdem stehe ich heute morgen um 7:15 auf der Straßenkreuzung und regle, in meiner roten Weste und einem kleinen gelben Fähnchen in der Hand, den Verkehr. Tatsächlich habe ich eigentlich keine Ahnung was ich da tue. Wenn die Ampel rot ist soll ich das Fähnchen heraushalten und die Leute stoppen, die trotzdem fahren wollen. Wenn die Ampel grün ist, alle fahren lassen. So weit so gut, ganz einfach.
Drüben auf der anderen Straßenseite sind zwei Ampeln: eine für Autos und eine für Fußgänger, aber ich stehe ja hier an der Motorradspur. Ich frage Wei, die chinesische Deutschlehrerin: „Auf welche Ampel müssen denn jetzt die Motorräder achten?“ Sie schaut sich kurz um und bemerkt dann wohl auch, dass manche fahren, wenn die Fußgängerampel und andere, wenn die Autoampel grün ist. Sie schaut sich hilfesuchend zu dem Polizisten um, der uns gegenübersteht und bemerkt wohl genau wie ich, dass dieser gerade Fußgänger daran hindert über die Straße zu gehen, obwohl die Fußgängerampel grün anzeigt. Etwas verwirrt sagt sie: „ Ich weiß es auch nicht, aber der Mann hat gesagt wir sollen etwas mehr lächeln“
Seltsam, denke ich, und Wei und ich einigen uns darauf, immer das anzuzeigen, was der Polizist auch gerade anzeigt. Und wenn wir uns nicht sicher sind, dann halten wir eben die Fahne auf halbe Höhe.
Mehr lächeln denke ich angestrengt und versuche mein müdes Gesicht zu verbergen. Ein paar Minuten später weiß ich auch warum. Ein erster Polizist läuft nämlich aufgeregt um uns herum und sagt etwas von wegen „Lǎowài Lǎowài “ (Ausländer Ausländer) und macht vergnügt Fotos. Auch die Motorradfahrer halten an und fragen Wei neugierig, wo ich denn eigentlich herkäme. Vielleicht aus der Nähe von Tibet, denn dort scheint es Menschen zu geben, denen man nachsagt, eine ähnliche Augenform wie ich zu haben. Oder natürlich aus Amerika. Mit Verkehr regeln ist jedenfalls nicht viel, eher mit Stau verursachen.
Das Fernsehen will es genau wissen. Ein Mann mit Kamera und eine Frau in Jogginghose, die mich für das lokale Fernsehen interviewen möchten, fragen mich genau, woher ich komme und was ich von dem Verkehrsprojekt halte. „Du kannst ja auch auf chinesisch antworten“, schlägt Wei vor. Aber mehr als dass ich aus Deutschland komme kann ich ihnen nun wirklich noch nicht erklären. Ich könnte sie natürlich fragen, ob sie mit mir schwimmen gehen wollen oder von meinem kleinen Bruder erzählen oder bei ihnen Scampis bestellen. Aber ein richtiges Interview auf Chinesisch das klappt nun wirklich nicht. Also beginnt Wei zu übersetzten.
Nach dem Interview sagt sie dann in ihrer freundlichen Art, wegen der man ihr wirklich nichts übel nehmen kann: „ Ich habe gesagt, dass du noch ein paar Komplimente zu dem Projekt gemacht hast. Ich hoffe das war in Ordnung.“ Ich sage darauf nichts, ich will nicht unhöflich sein. Aber es beunruhigt mich, dass das chinesische Fernsehen jetzt sonstwas denkt, was ich wohl gesagt haben könnte.
Weitere fünf Interviews mit Zeitungen folgen. Knifflige Fragen werden mir gestellt : „Was hältst du vom chinesischen Verkehrssystem und was sind die Unterschiede zu Deutschland?“ oder „Kannst du die Verkehrsregeln durchschauen?“ Mehr oder weniger charmant kann ich auf diese Fragen nur solche Dinge antworten wie zum Beispiel: „ Ich überquere Straßen nur dann, wenn ich eine Menschenansammlung sehe, die auch gerade hinübergeht.“ Die Journalisten lachen. Ich nehme also an, dass diese Antwort sinngemäß übersetzt worden ist. Aber was soll ich sagen, ich persönlich habe die Regeln nicht verstanden, ich bin hier schon zweimal in einem Monat angefahren worden, zwar in „slow motion“ aber trotzdem angefahren worden. In Bussen habe ich manchmal Angst, in Taxen sowieso. Das klingt nach fiesen Stereotypen. Wenn ich das jetzt sage, wer weiß wie es übersetzt wird. Ich möchte nicht, dass es so dargestellt wird, dass alle Deutschen es so sehen wie ich. Vielleicht würde es richtig dargestellt werden, vielleicht aber auch nicht. Deswegen lasse ich es lieber. Und was halte ich nun von dem Projekt? Keine Ahnung, ich bin nicht ganz sicher, ob ich den Sinn erfasst habe. Seit ein paar Wochen stehen auf jeden Fall immer je vier Lehrer an einer Kreuzung fünfzehn Minuten von der Schule entfernt. Es gibt dort Ampeln, aber die Lehrer sagen trotzdem noch einmal an, was die Ampeln sowieso schon anzeigen. Klar, auf die Ampeln hört hier nicht jeder, das habe ich schon bemerkt. Aber bringt das jetzt etwas, dass da Lehrer stehen? Ich meine, die Schüler müssen um halb acht in der Schule sein, die Lehrer stehen hier aber bis um neun, also bis die „Rush hour“ vorbei ist. Aber die anderen Menschen wissen ja gar nicht, dass da Lehrer stehen. Und es hat ja auch gar nicht den gleichen Effekt, wenn es nicht die eigenen Schüler sind.
Also sage ich nur, dass ich glaube, dass es für die Schüler gut ist, wenn sie jetzt in den Medien sehen und lesen können, dass sich ihre Lehrer für mehr Richtlinien im Verkehr einsetzen. Das kann ja auch sein. Mehr kann ich dazu eben wirklich nicht sagen. Aber es sind bestimmt Komplimente hinzugefügt worden.
Tatsächlich kam ich gestern in die Mensa und die nette Dame von der Essensausgabe schrie ganz vergnügt als sie mich sah: „Lǎowài ! Lǎowài !“ und erzählte, dass sie mich im Fernsehen gesehen habe. Aus den hinteren Reihen der Schlange hörte ich nur: „Janna Superstar“. Die Schüler hatten es also auch im Fernsehen gesehen und ich hoffe, dass der Effekt nicht ausbleibt.
Anmerkungen:
Dass die Fotos auf der Straße entstanden als ich „Stopp“ zeigte obwohl die Ampel grün war, kann man den leicht säuerlichen Gesichtern der Motorradfahrern entnehmen.
„Lǎowài “ bedeutet Ausländer. Früher war es eher negativ konnotiert. Eine chinesische Englischlehrerin erklärte mir, dass es heute nicht mehr so negativ belegt ist und auch den Reaktionen der Menschen hier, die lǎowài zu mir sagen, würde ich entnehmen, dass es eher „wertfrei“ ist und aus Neugierde und Wahrnehmung der Besonderheit gesagt wird.
Motorräder
Richtige Motorräder gibt es in Ningbo nicht, sie sind wegen der Abgase verboten. Es gibt nur Mopeds, die elektrisch betrieben sind und keinen Auspuff haben. Davon gibt es unglaublich viele, häufig sind sie sehr besonders beladen und haben sehr risikofreudige Fahrer.
Polizei
In jedem Reiseführer, den ich gelesen habe, stand irgendwo zu lesen, ich solle besser nicht einfach so Fotos von der Polizei machen, schon gar nicht ohne zu fragen. Hallo? Bin ich gefragt worden, ob die Fotos von mir machen dürfen? Aber hier will ja keiner kleinlich sein, schon gar nicht im letzten Satz des diesmal ziemlich langen Artikels.
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