Komm!
Vor kurzem habe ich ein Versprechen eingelöst, dass ich vor knapp einem Jahr meiner Religionslehrerin während der mündlichen Abiturprüfung gegeben habe: mich auf die Spuren des Papstes zu begeben. Jorge Mario Kardinal Bergoglio SJ war ja, wie bekannt, vor seiner Wahl zum Papst Erzbischof von Buenos Aires und Primat von Argentinien. Seine Kathedrale hatte ich ja bereits besucht, nun war der Ciruito Papal an der Reihe, eine kostenlose geführte Tour per Bus an seine wichtigsten Wirkungsorte, die die Stadt Buenos Aires anbietet (siehe hier, leider nur auf Spanisch). Ich war schon vorher von Papst Franziskus begeistert, aber seine ehemaligen Wirkungsstätten noch mal „in echt“ zusehen hinterließ einen ganz anderen Eindruck bei mir.
Zuerst einmal muss ich mal wieder zugeben: ich habe ein bisschen übertrieben, um mit diesem Teaser Aufmerksamkeit zu erzeugen. Natürlich habe ich meiner Prüferin nichts versprochen (das wäre verboten), sondern die Tatsache, dass ich damals schon auf gepackten Koffern nach Lateinamerika saß, als Ausstiegsgedanken für mein Prüfungsreferat genutzt. Die Prüfung ging nämlich um einen Textauszug aus Papst Franziskus´ Apostolischem Schreiben Evangelii Gaudium (Latein für: “Freude des Evangeliums”), aus welchem ich die fünf Prinzipien der Katholischen Soziallehre herauslesen sollte, was schlimmer klingt, als es ist: Solidarität, Subsidiarität, Nachhaltigkeit, Gemeinwohl und Personalität. Was läge da näher, als die Stadt zu besuchen, in der man des Papstes Umsetzung des Personalitätsprinzips so gut beobachten kann wie nirgendwo sonst? Die Stadt, in der Padre Jorge geboren, getauft und aufgewachsen ist, in der er Fußball gespielt, Mate getrunken und Dulce de Leche gegessen hat – und deren Einwohner er als Erzbischof immer ganz besonders nahe war, als er in Armenviertel ging, mit der Subte (der Metro von Buenos Aires) statt mit der Dienstlimousine fuhr und sich in seinen schlichten schwarzen Schuhen jeden Morgen höchstpersönlich die Tageszeitung auf der Plaza de Mayo kaufte?
Doch beginnen wir von vorn, mit der Kirche, die in seiner Jugend seine Familienkirche war und in der er, im zarten Alter von 16 Jahren, zum ersten Mal den Ruf Gottes zum Priesteramt verspürte: San José de Flores. Was er vier Jahre lang geheim hielt, weil seine Mutter ihn nämlich lieber im Ärztekittel statt im Priesterornat sehen wollte. Eines Tages jedoch, so erzählte uns der Touriguide, betrat seine Mutter sein familieneigenes Studierzimmer, um dort etwas aufzuräumen, und fand dort mitnichten lauter medizinische Traktate, sondern: die Bibel. Geschichten von Aposteln, Heiligen, Märtyern. Kirchentheologie. Sie stellte ihren Sohn zur Rede, er wolle doch Arzt werden? Sicher, antwortete Jorge Mario, bloß werde ich ein Arzt für die Seelen sein.
Ein halbes Jahrhundert später, als Vorsitzender der internationalen Vereinigung katholischer Seelenärzte, weigerte er sich unter Verweis auf seine Mutter, sein Zimmer im Apostolischen Palast zu beziehen, und blieb im Gästehaus Santa Martha, einem ehemaligen Hospiz, um dort jeden Morgen beim Frühstück unter den Menschen sein zu können.
Während seiner Priesterausbildung besuchte der junge Bergoglio auch Deutschland, um dort seine Doktorarbeit fertigzustellen. Unter anderem verschlug es ihn nach Augsburg, in die kleine Kirche St. Peter am Perlach, wo das Gnadenbild der Maria Knotenlöserin hängt. Was ich von kitschigen Marienbildchen, die dieselbe Funktion einnehmen wie im Alten Testament das Goldene Kalb, halte, ist bereits bekannt, dennoch verbirgt sich hinter diesem Gemälde eine besondere Geschichte. Der junge Bergoglio war von diesem nämlich so beeindruckt, dass er mehrere Postkarten mit dem Motiv nach Argentinien mitbrachte und an diverse Freunde und Verwandte verschenkte. Diese bedauerten allesamt lauthals, dass ihnen ein solches Gnadenbild nicht auch in Argentinien zur Verehrung verfügbar war, woraufhin der damalige Jesuitenpater kurzerhand eine ihm bekannte Malerin mit vier Kopien des Originals beauftragte. Innerhalb von nur 20 Jahren verbreitete sich die Verehrung dieses Motivs auf dem gesamten Kontinent rasant, wohingegen in Deutschland niemand mehr etwas von einer “Maria Knotenlöserin” wusste. Eine Tatsache, die der Touriguide natürlich nutzte, um mich als Deutschen damit aufzuziehen. Es würden viele Deutsche in seine Tour kommen und jedesmal würde er sie fragen, ob sie das Bildchen kennten, was sie immer verneinten. Auch würden mittlerweile zahlreiche Argentinier nach Augsburg pilgern, sich dort auf den Marktplatz stellen und die Leute wie selbstverständlich frei heraus fragen, wo denn ihr heißgeliebtes Marienbildchen sei? Nein? Das wissen Sie nicht? Qué lástima. Maria Knotenlöserin, so schloss der Guide, musste also erst 11.000 Kilometer um die halbe Welt reisen, dort bekannt werden, um nun durch den argentinischen Papst auch in Deutschland wieder zu der ihr würdigen Verehrung zurückzufinden.
Ein ähnliches Schicksal droht sicher auch mal Papst Franziskus, wenn die Argentinier so weiter machen. Der “Papst vom anderen Ende der Welt” ist jetzt schon eine Art Nationalheiliger und wird wohl bald der allgegenwärtigen Evita den Rang ablaufen. In Buenos Aires wollten sie in Flores, seinem Viertel, die Subtestation direkt neben seiner Berufungskirche in “Papa Francisco” umbennen. Alle lokalen und nationalen Politiker waren dafür, nur einer war vehement dagegen und stoppte das Projekt: Papst Franziskus selbst.
Jorge Mario Bergoglio hat nie großen Turbel um seine Person gemacht. Das kann man insbesondere auf der Plaza de Mayo beobachten. Dort steht seine große Kathedrale, und direkt daneben das Verwaltungsgebäude des Erzbischofs. Als Bergoglio also als frischgebackener Erzbischof dort per Subte eintraf und fragte, wo er denn nun wohnen solle, antwortete man ihm, dass ihm selbstverständlich ein erzbischöflicher Palast weit außerhalb der Stadt zur freien Verfügung stünde. Den lehnte er jedoch kategorisch ab, da er erstens nicht jeden Tag so weit ins Stadtzentrum fahren wollte und zweitens so den direkten Kontakt mit den Porteños verlieren würde. Ob es hier, im Bürohaus des Erzbistums, nicht auch eine Schlafstätte gäbe? Man beschied ihm die Antwort, dass das hier kein Hotel sei, hatte aber nicht mit Jorge Mario Bergoglio aus Flores gerechnet. Der bezog kurzerhand ein kleines Zimmer im dritten Stock, beschlagnahmte die winzige Küche nebenan und kochte sich fortan dort selbst sein Mittagessen. Nebenbei zog er in ein kleineres Büro um und stellte sein repräsentatives Bischofsbüro mit all dem Gerümpel voll, den man ihm so zu schenken gedachte.
Er ließ es sich auch nicht nehmen, sich seine Tageszeitungen höchstpersönlich zu kaufen, und zwar von Montag bis Freitag immer beim gleichen Kiosk um die Ecke. Nach und nach lernte er so den Kioskbesitzer kennen, taufte seine Kinder, verheiratete ihn selbst, und als er dann Papst in Rom war, griff er eines Tages zum Telefon und rief seinen alten Freund, den Zeitungsverkäufer in Buenos Aires, auf dem Handy an.
“Ja, hallo, hier spricht Papst Franziskus. ¿Cómo andá?”
“Bitte, wer??!”
“Ja, der Papst. Aus Rom. Padre Jorge. Kennst du mich denn nicht mehr?”1
Der Kioskbesitzer fiel aus allen Wolken und glaubte zunächst an einen Scherz. Dann erkannte er die Stimme seines langjährigen Kunden und Tränen kamen ihm in die Augen (keine Ahnung, ob das stimmt, aber es klingt zumindest poetisch). Seither ruft der Papst jedes Jahr an Weihnachten und Neujahr bei “seinem” Kiosk an, und seither kann man in Buenos Aires seine Zeitungen in dem Kiosk kaufen, in dem der Papst angerufen hat. Und sich die Haare im gleichem Friseursalon schneiden lassen wie der ehemalige Erzbischof.
Dieser Papst, so wurde mir klar, kann die Welt verändern. Und er ist schon dabei. Está cambiando el mundo, hier muss ich einfach ins Spanische wechseln und eine grammatikalische Form verwenden, die es im Deutschen nicht gibt, die aber genau das ausdrückt, was ich sagen will. In Kuba söhnt er sich gerade mit dem Patriarchen von Moskau aus, nach über 1000 Jahren sinnloser Trennung. In einer Zeit, in der ich morgens gar nicht mehr die Nachrichten lesen will aus Angst vor der neuesten Hiobsbotschaft, sendet dieser Papst ein Zeichen der Versöhnung aus. In dieser Zeit, in der sich die Weltmächte und -religionen in Syrien bis aufs Blut bekriegen, nimmt er seinen Bruder in den Arm und sagt: Komm.
“Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht. Der Geist des Herrn lässt sich nieder auf ihm: der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht. Er richtet nicht nach dem Augenschein und nicht nur nach dem Hörensagen entscheidet er, sondern er richtet die Hilflosen gerecht und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist. Er schlägt den Gewalttätigen mit dem Stock seines Wortes und tötet den Schuldigen mit dem Hauch seines Mundes. Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften, Treue der Gürtel um seinen Leib. Dann wohnt der Wolf beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Knabe kann sie hüten. Kuh und Bärin freunden sich an, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, das Kind streckt seine Hand in die Höhle der Schlange. Man tut nichts Böses mehr und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des Herrn, so wie das Meer mit Wasser gefüllt ist.”
Jesaja 11,1-9 (EÜ)
1Der Dialog ist natürlich frei erfunden.