Drei Soli

Schon einmal wurde ich gefragt, ob ich bereits einen „Kulturschock“ erlitten hätte angesichts der vielen fremden Eindrücke. Auf der anderen Seite wurde ich gewarnt, ich dürfe mich nicht in der „Deutschenblase“ verstecken und müsse offen sein für die Kultur meines Gastlandes. Um beides und noch viel mehr ging es bei dem gestrigen Fest an meiner Einsatzstelle – doch von Anfang an.

Weiterlesen

Ich habe es vielleicht noch nicht oft genug erwähnt, dass das Colegio, also die Grundschule, an der ich eingesetzt bin, eine kleine Besonderheit mitbringt: die kirchliche Trägerschaft durch die katholischen Schönstatt-Schwestern. Das Colegio „Mater Ter Admirabilis“ steht direkt auf dem Grundstück des Nonnenklosters samt entsprechendem Marienheiligtum gleich dazu. Um besagtes Marienheiligtum ging es vergangenen Sonntag am Colegio MTA, ein Tag, der in Deutschland Kirchweih war und bei uns eben das „Wiederbeleben unserer Unendlichen Liebe zur Gottesmutter Marias“ (kein Scherz, hieß wirklich so, oder so ähnlich – habe den genauen Namen vergessen). Bei dem hochverehrten Heiligtum namens „Madre Tres Veces Admirable“ selbst handelt es sich um ein äußerst kitschiges Marienbildchen, eingefasst in eine goldene Monstranz, das von eigens angereisten Pilgern aus dem ganzen Land geküsst und dann später als Heiligenbildchen gekauft und mit nach Hause getragen wird, um den Umsatz des Schwesternordens anzukurbeln.

Normalerweise hätte ich eine solche Veranstaltung eher gemieden. Ich kenne das zu genüge aus Bayern und bin außerdem kein Anhänger des Marianismus, auf den ich später noch zu sprechen kommen werde. Nun ist es aber so, dass die Grundschullehrer am Colegio traditionellerweise an diesem Tag als Hilfskräfte eingesetzt werden, um der extra aus dem Ganze Land mit Fernbussen angereisten Pilgermasse Herr zu werden. Und nachdem ich ja auch irgendwie ein Grundschullehrer bin jetzt… Na ja, wer am „Día del Maestro“ Blumen einstecken will, muss jetzt eben auch am Día del Maestro trabajando Erfrischungsgetränke austeilen, denke ich mir und gehe eben hin.

Ja, richtig gelesen, denn die erste Aufgabe, die mir zugeteilt wird, ist: Helfen am Getränkeverkaufsstand. Ich lerne, dass Erfrischungsgetränk „refresco“ heißt und es auch 50-Peso-Münzen gibt, die ich vorher nie gesehen hatte. Nach einer Weile ändert sich meine Aufgabenbeschreibung und ich muss der erste Schicht an Pilgergästen in guter alter Klostertradition (gegen einen Preis von 350 Pesos) das Mittagessen auftragen, wahlweise Brathühnchen oder Ravioli (beides Klassiker der uruguayischen Küche – wieder kein Scherz!). Erstmals moralische Schwierigkeiten bekomme ich, als ich die Aufgabe erhalte, beim Verkauf der Pilgerandenken mit dem Marienbildchen drauf zu denken.

Eine Abrechnung mit dem Marianismus

Allein aus Gnade

Der Reliquienhandel war, Kirchensteuer hin oder her, im Laufe der Geschichte eine der wichtigsten Einnahmequellen der katholischen Kirche. In diesem Falle geht es um alles, was sich von einer Druckerei mit Marienbildchen bedrucken lässt: Lesezeichen. Holzkreuze. Autoscheibenaufkleber. Rosenkränze. Schmuckanhänger. Und so weiter, mit päpstlichem Segen, denn Papa Francesco ist auch im Sortiment. Ich erinnere mich an die Szene, als Jesus in den Tempel ging und dort die Tische der Händler umstürzte: „Mein Haus sollte ein Haus des Gebets sein. Aber ihr habt daraus eine Räuberhöhle gemacht“ (Lk 19,46). Eine klare Absage an Konsum innerhalb der Kirche, an das Geschäft mit dem Glauben. Sola gratia – die Gnade Gottes ist kostenlos.

Allein Christus

Ich bin vielleicht aus Deutschland, aber kein Martin Luther 2.0. Ich kann und werde bestimmt nicht 99 Thesen an die Schultür schlagen, das hat Luther vor 500 Jahren schon getan und einmal reicht’s schon. Vielleicht möchte mein Nachfolger das ja 2017 wiederholen, anlässlich des Reformationsjubiläums. Ich würde vermutlich auch Ärger mit kulturweit bekommen. Erschreckend ist jedoch, dass die Katholische Kirche in den vergangenen 500 Jahren nichts hinzugelernt hat. Ich respektiere die lokalen Traditionen, aber als Christ kann ich es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, mitzubeten, wenn zu Beginn eines jeden Schultages das Ave Maria gebetet wird. Die Verehrung Marias, egal ob sie nun „Gottesmutter“ oder „Tres Veces Admirable“ heißt, ist für mich ein ganz klarer Verstoß gegen das erste Gebot: „Ich bin JHWH, der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten herausgeführt hat. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“ (Ex 20,3). Solus Christus.

Interessanterweise legen die anwesenden Geistlichen großen Wert darauf, den Pilgern klarzumachen, dass es mitnichten Maria sei, von der sie Rettung erhoffen dürften, sondern Jesus Christus selbst. Der eigens aus Mercedes angereiste Bischof erklärt in der sehr lebendigen Predigt bei der Messfeier, dass Heilige mitnichten abgehobene Götter seien, sondern ganz normale Menschen, die uns an ihrer besonderen Beziehung zu Gott teilnehmen ließen. Eine Art christlicher Bodshivatta also, auch wenn der Vergleich hinkt. Die Predigt ist für einen katholischen Bischof überraschenderweise sehr lebendig ausgestaltet, mit einer reichen Gestik und einer den Inhalt unterstützenden Stimmmodulation. Ich kann ihr, obwohl auf Spanisch gehalten, sehr gut folgen, weil sie im etwas langsameren, der akustischen Situation angepassten Tempo der Kirchenmänner gesprochen wird und weil ich mittlerweile schon für ein für mein Spanischniveau ungewöhnlich reiches Vokabular an Kirchenvokabeln verfüge. Außerdem hat die katholische Messe den Vorteil, dass sie überall auf der Welt in wesentlichen Zügen beinahe Wort für Wort die gleiche ist, weswegen es dem häufigen Kirchgänger eigentlich möglich sein sollte, an jeder Stelle des Gottesdienstes immer zu wissen, was gerade passiert – kann er doch sowieso alles auswendig. Dieses Manko der Messe wird mir hier nun zum Vorteil, auch wenn ich ihr nicht ganz folgen kann, weil ich immer wieder von durstigen Pilgern unterbrochen werde – ich muss ja Getränke verkaufen. Auch der Priester, der die abschließende Prozession mit der Marienikone durch die Stadt beendet, indem ein Stapel an Bittbriefen an Maria verbrannt wird, dämpft die Marieverehrung. Er betont, dass es mitnichten Maria sei, zu dem die Gläubigen flehten, sondern Christus, und Maria nur als Fürbitterin diese Bitten zu Jesus tragen würde. Hier muss ich in klassischer lutheranischer Manier entgegen, dass ich bis heute nicht verstanden habe, warum ich als freier Christenmensch einen Fürbitter brauchen sollte, wenn ich auch gut selbst zu Gott beten kann. Dafür kann ich jetzt bald den Rosenkranz auf Spanisch auswendig, ein Kunststück, das mir auf Deutsch bisher noch nicht gelungen ist: „Santa María, Madre de Díos, pruega por nosotros ahora y en la hora de nuestro muerte, Amén“.

Es ist jedoch klar, dass die anwesenden Pilger sich das Wunder, allen Bemühungen der Priester zum Trotz, sich von Maria und ihrem „Gnadenbild“ (als könnte Maria Gnade spenden) erhoffen. Die katholische Kirche macht sich in diesem Punkt selber etwas vor. Wer Maria Altäre baut, ihr Festgottesdienste, Prozessionen, Feiertage widmet, für sie Lieder singt, zu ihr Gebete richtet und von ihr Hilfe erhofft, der behandelt Maria als Gott. Das ist nichts Schlechtes, hat aber mit Christentum nichts mehr zu tun.

Allein die Schrift

Es ist in diesem Punkt vielleicht ganz hilfreich, einen Blick in die Kirchengeschichte zu werfen, auf die Frage, wo der Marianismus eigentlich herkommt. Ursprünglich entstand er als Kompromiss der katholischen Missionare gegenüber den germanischen Heiden, die unbedingt an ihren althergebrachten Haiden, Quellen und sonstigen Naturheiligtümern festhalten wollten. Außerdem war für sie die Annahme nur eines einzigen Gottes völlig fremd, gar unlogisch, lebten sie doch bisher mit einem polytheistischen Weltbild aus unendlich vielen Gottheiten. Wie soll sich denn, fragten sie, nur ein einziger Gott allein um das alles kümmern – Regen, Sonne, Fruchtbarkeit, Haushalt, Kinder…? Das fragten sich viele Völker damals. Kein Problem, antworteten da die Missionare, stellen wir einfach Maria oder einen anderen Heiligen an die Stelle der alten Gottheiten, y no hay problema. Hauptsache, sie erkennen brav die Oberhoheit des Papstes in Rom an. Die katholische Kirche, schreibt dazu Hans Küng, habe sich vor allem deswegen im Laufe der Zeiten als so überlebensfähig erwiesen, weil sie mit der Heiligenverehrung ein probates Mittel besaß, den alten Glauben der zu missionierenden „Heiden“ nahtlos in die eigene Glaubenslehre zu integrieren. Die Hochphase des Marianismus begann dann später, zur Gegenreformation nach dem Konzil von Trient und im Barock-/Rokokozeitalter, von dem noch heute so viele Zwiebeltürmchen in Bayern künden. Anstatt auf die Kritikpunkte ihres ehemaligen Mitarbeiters Luther einzugehen, entschied sich die Kirche damals, ihr „Angebot“ angesichts des als spröden und trocken empfundenen Lutheranismus um ein paar Farben zu erweitern und die Menschen mit emotionaleren Gottesdiensten, Kirchenbauwerken und eben auch neuen Marienfeiertagen wieder zurück in ihre Herde zu locken. Kanonisiert wurde die marianische Sonderlehre schließlich auf dem 1. Vatikanischen Konzil, als die erzkonservativen italienischen Kardinäle das Dogma der unbefleckten Empfängnis (und übrigens auch der päpstlichen Unfehlbarkeit) gegen den Willen der Kirchenmehrheit durchpeitschten, die schon längst vorher aus Protest abgereist war. Somit kam ein wesentliches Mariendogma nicht einmal kirchenrechtlich korrekt zustande, wird heute aber trotzdem allen Gläubigen als Glaubenswahrheit aufgezwungen. Für die wesentlichen Glaubensinhalte des Marianismus, Himmelfahrt, unbefleckte Empfängnis und Jungfrauengeburt, findet sich darüber hinaus keine (ausreichende) biblische Grundlage, weswegen er durchaus als Sekte innerhalb des Christentums zu bezeichnen ist. Sola scriptura.

Allein ich? Nein

Ich respektiere und toleriere die Glaubenseinstellung der Menschen, die ich gestern erlebt habe. Jeder kann und soll glauben, was er will. Ich selbst kann diesen Glauben jedoch nicht als „christlich“ bezeichnen und auch nicht selber mittragen – warum, habe ich eben ausführlich begründet. Ich schlich mich von meiner neuen Aufgabe als Reliquienhändler also möglichst bald davon, was kein großes Problem war, da ich mangels Sprachkenntnissen sowieso keine allzu guten Verkaufserfolge hätte erzielen können. Mein sprachliches Wissen hierzu beschränkt sich bisher Gottseidank auf das Wort „rosario“ für „Rosenkranz“.

Allein die Schweiz

Letztlich gab es auf der Maria-Kirchweih aber doch noch einen interessanten Programmpunkt (neben dem gewohnt guten Essen natürlich), den ich beinahe vergessen hätte, und der mit den eingangs erwähnten Schlagworten „Kulturschock“ und „Deutschenblase“ zu tun hat. Einen Kulturschock zu bekommen ist hier nämlich nicht ganz einfach. Uruguay ist sehr stark von seinen europäischen Einwanderern geprägt, und mein Einsatzort Nueva Helvecia, die „neue Schweiz“, vor allem sehr stolz auf seine schweizerischen und deutschen Vorfahren. Dementsprechend musste in der Mittagspause zwischen Gottesdienst und Prozession den angereisten nicht-neuhelvetischen Gästen natürlich auch ein gutes Stück Schweizer Tradition präsentiert werden. Bereits die Anmoderation hatte allerdings angekündigt, dass die auftretende Tanzgruppe nicht nur schweizerische, sondern eine Mischung aus deutschen, bayerischen, österreichischen und südtirolerischen Traditionen präsentieren würde. Vom Schuhplattler bis zum Prosit war folglich alles dabei, nur Alphörner gab’s keine (mangels Alpen vermutlich). Da ich in Deutschland noch nie einen Schuhplattler gesehen habe, scheint es, als ob ich erst einmal 11.000 Kilometer um die halbe Welt reisen musste, um zum ersten Mal in meinem Leben einen solchen zu sehen. Wo bleibt da die Deutschenblase? Ich war einmal mehr sehr beeindruckt von der Lebendigkeit des deutsch-schweizerischen Erbes hier, die mich bereits beim „Coro Concordia“ fasziniert hatte, und habe versucht, einige der Aufführungen als Video einzufangen und hier zugänglich zu machen. Ich bitte die schlechte Bildqualität zu entschuldigen, Speicherplatz und Upload-Geschwindigkeit sind knapp. (Aus technischen Gründen ist der Versuch leider noch nicht gelungen, ich bitte um Geduld).

Was bleibt also nach einem langen „Arbeitstag“? Der erneut positive Eindruck einer lebendigen Tradition, von der man in Deutschland nicht die geringste Ahnung hat, und damit einige sehr schöne, unvergessliche Bilder. Und die Feststellung, dass das Thema „Kirchenaustritt“ erneut zurück auf meine persönliche Tagesordnung muss. Eine Kirche, die solche Lehren verbreitet, kann nicht mehr meine Kirche sein.

alle Bibelzitate aus der Einheitsübersetzung

2 Kommentare

  1. Klemens Kißner · 21. Oktober 2015

    Was soll man dazu sagen… Du bist halt im Herzen ein Lutheraner, auch wenn`s zum lupenreinen Evangelikalen noch nicht gereicht hat 🙂
    Hab sola grazia mit deinen Leuten.
    Ich bin schon gespannt, ob du einen schweizer Akzent hast, wenn du zurück kommst.

    • Jan Doria · 21. Oktober 2015

      Einen Schweizer Akzent werde ich nicht haben, denn hier spricht kaum einer wirklich gut Deutsch. Im Gegenteil: momentan verliere ich jeglichen Akzent, weil ich entweder Spanisch rede oder akzentfreies Hochdeutsch – schwäbisch würde niemand verstehen. Dafür gewinne ich für mein Spanisch den uruguayischen Akzent hinzu…

Zur Werkzeugleiste springen