Eine vergessene Geschichte

Auf den Spuren deutschsprachiger Einwanderer in Uruguay

Vergangenen Sonntag hat einer der ältesten Chore Uruguays, der Coro Concordia in Nueva Helvecia, sein einhundertjähriges Bestehen gefeiert. Das klingt nach wenig in deutschen Ohren, aber 100 Jahre sind ganz schön viel für ein Land, das erst 1825 unabhängig geworden ist.
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Deswegen gönnte sich der Chor auch eine ordentliche Jubiläumsfeier. Man meint so was ja zu kennen aus Bayern, wenn der Schützenverein Geburtstag hat: zuerst kommt der Pfarrer für einen Gottesdienst. Dann folgen die obligatorischen Grußworte von schlipstragenden wichtigen Leuten und solchen, die sich für wichtig halten, die allesamt viel zu lang sind und sowieso allesamt den gleichen Inhalt haben. Endlich heißt’s „O’zapft is!“ mit „zünft‘ger Blasmusi“, die leider während dem Essen und nicht danach spielt und deswegen jedes Tischgespräch unmöglich macht. Außerdem ist das musikalische Niveau äußerst beschränkt, die Begleitinstrumente müssen sich gar mit ihrem Nachschlag hinter dem ohrwurmartigen Gejodel der Trompeten verstecken und dürfen nur ab und zu mal für eine Bassfigur den Ton angeben dürfen.

Wer also nur noch einmal eine Bestätigung für die Warnung vom Vorbereitungsseminar gebraucht hätte, auf Vorurteile unbedingt zu verzichten: hier ist sie. Im säkularen Uruguay bleibt der Pfarrer dahoam, stattdessen singt der Jubiläumschor zum Auftakt die Nationalhymne. Die Grußworte bleiben zu meinem Glück (und da ich sowieso nur die Hälfte verstehe) auf eine menschenwürdige Länge beschränkt, und die lokale Politprominenz begeht nicht den in Deutschland so oft begangenen Fehler, die optische Ästhetik eines Sakkos mit Krawatte zu überschätzen.

Der Coro Concordia wurde vor 100 Jahren von deutschen und schweizerischen Einwandern in einem Schulgebäude gegründet. Er ist also auch ohne UNESCO-Siegel eine Art lebendes Kulturerbe, zumindest auf lokaler Ebene. Dementsprechend pflegt er auch ein Liedgut-Repertoire in allen vier Schweizer Amtssprachen, in Deutsch, Französisch, Italienisch und sogar in der selbst in der Schweiz aussterbenden Sprache Rätoromanisch – sowie in Spanisch, natürlich. Ich bin überrascht. Man stelle sich vor, eine bayerische Blaskapelle würde auch nur ein Lied auf Französisch singen! Ja Herrschaftszeiten!

Zum Jubiläum also hat der Chor ein deutsches Lied von Johannes Brahms ausgesucht. Nach der Aufführung kommt ein Mitglied des Chors auf mich zu und will wissen, was „lo siento“ auf Deutsch heiße. Ich antworte „Entschuldigung“ und frage, wofür man sich denn entschuldigen wolle. Für das schlechte Deutsch, natürlich!, heißt es, und dann zeigt die gute Frau mir einen kleinen Spickzettel, auf dem der Text des Liedes in spanischer Transkription geschrieben steht. Da steht dann „Najt“ statt „Nacht“, denn die Mitglieder des Chors selbst können kein Deutsch und wissen gar nicht, wovon sie singen.

Trotzdem bewahrt der Chor eine wichtige Tradition. Am historischen Orte seiner Gründung steht heute, neben dem neu eingeweihten Denkmal (siehe Bildergalerie), ein kleines Museum, das einen Klassenraum zeigt, wie ihn wohl die Einwandererkinder verwendet haben mochten. Die Geschichte Uruguays ist vor Ort sehr lebendig, aber in Deutschland vergessen. Niemand hat uns in der Schule je beigebracht, was Einwanderer aus deutschsprachigen Landen in Amerika, nicht nur in Uruguay, bewegt und aufgebaut haben.

Nach dem offiziellen Teil wird zum Festbankett geladen. Es spielt das Orchestra Municipal de Colonia, hinter dem jede bayerische Blaskapelle vor Neid erblassen muss. Entweder die Uruguayos feiern besser oder ich war bisher auf den falschen Feiern (wahrscheinlich eher beides und letzteres), aber diese Musik reißt mich mit. Als ehemaliger Posaunist kann ich es sehr befürworten, dass anstelle des ewigen, militärischen Tat-tat-tat-tat hier jedes Instrument zu seiner vollen Größe kommen darf, auch wenn ich musikalisch bei dieser Größe schon längst nicht mehr mithalten könnte. Und das Hühnchen schmeckt hier übrigens auch viel besser.
Ich kann also durchaus nachvollziehen, warum die Deutschen damals nach Uruguay ausgewandert sind…

1 Kommentar

  1. Norbert · 2. Oktober 2015

    Die Frage beantworte ich Dir wenn ich Dich besuche: „Niemand hat uns in der Schule je beigebracht, was Einwanderer aus deutschsprachigen Landen in Amerika, nicht nur in Uruguay, bewegt und aufgebaut haben.“

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