Ein halbes Jahr in Baku

Inzwischen bin ich seit über sechs Monaten in Baku, mehr als die Hälfte meiner Zeit in Aserbaidschan ist schon vorbei. 

Ein halbes Jahr nach meiner Ankunft hat sich mein Bild von der Stadt vollkommen verändert; ich habe gelernt, dass sie viel mehr zu bieten hat als ein paar Wolkenkratzer um das internationale Image aufzupolieren. Ganz im Gegenteil, jeder Schritt hinaus aus der inszenierten Modernität und hinein in die Realität ist für mich befreiend und bereichernd gewesen. Baku ist chaotisch, verwinkelt, absurd und voller Widersprüche, oft hat man das Gefühl, dass sich die Stadt in einem Zustand der permanenten Identitätskrise befindet. Das spiegelt sich auch in ihrer Bevölkerung wieder: viele Menschen hier reden über Baku mit einer Mischung aus Abscheu und Liebe, oft habe ich das Gefühl sie gehen viel zu hart mit der Stadt ins Gericht. 

Einen Großteil meiner Freizeit verbringe ich inzwischen auf kleinen Konzerten und Ausstellungen, zusammen mit den Freunden, die ich mittlerweile gefunden habe, erkunde ich seit Monaten all die kleinen Buchcafés und schrulligen Räume in denen Jugendkultur und Kunst in Aserbaidschan stattfindet. Zwischen alten Männern die Backgammon spielen und çay trinken, streunenden Katzen und Sowjetblocks, mit dem Geruch des Meeres und des Erdöls in der Nase fühle ich mich absurderweise sehr frei hier. 

Und trotzdem ist das Leben in Baku natürlich manchmal auch wahnsinnig anstrengend und frustrierend. 

Die konservativen Familienstrukturen, der völlig verrückte Verkehr und nicht zuletzt die Spuren des Krieges, in den Aserbaidschan seit 30 Jahren verwickelt ist, haben mich durchaus an meiner Entscheidung hierher zu kommen zweifeln lassen. Auch die immer noch hohe Sprachbarriere und das Gefühl des fremd-seins sind eine Belastung, jedoch eine die dazu gehört, wenn man ins Ausland zieht. 

Inzwischen habe ich gelernt damit umzugehen, gerne würde ich noch  länger bleiben und freue mich auf die vor mir liegenden fünf Monate in der Stadt des Windes und dem Land des Feuers.

 

Baku, März 2023

Ein Gedanke zu „Ein halbes Jahr in Baku

  1. Nili

    Lieber Julius,
    die Beiträge,die von Ausländern über mein Land geschrieben wird,hat mich schon immer unheimlich interessiert.Heute bin ich ganz zufällig auf deinen Beitrag über Aserbaidschan gestoßen und habe mich ganz spontan dafür entschieden,dir eine Antwort dazu schreiben.Als ich den durchgelesen habe,hat es mich zuerst mal negativ beeindruckt.Dann aber habe ich allmählich begriffen,dass die von dir Angesprochene reine Wahrheit sind.Wenn du mich fragst,woran liegt das? -ich würde sagen ,dass der Hauptfaktor hier die Einstellungen der Bevölkerung zum Stadtleben ist und selbstverständlich unsere geografische Lage.Du kennst ja schon unsere Nachbarländer.Seit jahrzehnten überrolten uns ihre politische Angriffe,sie hegten immer Zorn und Groll gegen uns.Es kommt mir echt verwunderlich vor,dass wir trotzdem noch heute selbstständig sind,worauf ich stolz bin.Du hast Glück dein Land hat keine solche Sorge.Vielleicht meine Antwort ähnelt einem Leserbrief, jedenfalls wollte ich dir mein Herz auschütten.
    Mit herzlichen Grüssen, Nili.

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