Zeugen der Zerstörung

Zeugen der Zerstörung

Zum indigenen Erbe Chiles

Uruguay ist ohne Frage ein sehr schönes Land, mit einer atemberaubenden Natur, die man in Deutschland so nicht mehr vorfindet, und deren touristisches Potenzial (zum Glück?) auch bei weitem noch nicht voll ausgeschöpft ist, aber mit einem hat mich das Land doch etwas enttäuscht: es gibt fast keine Spuren der Ureinwohner. Uruguay ist älter als die Bundesrepublik in ihrer heutigen Form, und dennoch ein junges und geschichtsloses Land. Fast alle Einwohner sind Nachfahren von Europäern. Indigene Spuren sind kaum bis praktisch nicht zu finden, und die Namen öffentlicher Plätze, Straßen und Einrichtungen wiederholen sich von Ort zu Ort mit den immer gleichen Generälen aus dem Freiheitskampf gegen Argentinien.
In Chile sieht das etwas anders aus. Zwar gibt es auch hier unzählige „Faschingsgeneräle“, wie ich sie nenne (der wichtigste ist Ire und heißt, hispanisiert, Bernardo O’Higgins), und die Bevölkerung ist ebenfalls größtenteils europäischer Abstammung, aber diese Land hat eine reiche (und teilweise bis heute unterdrückte) präkolumbiane Geschichte. Den ehemaligen ethnischen Aufbau Chiles weiß ich mittlerweile auswendig. Das Wenige, was von diesen Geschichten übrig ist, lässt sich in Santiago und außerhalb in unzähligen Museen besichtigen. Es sind Zeugen der Zerstörung, Spuren des erbarmungslosen Vernichtungswillens der Spanier, diese „heidnischen“ Kulturen ein für alle Mal auszurotten. Gott sei Dank, muss man sagen, ist es ihnen nicht vollständig gelungen.

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Ausflug zu den Abrafaxen

Ich fühle mich wie bei den Abrafaxen. Was? Die kennen Sie nicht? Sagen Sie bloß, Sie wissen nicht, wer die Abrafaxe sind? Nun, zugegebenermaßen ist dieser Comic in Deutschland fast genauso unbekannt wie das Weltkulturerbe von Colonia del Sacramento. Die Abrafaxe sind drei wichtelartige Freunde, die in der DDR erfunden wurden und in der „längsten Fortsetzungsgeschichte der Welt“ bis heute auf unerklärliche Weise durch die Zeit reisen und Abenteuer erleben. Im Mittelteil der monatlich (leider nicht in Uruguay) erscheinenden Comicheftchen steht traditionellerweise immer eine Erklärung zu den historischen Hintergründen der erzählten Geschichten. Die Abrafaxe sind ein in der Comicwelt wohl einmaliger Mix aus historischen Tatsachen und den fantasievoll erzählten und detailreich gezeichneten Abenteuern, welche die drei Protagonisten erleben. Momentan stehen sie im Mittelpunkt eines Projekts, dass ich mit der sexto an meinem Colegio durchführe, aber dazu nach Beendigung des Projekts auf dem PASCH-Blog mehr. Diese drei Wichtel waren es, die mit ihrem Comic in mir als kleines Kind schon das Interesse für Geschichte geweckt hatten (dass ich mich für Geschichtsthemen interessiere, sollte auf diesem Blog bereits durchgeklungen sein). Und die (erfundene) Reise der Abrafaxe nach Südamerika zur Zeit der spanischen conquistadores war so ziemlich das Wichtigste, was ich vor meiner Ankunft über diesen Kontinent wusste.

Warum alle Religionen gleich sein sollen

In diese kindliche Zeit der Comiclektüre fühlte ich mich also zurückversetzt bei der Betrachtung der zahlreichen Objekte im Museo del Arte Precolombino (Museum der präkolumbianischen Kunst), der bedeutendsten Sammlung ihrer Art, in Santiago der Chile. Hier sind sie auf zwei Stockwerken alle versammelt: die Mapuchen, die Rapa Nui, die Inkas, die Atacameños, aber auch nicht-chilenische mittelamerikanische Völker wie Maya, Azteken, Olmeken, Bibliotheken und wie sie noch alle hießen. Man wird schier erschlagen von der Menge an Fundstücken. Von jedem Volk gibt es ausführlichste Erklärungen zu Lebensraum, zeitlicher Einordnung, Kleidung, Religion und Götterwelt sowie zahlreiche Tonscherben samt ausführlicher Erläuterung, warum sich die Töpferarbeit der Atacameños wesentlich von weiter nördlich gefundenen Exemplaren unterscheidet. Letztlich muss ich sagen: ab einer gewissen Aufenthaltsdauer sinkt sogar bei mir das Aufmerksamkeitsniveau. Irgendwann sehen die Tonscherben alle gleich aus. Und klar, jede Kultur verehrt eine Muttergottheit, weil die für Fruchtbarkeit steht, und eine Sonnengottheit, weil die Sonne für das Leben steht. Ob die jetzt Inti heißt oder Sonstwi, kommt am Ende doch sowieso auf’s gleiche raus. Zum ersten Mal verstehe ich den müßigen Satz meines Vaters, der nach seinen unzähligen Reisen über den Globus festgestellt zu haben glaubt, dass alle Religionen im Grunde doch sowieso gleich seien, jede aber behaupte, die einzig wahre zu sein, weswegen er sich partout nicht mehr für eine einzelne Religion entscheiden könne.

Importkunst aus Europa

Also schnellstens raus aus dem Precolombino und rein in die nächsten beiden Museen (zumindest virtuell gesehen), das Museo Histórico Nacional (nationales Geschichtsmuseum) und das Museo Colonial San Francisco (koloniales Museum heiliger Franziskus), beide ebenfalls in Santiago. Hier trifft mich erneut ein Schock: die Kunst, die hier ausgestellt ist, ist im Wesentlichen spanischen Ursprungs oder spanisch beeinflusst und könnte genauso gut in Europa stehen. Von wegen „histórico nacional“. Das einzige distinkt chilenische, was ich in den unzähligen Porträtschinken der chilenischen Gouverneure, Militärs und Freiheitskämpfer in diesem Museum erkenne, ist die Staatsflagge, und die ist französischen Vorbilds. Im 17. Jahrhundert malte man die spanischen Gouverneure genauso, wie man in Spanien zur Zeit der Renaissance Gouverneure malte, und ein Jahrhundert später malte man die Freiheitskämpfer genauso, wie man die französischen Revolutionäre zur Zeit Napoleons malte. Die erklärenden Textlein dazu, die von Zwei-Klassen-Gesellschaft, sozialer Unterdrückung und industrieller Revolution sprechen, muss ich mir erst gar nicht durchlesen, denn genau das gleiche hat jedes europäische Land auch durchgemacht. Der einzig wirklich interessante Abschnitt, der Putsch gegen Salvador Allende und die darauffolgende Militärdiktatur, wird meiner Meinung nach viel zu kurz dargestellt.

Zeugen der Zerstörung

Es sind also erneut Zeugen der Zerstörung, die da in Form von sogenannten „Freiheitskämpfern“ an der Wand hängen. Für wessen Freiheit kämpften die lateinamerikanischen Helden denn, egal ob Simón Bolívar, José de San Martín oder Bernardo O’Higgins? Für die der indígenas? Nein. Für die der neuen Eliten, Großgrundbesitzer und Sklavenhalter europäischer Abstammung, die sich nicht länger von der spanischen Krone bevormunden lassen wollten. Auch General Washington im Norden zog nicht für die native americans in den Unabhängigkeitskrieg, und die Freiheitsrechte („Jeder Mensch ist frei geboren und gleich an Rechten“), die in der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und später in der Verfassung festgelegt worden sind, galten jahrhundertelang nicht für Ureinwohner und erst recht nicht für Schwarze. Stattdessen hieß es auf einmal: ¡somos chilenos!, wir sind Chilenen!, ob sie es wollten oder nicht. Die jahrhundertelange Geschichte der Ureinwohner galt auf einmal nichts mehr, ging unter in einer auf Blut gegründeten künstlichen Nation. Die Vergangenheit wurde ausgelöscht, erst von spanischen Franziskaner- und Jesuitenpadres mit ihrer den indios eigentlich fremden katholischen Sakralkunst, dann von den neuen Herrschern des unabhängigen Chile. Vom Regen in die Traufe. Niemand weiß heute mehr, dass Santiago einst die Grenze war zwischen dem Inkareich im Norden und den Mapuche südlich der Stadt. Letztere sind ein Volk, das es tatsächlich schaffte, den Spaniern 200 Jahre lang Widerstand zu leisten, und sich, südlich der Wasser des Bió-Bío-Flusses zurückgedrängt, ein eigenes Reich bewahren konnten. Erst der chilenischen Armee gelang es, die Mapuche zu besiegen, mit der tatkräftigen Hilfe deutscher Auswanderer – tja, überall, wo es Verbrecher gibt, sind die Deutschen eben ganz vorne mit dabei. Noch dazu verleibte sich die neue Nation die Osterinsel ein, ein Ort mit ganz eigener Kultur und Geschichte, der eigentlich wie seine Bewohner Rapa Nui heißt. Ob die Rapa Nui chilenisch sein wollten, hatte man sie nie gefragt – beziehungsweise es sie dann konsequenterweise jahrhundertelang auch gar nicht sein lassen und ihnen das Bürgerrecht verwehrt.

Ein echter Moai, angeblich "Geschenk" der Rapa Nui, steht vor dem Museo Fock in Viña del Mar

Ein echter Moai, angeblich „Geschenk“ der Rapa Nui, steht vor dem Museo Fock in Viña del Mar

Der Ruf nach Freiheit

Von den Unabhängigkeitsbewegungen, von den zahlreichen Forderungen nach Entschädigung vergangenen Unrechts und Rückgabe von enteignetem Land, vor allem durch die Mapuche, steht in den ganzen Museen natürlich kein Wort. Man tut so, als würde die Geschichte der indígenas mit der Eroberung durch die Spanier/Chilenen enden – friedlich, ohne Blutspur. Als wären diese Völker problemlos aufgegangen in der neu entstandenen chilenischen Nation, anstatt dahingerottet von eingeschleppten Krankheiten, ausgebeutet durch spanische und nicht-spanische Sklavenhalter und abgeschlachtet von der Hand europäisch stämmiger Soldaten. Dass dem nicht so ist, möge beispielhaft dazu diese mural, dieses Wandgemälde zeigen, die ich in Santiago fotografiert habe:

"¡No somos Chilenos - somos Mapuche!": "Wir sind keine Chilenen, wir sind Mapuche!"

„¡No somos Chilenos – somos Mapuche!“: „Wir sind keine Chilenen, wir sind Mapuche!“

Die Inka in San Pedro

Zum Abschluss dieses sowieso schon wieder viel zu langen Blogbeitrages wage ich einen geographischen Sprung nach Norden, der aber thematische Gründe hat. In San Pedro de Atacama lebt(e)n die bereits erwähnten Atacameños sowie die San-Pedro-Kultur (was für eine kreative Namensfindung). In der Nähe dieser Wüstenoase befindet sich eine kleine Ruine, die auch den Inkas als Verteidigungsanlage gegen die spanischen Invasoren diente. Man muss dazu wissen, dass entgegen meiner so anti-kolonialistischen Darstellung die Spanier in Teilen Südamerikas nicht die ersten Eroberer waren. Nur erstaunlich kurz vor ihnen waren es die Inka, die sich ein riesiges Reich zusammenklauten. Über diese Geschichte berichtet auch mein berühmtes Abrafaxe-Heftchen, und so schließt sich der Kreis. Die Ruinen, die man heute noch besichtigen kann, egal ob in der Atacama oder sonst wo, sind Zeugen der Zerstörung, verursacht von Eindringlingen, die man für Götter hielt. Und die bis heute das Land beherrschen.

Mehr Informationen zu den Abrafaxen finden Sie übrigens auch auf www.abrafaxe.com.

4 Kommentare

  1. Norbert · 10. April 2016

    Ich wusste das Klemens jetzt dafür eingeladen wird 🙂 Sicherlich nicht das richtige Forum für eine öffentliche Diskussion dieser Art, aber trotzdem eine interessante Frage meine Behauptung….

    • Jan Doria · 11. April 2016

      Das weiß ich nicht, ob das hier das richtige Forum ist. Ich für meinen Teil behaupte schon, dass das Christentum eine distinkte Botschaft („Evangelium“) besitzt, die es von allen anderen Religionen unterscheidet. Wer diese Frage lieber privat mit mir diskutieren will: im Impressum steht meine E-Mail-Adresse: janenuruguay@gmx.de.

  2. Norbert · 8. April 2016

    „Zum ersten Mal verstehe ich den müßigen Satz meines Vaters, der nach seinen unzähligen Reisen über den Globus festgestellt zu haben glaubt, dass alle Religionen im Grunde doch sowieso gleich seien, jede aber behaupte, die einzig wahre zu sein, weswegen er sich partout nicht mehr für eine einzelne Religion entscheiden könne.“ Sehr gut kommentiert….. Ich lade hiermit Theologen zur einer Diskussion zu diesem Thema ein…. Ich will nicht die Feinheiten ein jeder Religion (und der einzelnen „Unterreligionen“) kennenlernen und diskutieren, da hat sowieso jeder für sich Recht. Ich stelle einfach diese Aussage in den Raum und suche Widerspruch.

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