Beim Ayers Rock von Uruguay
Die Uruguayos nennen ihr Land ja selbst paísito (das kleine Land), was mit “Ländle” nur deswegen unzureichend übersetzt ist, weil man in Deutschland darunter die fleißigen Schwaben aus Bade-Württeberg (“Mir chönne alles, uußer Spanisch!”) versteht, und die haben mit Uruguay nun (fast) gar nichts zu tun – bis auf ein paar Einwanderer vielleicht. Man könnte auch In meinem kleinen Land sagen, wie Jan Weiler seine eigene Deutschlandtour betitelt hat, dessen Schreibstil übrigens das einzige literarische Vorbild für diesen Blog ist. Wir auch immer, auch ich hatte nun endlich Besuch aus Deutschland, von meinem Vater nämlich, und mit ihm bin ich knapp eine Woche 1500 km per Mietwagen durch Uruguay gefahren. Am Ende muss ich sagen, dass ich “mein” kleines Land nun viel besser kenne, seine Bewohner viel besser verstehe. Denn ja: auch nach einem halben Jahr habe ich noch Neues kennengelernt. Ich verspreche dem geneigten Leser (wenn er die folgenden sechs Word-Seiten (ohne Bilder) alle fleißig durchhält): brasilianischen Karneval, Ñandus, viele entledigte Vorurteile – und den Ayers Rock von Uruguay.
¿Nací aquí? – von Carlos Gardel und dem Valle Edén
Unsere Tour begann in der Hauptstadt Montevideo, über die ich aber bereits ausführlich genug geschrieben habe, weswegen ich gleich einen 450 km weiten Sprung mache nach Tacuarembó, in das Herz des Landes. Und von hier aus nach Valle Edén, dem Geburtsort von Carlos Gardel. Bitte was?, würden stolze Argentinier jetzt anfügen. Der “König des Tango” und größter Tango-Sänger aller Zeiten ist doch ein Porteño aus Buenos Aires, oder vielleicht allerhöchstens noch ein gebürtiger Franzose, aber doch niemals ein Uruguayo! Tatsächlich ist die Herkunft des Tangostars bis heute ungeklärt und einer von vielen Zankäpfeln zwischen Argentinien und Uruguay. Wer macht die bessere Dulce de Leche, wer trinkt den besseren Mate, wer hat den Tango erfunden, die beiden Länder können eigentlich nicht wirklich miteinander. Lateinamerikanische Solidarität, das hat sowieso noch nie funktioniert. Uruguay kann nicht mit Argentinien, Argentinien nicht mit Brasilien, Brasilien zankt sich mit Paraguay, Bolivien mit Chile und Argentinien wiederum streitet sich mit Chile. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann zanken sie noch heute.
Wie auch immer, im Museo Carlos Gardel verkündert eine Pappfigur Gardels stolz: Nací aquí, en Tacuarembó, que es obvioso aclarar, “Ich bin hier geboren, in Tacuarembó, was doch offensichtlich ist”, und an der Wand daneben hängt eine riesige Fotokopie einer Bestätigung des örtlichen Polizeipräsidenten, dass dies auch wirklich stimmt. Nun ja. Ich kann Ihnen auch eine höchstrichterliche Bestätigung ausstellen, dass alle Erdbeeren blau sind, und es stimmt trotzdem nicht. Museen können sie sowieso nicht kuratieren in diesem Land. Die meisten Museen, insbesondere in den kleineren Orten des Interior, funktionieren so: es gibt einen großen Aufruf an alle Bewohner, wer einen alten Küchenschrank hätte, möge diesen doch bitte dem Stadtmuseum spenden. Dann kommt ein kleines Schildchen darunter, das stolz den Namen des großzügigen Spenders verkündet, und das wird dann den wenigen Touristen, die sich in dieses Nichts verirren, als “Museum” verkauft. Keine weiteren Erklärungen, keine Zusammenhänge, und natürlich auch keinen englischen Übersetzungen.
Übersetzungen waren auf der ganzen Reise nämlich meine Aufgabe. Mein Vater spricht zwar ein bisschen Volkshochschul-Spanisch, das reichte aber erstens bei weitem nicht aus und zweitens spricht man hier ja sowieso Ríoplatense, also Dialekt auf Spanisch. Die ausführlichen Erläuterungen von Posadabesitzer Fredo zu dem Originalschreibtisch, an dem angeblich Carlos Gardel persönlich gesessen haben soll, musste ich also alle selber übersetzen. Seine Posada Valle Edén ist des Namens – Tal Eden – wirklich würdig, allein schon landschaftlich. Die Posada war ursprünglich mal ein Gemischtwarenladen, der nach der Restauration in neuem Glanz erscheint und über 1000 Maschinen, Objekte und Gegenstände hauptsächlich aus der Landwirtschaft beherbergt, darunter aber auch Raritäten wie eine alte Zeiss-Kamera aus Jena und ein historisches Buch zum Exil des uruguayischen Nationalhelden Artigas in Paraguay. Von der Natur her erinnerte mich der Ort an Villa General Belgrano, nur ohne Deutschtümelei. Eine wundervolle Natur kombiniert mit einem prächtigen Sternenhimmel, da die Lichtverschmutzung hier viel geringer ist. Man kann in Uruguay fast immer die Milchstraße erkennen, was in Deutschland wegen den vielen hellen Städten ein Ding der Unmöglichkeit ist. Eigentlich sollte ich kulturweit vorschlagen, ihr Zwischenseminar auch mal hier abzuhalten, ich selbst werde vielleicht auch noch mal wiederkehren. Und nein, ich bekomme jetzt kein Geld für diese Schleichwerbung!
Das Ende der Vorurteile
Und ja, die Deutschen. Deutsche Spuren trifft man hier ja überall, und in fast allen Hotels auf der Reise sagte man uns, dass besonders viele Deutsche hier herkämen. kulturweit hat mich ja offiziell ausgesandt, um ein “positives Deutschlandbild” zu verbreiten, aber zumindest in Uruguay ist das gar nicht mehr nötig. Ein Zitat aus einer Mail einer Uruguaya, die ich vor kurzem erhalten habe:
Este Uruguay es inestable, por eso amo el sistema Aleman (sic), cada vez que voy a tu país me siento muy bien y distendida, todo es diferente, todo funciona, la gente tiene palabra, pero bueno, tengo que vivir acá.
Dieses Uruguay ist instabil, deswegen liebe ich das deutsche System. Jedes Mal, wenn ich dein Land besuche, fühle ich mich sehr gut aufgehoben. Alles ist anders, alles funktioniert, die Leute halten Wort, aber gut, ich muss eben hier leben.
So geht das seit einem halben Jahr schon. Das erste, was ich zu hören bekomme, wenn ich irgendjemandem erzähle, dass ich aus Deutschland komme, ist, dass man selber entweder a) schon in Deutschland war, b) deutsche Vorfahren hat und darauf stolz sei, c) gerne mal (wieder) nach Deutschland reisen würde (aber kein Geld dafür habe) oder d) alles gleichzeitig. Da ist die größere Herausforderung manchmal, den Leuten klarzumachen, dass auch in Deutschland nicht alles perfekt ist. Deutschland, da funktioniert eben alles, da sind die Leute pünktlich, da gibt´s keine Probleme. Das Brot ist besser, das Bier sowieso und der Fußball ist bewundernswert (insbesondere aus uruguayischer Sicht, aus brasilianischer nicht so…). Auch Posadabesitzer Fredo, der eigentlich Automechaniker ist, erklärt mir mit Bewunderung in der Stimme, dass bei einem deutschen Mercedes die Kabel immer genau in der Mitte verlegt sind, nicht links, nicht rechts daneben, während bei einem uruguaischen Auto die Kabel irgendwie reingewurschtelt seien, so dass sie grad noch so am Kurzschluss vorbeischrammen. Wir Deutschen stehen uns da mit unserer ewigen Bedenkenträgerei manchmal selbst im Weg. In jeder Kirche die Nationalflagge hinter dem Altar, da würde in Deutschland die Polizei kommen und den Pfarrer verhaften. Ganz einfach.1
Hier in Uruguay ticken die Uhren natürlich anders. Hier gibt es eine uruguayische Zeit (grundsätzlich mindestens 30 Minuten zu spät) und eine uruguayische Technik (grundsätzlich alles gerade so kaputt, dass es noch halbwegs funktioniert). Insbesondere im Interior (niemals Pampa! Die Pampa ist in Argentinien, nicht in Uruguay. Auch wenn´s botanisch das gleiche ist), wo es nach der Feststellung meines Vaters nur Nichts gebe, davon aber viel, und wo alle paar hundert Kilkometer mal ein Bauer am Straßenrand in aller Ruhe seinen Mate trinkt, ist mein Vater halb verrückt geworden. Er hatte als guter Deutscher die gesamte Reise minutiös und Monate im Voraus durchgeplant, und seine größte Sorge war, dass wir den Plan nicht würden einhalten können. Meine Gastmutter hatte mich sowieso schon angeschaut wie das erste Auto, aber das hier die Leute sich überhaupt keinen Stress machen, mit gar nichts, das war er einfach nicht gewöhnt. Ich aber schon. Nach der Ankunft hier haben mich ja alle gefragt, ob ich einen Kulturschock hätte, und ich meinte, dass Uruguay so europäisch geprägt sei, dass ich niemals in den Genuss eines solchen kommen könnte. Das bin ich bis jetzt auch tatsächlich nicht, aber nach meiner Rückkehr in Deutschland steht mir das wohl noch bevor. Wenn es dann an der Uni heißt, um acht Uhr beginnt die Vorlesung, und ich mich an die uruguayische Zeitrechnung erinnere und erst um acht Uhr dreißig mit dem Mate in der Hand eintrudele, weil vorher fangen die ja sowieso nicht an.
Artigas
Mitten im Nichts
Ich bin etwas abgeschweift. Der nächste Stopp auf unserer Tour war das kleine Städtchen Artigas an der brasilianischen Grenze, (leider nur) landesweit bekannt für seinen brasilianischen Karnveal. Die internationalen Touristen gehen natürlich alle direkt nach Rio de Janeiro. Doch nach auch Artigas muss man ja erst mal hinkommen. Eigentlich hätte es eine sehr gute befestigte Straße auf der brasilianischen Seite gegeben, aber da durften wir aus versicherungsrechtlichen Gründen leider nicht hinüber (im Zweifelsfall hätte es wahrscheinlich sowieso niemanden interessiert, aber wie gesagt, wir sind Deutsche, wir müssen alles richtig machen). Also eben die Ruta 30. Diese ist ebenfalls landesweit berühmt, nämlich für ihren grauenhaften Zustand. Mein Vater hat gleich wieder Panik bekommen und meinte, die Ruta 30 heiße so, weil man dort nur genau so schnell fahren kann: 30 km/h eben. Wir würden nie ankommen. Die ersten 30, 40 Kilometer war das auch der Fall. Dann ging es den Berg (300 Meter…) hoch und die große Überraschung: geteerte Straße. Fast keine Schlaglöcher. 70 , 80 km/h ohne Probleme möglich, zumal ohne Gegenverkehr. Wir sind tatsächlich mitten im Nichts gefahren, 100 Kilometer weit stur geradeaus. Kein Haus, kein Dorf, kein Gegenverkehr, keine Tankstelle, nichts, nur eine Kuh, eine tote Schlange und ein Ñandu mit seiner Brut. Die Kuh ist einfach mitten über die Autobahn gelatscht und wir hinterher. Bei der Schlange sind wir 500 Meter später angehalten, umgekehrt, mitten auf der Autobahn gewendet (meine alte Fahrlehrerin hätte einen Hautausschlag bekommen), nur um das Ding zu fotografieren. Wir sind sowieso oft angehalten, um die Natur zu fotografieren, die so weit im Norden tatsächlich ganz anders ist als im Süden. Das hätte ich gar nicht gedacht. Diese Weite, diese Leere ist einfach atemberaubend. Lateinamerika erscheint auf unseren Landkarten immer kleiner, als es eigentlich ist. In Wirklichkeit ist dieser Kontinent einfach riesengroß – und menschenleer.
Weil das in Deutschland aber keiner weiß, kommen eben Single Storys (mehr zum Thema Single Story siehe hier) zustande wie diese. In Artigas brachte meine tagesschau-App ein Bild auf meinen Handybildschirm, auf dem man einen Arbeiter in Kolumbien eine Wohnung mit Insektenspray einsprühen sah, zusammen mit der Bildunterschrift: „Alltag in Mittel- und Südamerika“.Soso. Ich bin hier mitten in Südamerika, sogar in Gehweite zur brasilianischen Grenze, aber von Zika ist hier absolut nichts zu spüren. “Alltag in Südamerika”, das mag vielleicht in Kolumbien so sein, aber in Uruguay ist es diesen Viechern (tatsächlich, trotz 35-Grad-Hitze) schlicht und einfach zu kalt und zu trocken. Aber diese feinen Unterschiede sind dem durchschnittsdeutschen BILD-Leser einfach nicht vermittelbar, und anders kommt diese Weltgegend bei uns ja sowieso nie in die Nachrichten. Ich hoffe, das mit meinem Blog für einige wenige Menschen zumindest ein bisschen ändern zu können.
Aber nicht einmal kulturweit ist vor diesen Vorurteilen gefeit: als es noch nicht hieß “Zika!!!”, sondern “Überschwemmungen!!!” (als also die Region das letzte Mal in den deutschen Nachrichten war), da sandte kulturweit an alle Freiwilligen in Paraguay, Uruguay und Chile eine E-Mail und bat um eine persönliche Einschätzung der aktuellen Sicherheitslage. Natürlich, das war gut gemeint, und es ist auch richtig und wichtig, dass man sich in Berlin Sorgen um uns macht, aber das klang in meinem Ohren trotzdem schon fast wie direkt aus dem Krisenzentrum des Auswärtigen Amts – war also in meinem Fall recht schnell beantwortet: die Überschwemmungen betrafen nur den Río Uruguay im Norden des Landes, wo wir gar keine Freiwilligen haben. Das war ungefähr so, als würde man behaupten, in Hamburg ist die Elbe über die Ufer getreten und deswegen kann man leider Bayern nicht mehr besichtigen. Mit meinem Vater bin ich jetzt sogar in die angeblich betroffenen Gebiete gereist: nichts zu sehen. Ham se alles wieder aufjeräumt.
Wenn Deutsche nach Brasilien reisen…
Umso mehr zu sehen gab es dagegen in Artigas. Unter anderem Brasilien, die kleine Stadt Quaraí war zu Fuß über die Brücke zu erlaufen. Wir als ordentliche Deutsche hatten uns natürlich zuvor ausführlichst auf der Homepage des Auswärtigen Amtes informiert und beruhigt festgestellt, dass auch Brasilien uns ohne Probleme mit Stempelvisum ins Land lassen würde. Wir haben uns dann auch fein säuberlich das dreisprachige (spanisch, englisch und portugiesisch) Schild an der Grenze durchgelesen, wonach man mehr als 10.000 US-Dollar leider nicht zollfrei einführen dürfe (die muss man erst mal haben, die 10.000 Dollar) und so weiter. Dann sind wir zur uruguayischen Ausreise spaziert und wollten unseren Stempel haben. Allein dieses Ansinnen erschien der Grenzbeamtin bereits so seltsam, dass sie ungewöhnliche Ewigkeiten brauchte, um uns endlich den Stempel in den Pass zu drücken. Das kam uns zwar komisch vor, aber wir dachten uns nichts weiter dabei und meinten, dass liege daran, weil hier im so weit abgelegenen Interior wohl nicht allzuviele deutsche Reisepässe auftauchen. Nachdem wir endlich unseren Salida-Stempel hatten, marschierten wir zu den brasilianischen Kollegen und wollten von diesen einen Einreisestempel haben. Der Grenzer sprach mich daraufhin auf portuguiesisch an, woraufhin ich ihm auf Spanisch unser Ansinnen zu erklären versuchte. Was leider, trotz aller romanischen Verwandschaft dieser beiden Sprachren, auf beiden Seiten nicht gelangt. Also erst mal den englisch sprechenden Kollegen suchen. Der erklärte uns dann nach einigem Hin und Her, dass wir gar kein Visum bräuchten! Als Touristen, die zu Fuß einreisten, nicht in Brasilien übernachten wollten, keine zollpflichtige Ware mitführten und innerhalb einer Zone von 50 Kilometern bleiben wollten, dürften wir ohne jede Kontrolle einfach über die Brücke laufen, hieß es. Aha. Hatte uns vorher leider keiner gesagt. Na gut. Und wie kommen wir jetzt wieder zurück? Einen uruguaischen Ausreisetempel hatten wir ja schon, und einen Einreisestempel brauchten wir ja wieder, sonst würde man uns für illegal eingereiste Flüchtlinge vor der Merkel´schen Willkommenskultur erklären. Dann müssten wir Asyl beantagen und das kann in Deutschland ja bis zu drei Jahre dauern, also hier mindestens dreißig (von wegen, alles ist perfekt bei uns). Scherz. Geht auf jeden Fall nicht ohne Wiedereinreisetempel. Also wieder zurück zu der verblüfften uruguaischen Grenzerin, da die Grenzstation in fünf Minuten dummerweise schon schloss. Nach weiteren ausgiebigen Erklärungen (diesmal wieder auf Spanisch) und der beiläufigen Erwähnung der Tatsache, dass ich für das Auswärtige Amt arbeite (“Sie wollen doch keinen dipolmatischen Zwischenfall riskieren…?”) und den Botschafter in Montvideo persönlich kenne (erneut Scherz, ich übertreibe mal wieder) meinerseits ließ man uns wieder ins Land. In Colonia del Sacramento bei der Ausreise nach Argentinien haben sie mich dann noch mal gefragt, wo ich denn bitteschön das Land betreten hätte mit meinem doppelten Stempel im Pass, und ich habe mein Sprüchlein aufgesagt und gut war´s.Wenn mich nun einer fragen sollte, ob ich jemals in meinem Leben in Brasilien war, kann ich wahrheitsgemäß antworten: ja, drei Mal. Aber nie in Rio.
Gender Mainstreaming beim Karneval
Denn brasilianischen Karneval gibt´s auch außerhalb der riesigen Metropole Rio de Janeiro. Zwar etwas langsamer, ruhiger, uruguayischer halt, mit Mate statt Caiprinha, aber es gibt ihn. Brasilianischer Karneval ist ja mal was ganz anderes, als Bayer bekommt man das sonst nicht zu sehen. Und in der Tat kann ich auch hier von aufgeklärten Vorurteilen berichten: Karneval in Uruguay ist nicht wie Karneval in Deutschland. Wir stellten uns natürlich erst mal um die Karten an und fragten, wann der Umzug denn bitte loszugehen gedenke. Um 23 Uhr, hieß es. O Gottogott. Und wann hört das dann wieder auf? Ja, so gegen drei, vier Uhr nachts. Uff. Wir gingen natürlich davon aus, dass der Umzug in einem Rutsch durchlaufen würde, ohne Pause, ohne Unterbrechung. Wie in Deutschland eben. Fünf Stunden, das wäre dann doch ziemlich heftig! Aber gut.
Doch erstens kommt es meistens anders, und zweitens als man denkt. Der Umzug war nach Sambaschulen sortiert, und jede Sambaschule lief einzeln. Mit einer Pause von bis zu einer Stunde dazwischen, die mit Werbung für die üblichen Sponsoren ANTEL (Telefon & Internet), Abitab (Geldtransfer), ANCAP (Sprit), OSE (Wasser), UTE (Strom), Banco República (Bank) und wie die ganzen uruguaischen Quasimonopol-Staatsbetriebe noch alle heißen gefüllt wurden. Fehlte nur noch die Stadtsparkasse von Oberkuckucksheim, und dann wäre das fast schon wieder so wie in Deutschland gewesen.
Doch auch bei den Sambaschulen selbst gab es Neues zu entdecken: ich wusste zum Beispiel nicht, dass diese Schulen immer im gleichem Aufbau marschieren, so ähnlich wie unsere Faschingsvereine in Bayern. Ich kriege den Aufbau leider nicht mehr hin, es ist aber auch egal: die Kostüme waren allesamt beeindruckend. Jede Schule hatte sich eine Art Motto gewählt, das von ihren unzähligen Anhängern auf unterschiedlichste und kreative Art und Weise umgesetzt und fortgeführt wurde, Umzugswagen inklusive – die hier allerdings geschoben (!) und nicht vom Traktor gefahren wurden. Auch die Soundtechnik entsprach eher dem uruguaischen Standard. Bei jeder Sambaschule lief ein Tonwagen mit kilometerlang aufgerolltem Tonkabel mit, denn die Musik wurde live von den mitlaufenden Sängern performt (das allerdings sollten sie in Deutschland mal machen!) Neben dem Tonwagen lief der Tonmeister und rollte alle paar Meter das Kabel auf. Nach Ende der Sambaschule schnappte er sich eine kleine Holzschubkarre und sammelte mithilfe eines Kollegen das gesamte Kabel wieder auf. Diese Vorgehensweise erklärt vermutlich die langen Pausen…
Trotzdem, die faszinierenden Kostüme und wilden Tänze haben das allemal entschädigt. Zumal die Frauen bei der Hitze sowieso fast alle fast nackt waren in ihren brasilianischen Samba-Kostümen. Eine Frau lief tatsächlich sogar nur mit Körperfarbe bemalt herum. Da scheißen sie sich bei uns in Deutschland wegen Köln in die Hosen, und hier schaut das alles doch sowieso ganz anders aus. Hier sollten sie mal einen syrischen Flüchtling herschicken, dem würden Augen und Ohren vergehen!2
Und trotzdem: auch die Sambatänzerinnen überraschen mich, sogar gleich zwei Mal. Erstens: es gibt auch männliche Sambatänzer, die mindestens genauso spärlich gekleidet sind wie ihre weiblichen Kolleginnen und mindestens genauso aufreizend mit ihrem Po wackeln. Gleichheit der Geschlechter, nur anders rum. Ich komme mir vor wie beim Christopher Street Day (kein Wunder, Uruguay hat als eines der ersten Länder der Welt die Homo-Ehe legalisiert) und kann das nur gutheißen. Normalerweise würde hier die Frau als Sexsymbol im alleinigen Mittelpunkt der männlichen Begierde stehen. Auf dieser Art und Weise gibt´s für die Frauen aber auch mal was zum Glotzen (etwas derb ausgedrückt. Zumal sowieso keiner geglotzt hat).
Was mir dagegen sehr sauer aufgestoßen ist, war die Tatsache, dass sogar Kinder im Kleinkindalter, jünger als meine eigene Schwester, zu dieser Uhrzeit bereits halbnackt über die Straße stolzierten und ihren Körper präsentierten wie ein Pfau. Ich hatte ja schon vorher gewusst, dass es in Uruguay in fast jedem Dorf eine Misswahl gibt, mit Reina und Reina Niña, die dann gemeinsam das Dorf ein Jahr lang präsentieren durften wie in Deutschland die (deutlich ältere) Weinkönigin. Ich hatte sogar an der Misswahl von Nueva Helvecia teilgenommen, mit dem Ergebnis, dass ich schockiert und empört nachts um zwölf aus dem Kino, das als Veranstaltungsort diente, wieder herauskam. Aber so was? Machen die Kinder das freiwillig? Verstehen die überhaupt, was sie tun und was sie symbolisieren? Oder bin nur ich es, der in seiner Deutschenblase eine fremde Kultur nicht zu verstehen in der Lage ist?
Beim Ayers Rock von Uruguay
Ich habe ja die ungute Angewohnheit, diejenigen Dinge, die ich im Teaser oder gar in der Überschrift eines Blogbeitrags groß ankündige, erst ganz am Ende zu bringen. Wer weiß, wie viele Leser mich das schon gekostet hat. Hier also für all diejenigen, die bisher noch durchgehalten haben (aber nicht schummeln und einfach drüberscrollen!), der Bericht über den Ayers Rock von Uruguay.
Der heißt eigentlich Piedra Pintada, “bemalter Stein”, und war unser letztes Ausflugsziel in Artigas. Es handelt sich dabei um einen großen Felsen, der sich etwas außerhalb der Stadt mitten in der Pampa erhebt und seinen Namen der Tatsache verdankt, dass unzählige Schaulustige seit Jahrhunderten nichtssagende Botschaften in den Felsen kratzen. Außenrum haben findige Tourismusmanager ein Schwimmbad aufgebaut, weswegen der Stein bei den Einheimischen als beliebtes Ausflugsziel gilt. Arg viel mehr gibt´s aber nicht zu sehen. Mein Vater erzählt mir noch etwas über vollverschleierte Frauen in Dubai, dann kehren wir wieder um.
Der Acuífero Guaraní
Die letzte Station auf unserer Reise waren die Thermalbäder von Salto. Dazu gibt es nicht allzuviel zu schreiben (zumal mir mittlerweile auch die Finger wehtun), außer, dass sich letztere vom drittgrößten Süßwasserreservoir der Welt gespeist werden, dem acuífero guaraní. Er erstreckt sich über einen guten Teil der Fläche Uruguays, dazu noch Argentiniens, Brasiliens und Paraguays, insgesamt xxx km2. Ohne diesen Wasservorrat wäre das Interior bei weitem nicht so grün, wie ich es kennengelernt habe. An diesem Tag spendete uns das Reservoir bis zu 40 Grad heißes Badewasser. Der Rest lässt sich am Besten in Bildern fassen:
Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?
Zum Abschluss dieser langen Rundreise kann ich sagen: sie hat mich “meinem” Land eindeutig näher gebracht. Doch ist das wirklich “mein” Land? Ich trinke Mate wie ein Uruguayo, spreche Spanisch mit uruguayischem Akzent, und doch wird mir beim Blick auf den kulturweit-Blog und auf meine liebe Mitfreiwillige Josephine aus Montevideo, die jetzt schon abreist, schmerzhaft bewusst, dass meine Zeit hier bereits zur Hälfte vorbei ist. Aber andererseits heißt das: es bleibt mir noch eine ganze Hälfte übrig! Und ich habe noch viel vor.
Mein Identitätsproblem löst das nicht. Immer, wenn mich einer bisher gefragt hat, woher genau ich denn käme, habe ich geantwortet: aus einem kleinen Dorf in Bayern. Dabei stimmt das gar nicht mehr. Erstens wohne ich momentan nicht dort, zweitens werde ich nie wieder längere Zeit dort wohnen, weil das Dorf zwar keine Uni, dafür aber einen CSU-Oberbürgermeister und mir dadurch keine ausreichende persönliche Zukunft bietet, und drittens bin ich sowieso nicht dort geboren. Was also ist meine Heimat? Uruguay hat mich da etwas durcheinandergebracht. Auf die obligatorische Frage nach der Herkunft “Uruguay” zu antworten, hat nur noch mehr Fragen bei meinen Gesprächspartnern hervorgerufen. Ich glaube, ich kann mich gar keinem Staat mehr zuordnen. Schon vor der Abreise habe ich mich mehr als Europäer bezeichnet. Jetzt werde ich ein Weltenbürger sein.
1Mein Geschichtslehrer erzählte uns einmal die Story von seinem Freund, der dummerweise am 20. April Geburtstag hatte. Führers Geburtstag. Der Freund ließ sich davon aber nicht abhalten und schmiss eine Party in seinem Haus. Irgendwann fuhr draußen zufällig eine Polizeistreife vorbei, die sich natürlich das Ihrige dachte und das Geburtstagskind auf der Stelle verhaften wollte. Es hat eine ganze Weile gedauert, den übereifrigen deutschen Polizisten zu erklären, dass hier eben nicht Hitlers Geburtstag gefeiert wurde. Der arme Mann hat seinen Geburtstag dann nie wieder am 20. April gefeiert.
2Tatsächlich nimmt Uruguay schon seit längerem einige Kontingentflüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg auf, die unter der Bevölkerung erwartungsgemäß nicht sehr beliebt sind und von denen ich auch noch keinen einzeigen gesehen habe. Auch nicht beim Karneval.