Eine Woche Urlaub?
Zum Sinn und Unsinn von Zwischenseminaren. Ein Erfahrungsbericht.
Zehn Stunden Busfahrt über Nacht, das klingt erst mal abschreckend. Tatsächlich wurde mir aus Deutschland davon auch abgeraten: Flieg lieber! Nur 1. zahlt kulturweit keine Flüge, 2. sind Flüge umweltschädlich und 3. muss ich noch mal daran erinnern, dass hier Fernbusse eine andere Stellung haben als in Deutschland. Insbesondere hier in Argentinien, in Villa General Belgrano, dem Ziel meines Zwischenseminars.
Kleine Fernbuskunde
Argentinien ist groß, und Flugreisen sind teuer. Deswegen gibt es ein ausgedehntes Nachtbussystem, welches das ganze Land verbindet. Während in Deutschland noch Fernbusanbieter wie MeinFernbusFlixbus mit schwarzer Brille und Dreitagebart silicon-valley-mäßig dreinschauen, als hätten sie mit ihrer Fernbusapp das Rad neu erfunden, ist Busfahren hier Alltag. Im Spanischen gibt es meines Wissens nach gar kein Wort für „Fernbus“. Ich fahre mit dem „omnibús“, also mit nichts weiter als dem Omnibus, y tá. Der Bus verfügt deswegen über besonders breite Stühle mit besonders viel Fußraum und einer besonders weit nach hinten verstellbaren Lehne, die online als cama ejecutivo verkauft werden. Ich schlafe recht gut in diesem „ausführendem Bett“ und komme frühmorgens als erster in Villa General Belgrano an.
„Deutschinargentinien“
Villa, wie es die Einheimischen kurz nennen, ist ebenso wie meine Einsatzstelle Nueva Helvecia von europäischen Einwanderern geprägt, allerdings von deutschen und nicht von schweizerischen. Beim Thema Tourismus könnten sich meine Neuhelvetier aber noch eine Scheibe abschneiden: mit seinen drei großen Festen Oktoberfest, Fiesta de la Masa Viena und Fiesta del Chocolate Alpino hat es sich als argentinienweit bekanntes Kuriosum deutscher „Traditionen“ etabliert. Der gesamte Dorfkern ist auf „deutsch“ getrimmt: bereits am Busterminal begrüßt ein stolzer Bayer in Lederhose.
Die Hauptgeschäftsstraße besteht scheinbar nur aus je abwechselnden Läden für mehr oder weniger deutsche Kekse und Läden für mehr oder weniger deutsche Bierkrüge mit der Aufschrift „Oktoberfest Villa General Belgrano“. An jedem Geschäft hängt ein überdimensioniertes Holzschild, das die „artesanías“ des Ladens laut anpreist.
In einer Bäckerei gibt es Dresdner Stollen für unverschämte 100 Pesos, also 10 Euro. Im Oro del Rin in Montevideo kostet der gleiche Stollen auch 100 Pesos, nur eben pesos uruguayos, und die sind in Euros halt nur ein Drittel.
Ich fühle mich wie im Schwarzwald und weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Andere Seminarteilnehmer erkennen in dieser Landschaft wahlweise Bayern, Thüringen oder das wieder, was es nun mal ist: Kitsch. Unsere beiden Trainerinnen thematisieren den Umgang mit dieser Einwanderervergangenheit natürlich gleich zu Beginn mit einer Art Stadtrallye, in der wir diverse Einheimische zu ihrer Einstellung zu diesem Dorfzentrum befragen, sowie eines Vortrags einer jungen, engagierten Dorfhistorikerin. Villa General Belgrano, so erfahren wir, war ursprünglich indianisches Siedlungsgebiet. Auf der Suche nach Gold vermischten sich die Spanier mit der Urbevölkerung. Die Kreolen entstanden. Groß wurde das Dorf nun durch seine Nähe zur Departamentohauptstadt Cordoba und der Tatsache, dass hier angeblich die besten Äpfel der Region wuchsen. 1939 nun versenkte Kommandant Hans Langsdorff absichtlich das deutsche Kriegsschiff „Admiral Graf Spee“ im Río de la Plata vor Montevideo, damit es nicht den feindlichen Engländern in die Hände fiel. Die Besatzung ging nach Buenos Aires, von wo aus wiederum ein Teil als Kriegsgefangene von der argentinischen Regierung nach Villa General Belgrano entsandt wurde, das damals noch anders hieß. Der Boden in ihrer neuen Heimat erwies sich jedoch als unfruchtbar und steinig, und so verlegten sich die Deutschen auf das Herbergswesen. Mit einer Ferienanlage für Schüler aus Buenos Aires begann der Aufbau zum touristischen Freilichtmuseum pseudo-deutscher Kultur. Heute erinnert man sich gerne an die laut Klischee so „fleißigen“ Deutschen. Von den indígenas, den Verlierern der Geschichte, jedoch kein Wort.
Urlaub auf Staatskosten?
Ob die Deutschen jedoch tatsächlich so fleißig sind, wage ich zu bezweifeln. Zumindest was dieses Seminar angeht. Schon von Anfang an war mir persönlich der Sinn dieses Seminars unklar. Natürlich, wir sollten an unseren „Freiwilligenprojekten“ arbeiten. Sehr sinnvoll, wenn in den sich anschließenden Sommerferien die Schulen zu haben. Außerdem hatte ich bei den Freiwilligenprojekten immer das Gefühl, das wir sie einfach nur um des Projekts willen machen. An den Einsatzstellen besteht kein Bedarf für irgendwelche Projekte. Es sind wir, die wir uns hinstellen und sagen: „So, jetzt komme ich!“, und nicht die Einsatzstellen, die sagen: „Könntest du mal…?“. Und dann natürlich der Rückblick, die Evaluation, „den Blick nach innen richten“, „zur Ruhe kommen“, „sich austauschen“ und „seine Ziele betrachten“. Ich kann das Wort „Austausch“ mittlerweile nicht mehr hören. Für mich war das Seminar eine tolle Zeit, eine schöne Gelegenheit, um all die anderen Freiwilligen besser kennenzulernen, aber einen wirklichen Sinn dahinter sehe ich nicht. Für mich war es zu wenig tatsächlich greifbarer Inhalt und zu viele Gesprächsrunden, in denen jeder sein bisschen Allgemeinwissen hervorkramt und am Ende doch nicht schlauer wird, weil ein wirklicher Experte fehlt, der sich mit dem Thema auskennt. Das gesamte Seminar war aus meiner Sicht eine Woche Urlaub auf Staatskosten, ein sehr schöner Urlaub zwar, aber eben Urlaub und nicht Arbeit. Ich habe einmal versucht, hochzurechnen, wie viel eine Runde Seminare (bei einer angenommenen Zahl von 9 Zwischenseminaren) für alle Freiwilligen kulturweit kostet. Ich kam auf rund 90.000 Euro. Diese werden größtenteils aus Steuergeldern bezahlt (welche noch dazu als „Entwicklungshilfe“ im Budget des Auswärtigen Amtes abgerechnet werden), und für diese Steuergelder muss sich kulturweit rechtfertigen. Das ist der fünfeinhalbfache Bruttojahreslohn eines einfachen Friseurs auf Mindestlohnbasis, den kulturweit innerhalb von gut einem Monat ausgibt. Ich persönlich sehe keine Rechtfertigung mehr dafür.
Natürlich haben wir aber auch gearbeitet. Mein Freiwilligenprojekt hat einen entscheidenden Schritt vorwärts gemacht. Einige Diskussionen, die ich auf den verschiedenen Seminaren geführt habe, haben einen großen Einfluss auf mich gehabt, wie man auch an diesem Blog erkennen kann. Zu loben ist auch der offene und konstruktive Umgang kulturweits mit Kritik. Ich habe mit einer Trainerin über dieses Thema gesprochen. Ich freue mich, dass kulturweit solche Aspekte nicht wie viele andere Institutionen totschweigt oder verleugnet, sondern offen diskutiert. Ich kann nur für mich persönlich an diesem Teil meiner Wegstrecke hinter dem Zwischenseminar keinen anderen Sinn erkennen, außer einen schönen Urlaub verbracht zu haben – was aber nicht heißen muss, dass gleich das ganze Programm als solches schlecht ist.
La Cumbrecita
Einen der Punkte, für die ich keine Rechtfertigung sehe, obwohl sie für mich mit das schönste Erlebnis unseres Seminars waren, ist der gemeinsame Ausflug nach La Cumbrecita, einem noch kleineren Dorf in den Sierras Cordobesas, den cordobesischen Bergen. Als Uruguayo freue ich mich, endlich mal wieder Berge zu sehen, die gibt es bei uns nämlich nicht. Auch hier sind sich die Seminarteilnehmer uneins darüber, mit welcher deutsch-europäischen Landschaft sich die Szenerie vergleichen ließe: mit dem Bayerischen Wald? Der Schweiz? Unser Ausflug führte uns durch das mindestens genauso touristische Dorf, in dem es sogar ein kleines Santuario ähnlich dem unseren in Nueva Helvecia gibt, hin zu einem Wasserfall, der für diejenigen, die dort nicht hinkommen werden, als Iguazú-Ersatz wird herhalten müssen.
Über die Steine und Felsen des kleinen Flusses, der dem Wasserfall entspring, geht es für diejenigen, die Lust haben, weiter zu einem kleinen See, der tatsächlich Almbachsee heißt.
Wer nun immer noch nicht endgültig erschöpft ist, läuft weiter auf den Gipfel des Cerro Wank. In Deutschland sind Berge ja „touristisch erschlossen“. Eine Seilbahn und dann vielleicht noch 200 Meter Fußmarsch und gut is. Weit gefehlt. Hier gibt es keine Seilbahn. Ich bin immer noch überrascht, dass ich die 1300 Meter (fast) alle, jeden einzelnen, hochgestapft bin. Das ist der allererste Berggipfel, den ich 100 Prozent mit meinen eigenen Füßen erstiegen habe, und ich muss sagen, es hat richtig Spaß gemacht. Wir hatten zwar eine Karte, aber mangels Wegweiser trotzdem keinen Plan. Also einfach querfeldein, Hauptsache nach oben. Ca. 20 Höhenmeter vor dem Gipfel kehrten wir mangels Zeit auf einem Felsvorsprung um. Die Aussicht dort oben ist atemberaubend, ich habe das Gefühl, als würde mir die ganze Welt gehören. Die gesamte Weite und Leere Argentiniens wird hier oben spürbar. Ein paar Panoramabilder, die ja mittlerweile meine Spezialität zu werden scheinen, geben diesen Eindruck vielleicht wieder.
Auf dem Rückweg ebenfalls kein Wegweiser, Hauptsache runter, und so kommt es, wie es kommen musste: wir nehmen irgendwo eine falsche Abzweigung, landen viel zu weit östlich und verpassen fast den Bus zurück nach Villa General Belgrano. An dieser Stelle deswegen noch mal herzlichen Dank an die zahlreichen Argentinier, die uns, als wir wieder in bewohnten Gefilden waren, den Weg zurück in die Zivilisation wiesen (ich übertreibe natürlich).
Das Essen!
Gedanklich zurück im Hotel wird es Zeit, sich vielleicht noch mal sehnsüchtig an die größte Attraktion auf dem Zwischenseminar zu erinnern: das gute Essen in der Mitten in der Natur gelegenen Herberge El Rincón („Die Ecke“, warum auch immer). Allein wegen dieses Essens würde es sich lohnen, wiederzukommen. Wir alle waren neidisch auf den Freiwilligen unter uns, der seine „Gastfamilie“ in Villa General Belgrano in der Eigentümerfamilie dieses Hotels fand. Das selbstgemachte Essen bestand aus gleich vier Mahlzeiten, Frühstück, Mittagessen, Abendessen natürlich und dann noch eine merienda um 17 Uhr dazu, eine tea time, wie die Engländer sagen würden. Und hier wird wirklich alles selber gemacht: Quiches, Butter, Marmelade. Und Brot. Tatsächlich: hier gibt es selbst gebackenes echtes deutsches dunkles Schwarzbrot, mit schöner Kruste – und kein so ein Toastbrotlappen, der des Namens „Brot“ nicht wert ist, wie sonst überall! Auf einmal wollte von dem (ebenfalls selbstgemachten) Weißbrot niemand mehr etwas haben. So gut hat Schwarzbrot mit Marmelade noch nie geschmeckt!
So geht eine Woche Zwischenseminar zu Ende, reich an Eindrücken, an Begegnungen und Erfahrungen, kultureller, personeller und eben auch kulinarischer Art. Eine Woche Urlaub auf Staatskosten? Entscheiden Sie selbst.
Die neueste Erkenntnis für mich ist, dass Dir wandern so Spaß macht. Also dann freue ich mich, wenn Du wieder da bist und wir im September 2016 gemeinsam eine Wanderung in den Alpen machen würden. Auch dort gibt es atemberaubende Blicke und laufen kannst Du ja inzwischen auch wie ich gelesen habe.
Ansonsten sehe solche Treffen nicht so ernst. Das Leben wir noch Ernst genug und nutze solche Treffen wofür sie auch da sind. Schwafeln, Leute treffen und was kennenlernen was Du bisher noch nicht kennst. Auch das es dort so viel deutsche Geschichte gibt ist doch interessant. Das wußte ich auch noch nicht.