Auf der Flucht vor der Deutschenblase

Auf der Flucht vor der Deutschenblase

Uruguay macht es einem als Einsatzland nicht leicht. Bereits mehrmals habe ich über den Einfluss der europäischen Einwanderer auf das paísito geschrieben: von der Sprache, die italienische und französische Wurzeln aufweist, über das Essen, das (nicht nur) italienisch geprägt ist, bis hin zu deutsch-schweizerischen Traditionen, die mir hier in Nueva Helvecia auf Schritt und Tritt begegnen und auf die das kleine Dörfchen zu Recht stolz ist, weil es ihm eine Sonderstellung innerhalb des Landes (und damit Touristen) verschafft. Ein durchschnittlicher Uruguayo würde in Europa locker als Spanier durchgehen, einzig der Akzent würde ihn für einen Hispanohablante als Uruguayo kennzeichnen. Rund 88 Prozent der Bevölkerung sind europäischer Abstammung[1], und nachdem die ganzen Indígenas nach der Unabhängigkeit alle umgebracht wurden, bleibt für die restlichen 12 Prozent nicht viel „typisch uruguayisches“ übrig. Wenn ich also alle Naselang auf deutsche Spuren stoße, ist das nicht meine Schuld: es bleibt mir schlicht nichts anderes übrig. Ein Fluchtbericht.

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Eine Geschichtsstunde im Museo de la Memoria

Beginnen wir mit einem Teil der uruguayischen Geschichte, die tatsächlich viele Flüchtlinge aus dem Land getrieben hat, eine Erfahrung, die die Uruguayos mit ihren deutschen Vorfahren teilen, wenngleich sie sie erst 40 Jahre später durchleben mussten: die rechtsgerichtete Militärdiktatur. Der Flyer des Museo de la Memoria, des Museums der Erinnerung an die Militärdiktatur, stellt diesen Abschnitt uruguayischer Geschichte in einen ideologischen Gesamtzusammenhang mit der deutschen Diktatur:

En diversas partes del mundo y ante situaciones diversas, pero similares en su esencia, los pueblos instituyen espacios simbólicos de la memoria. Lo hizo el pueblo judío respecto al Holocausto. Lo ha hecho el pueblo japonés respecto a las explosiones atómicas de Hiroshima y Nagasaki. Se está haciendo en América Latina respecto a las dictaduras que aplicaron sistemáticamente el terrorismo del Estado.
[…]
Los dictadores uruguayos habrán tenido sus argumentos para imponer la dictadura, así como tuvieron sus argumentos los nazis para imponer eleminar sistemáticamente y horrorosamente a los judíos, gitanos, homosexuales y comunistas. Nosotros no creemos válido ninguno de esos argumentos. Pensamos firmemente que nada justifica los crimenes de los nazis, ni el holocausto atómico de Hiroshima y Nagasaki, ni el crimen de avasallar la democracia imponiendo la tortura sistemática, la desaparición forzada y la cárcel para miles de compatriotas.[2]

In verschiedenen Teilen der Welt, vor dem Hintergrund verschiedener, aber in ihrer Essenz ähnlicher Situationen, haben die Völker symbolische Orte der Erinnerung geschaffen. So hat es das jüdische Volk in Erinnerung an den Holocaust getan. So hat es das japanische Volk in Erinnerung an die Atombombenexplosionen von Hiroshima und Nagasaki getan. Und so geschieht es momentan in ganz Lateinamerika in Erinnerung an die Diktaturen, die auf systematische Weise den Staatsterrorismus gebrauchten.
[…]
Die uruguayischen Diktatoren mögen ihre Argumente zur Errichtung der Diktatur gehabt haben, genauso wie die Nazis ihre Argumente zur systematischen und grausamen Eliminierung der Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen und Kommunisten gehabt haben mögen. Wir halten kein einziges dieser Argumente für gültig. Wir glauben fest daran, dass nichts die Verbrechen der Nazis legitimiert, nichts den atomaren Holocaust von Hiroshima und Nagasaki, nichts das Verbrechen der Überwältigung der Demokratie durch die Etablierung einer systematischen Folter, eines erzwungenen Verschwindens und des Gefängnisses für Tausende von Landsleuten.[3]

Der historische Vergleich mit der deutschen Geschichte ist einleuchtend. Politisch und historisch brisant hingegen ist in diesem Zusammenhang die Bezeichnung „atomarer Holocaust“ (holocausto atómico) für die Atombombenabwürfe. Eine Bezeichnung, die man so in Deutschland niemals hören würde. Sie unterstellt den amerikanischen Atombombenbauern einen gleichen radikalen Vernichtungswillen aus rassistischen Gründen, einen gleichen Hass auf die unschuldige Zivilbevölkerung und eine gleiche Unmenschlichkeit wie den deutschen Nazis. Das ist historisch sicherlich etwas zu weit hergeholt, man sollte jedoch den Gesamtkontext betrachten. Der Flyer spricht von den Argumenten, mit denen uruguayische und deutsche Diktatoren ihre Schreckensherrschaft errichteten, und der Überzeugung, dass keines dieser Argumente gelten kann angesichts der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die sie hervorriefen. Die Amerikaner verteidigen die Atombombenabwürfe bis heute als militärisch notwendig, um den Zweiten Weltkrieg ohne eine Invasion Japans beenden zu können, obwohl mittlerweile längst bewiesen ist, dass mitnichten die Atombombenabwürfe entscheidend waren für die japanische Kapitulation, sondern der Kriegseintritt der Sowjetunion. Die Atombombenabwürfe waren ein Experiment zur Überprüfung der Zerstörungskraft der neuen Superwaffe, und die Leidtragenden waren und sind bis heute die Zivilbevölkerung. Somit kann von einem „Holocaust“ zwar keine Rede sein, sehr wohl aber von angeblich ebenfalls „notwendigen“ und „gut begründeten“ Kriegsverbrechen, ja gar Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Amerikaner, die bis heute nicht oder nur unzureichend aufgeklärt sind: von Agent Orange und Napalm in Vietnam über die Foltergefängnisse im Irak und in Guantánamo bis hin zum immer noch andauernden Drohnenkrieg, an dem sich auch Deutschland über die Air Base Rammstein indirekt beteiligt. Der Flyer gibt hier eine klare Linie vor: weder die Verfolgung angeblicher „subversiver Elemente“ und die Wiedererrichtung der öffentlichen Sicherheit wie in den lateinamerikanischen und auch der uruguayischen Diktatur noch eine menschenverachtende Rassenideologie noch der Kampf gegen den Terrorismus legitimieren Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Würde des Menschen ist unantastbar, diesen Satz darf man sich gerade auch in Deutschland angesichts der aktuellsten Entwicklungen in der Flüchtlingskrise erneut hinter die Ohren schreiben.

Harter Tobak, und mein Spanisch hat sich offensichtlich so weit entwickelt, dass ich der Ausstellung folgen kann. Die Diktatur wurde übrigens von den USA unterstützt. Jetzt lasse ich es aber auch mal gut sein mit Antiamerikanismus, versprochen. Lieber gebe ich eine Kurzzusammenfassung der Ausstellung und damit auch eines Teils uruguayischer Geschichte. Die „Argumente“, die die uruguayischen Diktatoren zum Staatsstreich gehabt haben mögen, waren wie in Deutschland in einer schweren Wirtschaftskrise begründet. Aufgrund dieser übertrug der gewählte Präsident die Macht dem Militär. Dann begann das übliche, volle Programm: Repressionen gegen Parteien und Kirchen. Verbot der größten Gewerkschaft. Terrorisierung der Zivilgesellschaft, unter anderem durch US-finanzierte „Todesschwadronen“. Einschränkung der Pressefreiheit und Zensur. Willkürliche politische Verhaftungen, vor allem von Kommunisten. All das mit dem Argument, gegen „subversive Elemente“ die Sicherheit des Staates verteidigen zu müssen. Hinzu kommt die lateinamerikanische Besonderheit der „Desaparecidos“, die allen Diktaturen des Halbkontinents gemein ist: Menschen, die auf offener Straße bei hellichtem Tage von den Schergen der Diktatur entführt wurden und auf Nimmerwiedersehen in Foltergefängnissen verschwanden. Bis heute werden in ganz Lateinamerika über 200 „Verschwundene“ vermisst, und bis heute marschieren in Buenos Aires die „Madres de la Plaza de Mayo“ auf dem zentralen Platz in Erinnerung an ihre verschwundenen Kinder. Im Gegensatz zu Deutschland 1933 bejubelten die freiheitsliebenden Uruguayos ihre neue Regierung jedoch nicht, sondern zettelten gleich mal einen 15 Tage dauernden Generalstreik an. Während der Diktatur gab es eine starke Widerstandsbewegung, teils leise, teils laut; teils friedlich, teils gewaltvoll, die am Ende ihr Ziel auch erreichte: die Wiederherstellung der Demokratie. Anders als in Deutschland können sich die Uruguayos selbst die Errungenschaft der Demokratie auf die Fahne schreiben, während es hierzulande eine totale Niederlage brauchte, um der Zivilgesellschaft die Augen zu öffnen. In Uruguay dagegen gelang die Rückkehr zur Demokratie durch friedliche Verhandlungen mit der Junta und durch demokratische Wahlen. Darauf kann das Land zu Recht stolz sein.

Mein erster Apfelstrudel in Uruguay

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Nach so viel Geschichte brauche ich erst einmal Erholung und begebe mich ins Oro del Rin, ein ganz spezielles Café in der Altstadt, das (Achtung, Deutschenblase!) von einem ausgewanderten deutschen Konditor gegründet wurde, mit (Achtung, Deutschenblase!) deutschen Backspezialitäten aufwartet und deswegen immer noch das deutsche Original (Achtung, na was wohl?) seines Namens im Untertitel trägt: Rheingold. Meine Mutter ist schuld daran, dass ich Cafés so gerne mag. Zwar trinke ich überhaupt keinen Kaffee, esse dafür aber mit umso größerem Vergnügen jede Art von Keks, Kuchen und Torte, die sich mit bietet. Im Oro del Rin gibt es laut Speisekarte sogar einen Baumkuchen („Torta arbol“), den berühmten Schichtkuchen mit Schokoladenüberzug aus Thüringen, aber ausgerechnet wenn der TÜV aus Deutschland kommt und nachkontrolliert, ist der Baumkuchen natürlich alle. Vergessen Sie die VW-Abgasmanipulationen: hier ist die Baumkuchenmanipulation! Esse ich stattdessen eben einen hervorragenden Apfelstrudel. Den allerersten Apfelstrudel meines Lebens habe ich in Südtirol gegessen, hier in Uruguay ist daneben auch noch echter Stollen im Angebot, für 120 Pesos (rund dreieinhalb Euro) den Stollen. Ich hätte gerne einen für mein morgendliches Frühstück mitgenommen, aber im Oktober ist mir das noch zu früh.

Die Überschrift „Auf der Flucht vor der Deutschenblase“ ist sicherlich etwas ironisch gemeint und hier ist auch nicht alles deutsch. Außerdem wissen wir, dass man Uruguay nicht allein auf meine Reiseberichte reduzieren darf. Der Apfelstrudel hat trotzdem geschmeckt.

Hinweis: Bei meinem letzten Montevideo-Besuch hatte ich angekündigt, den Blogbeitrag „Monte vido eu!“ zu einer Sammelstation für Montevideo-Reiseerfahrungen zu machen. Das habe ich auch getan, Sie finden dort seit kurzem neue Bilder aus Uruguays Hauptstadt, ein Panoramafoto der Ramblas und ein Erfahrungsbericht über das Bussystem Montevideos. Viel Spaß!

[1] Quelle: CIA World Factbook

[2] Quelle: Departamento de Cultura, División Artes y Sciencias, Intendencia de Montevideo (Hrsg.): “centro cultural museo de la memoria”. Ausstellungsflyer zum Museo de la Memoria, Montevideo 2015.

[3] eigene Übersetzung

1 Kommentar

  1. d'Wehrer natrülich · 1. November 2015

    Servus Jan,

    macht Spaß Deinen Blog zu lesen.

    Ist teilweise echt lustig.
    Grüße
    d`Wehrer

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