Oh Gott, Lateinamerika!

Zur Single-Story-Thematik in Uruguay

Vor kurzem ging auf meinem Blog folgender Kommentar zu meinen Bildern aus Montevideo ein: „Sieht alles sauber und schick aus. Ist das Land wirklich so reich oder sind das nur die wenigen Ausnahmen auf deinen Bildern? Favelas? Baracken? Straßenmüll?“ Hinter dieser scheinbar so einfachen Frage verbirgt sich ein komplexes Themenfeld, das auf dem Vorbereitungsseminar mit dem Schlagwort „Single Story“ umrissen wurde. Bereits vor meiner Abreise hieß es: „Oh Gott, Lateinamerika! Da willst du hin? Spinnst du?!!“. Es wird also Zeit, ein wenig aufzuklären.

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Was ist eine „Single Story“?

Von einer Single Story (deutsch: einzigen Geschichte) spricht man, wenn über ein Land international nur eine einzige Geschichte verbreitet wird, sodass diese einzelne Geschichte schließlich die Wahrnehmung der Bevölkerung überdeckt und der Name des Landes sofort mit gewissen Schlagworten in Verbindung gebracht wird. Wer „Afrika“ sagt, denkt in Deutschland sofort an „Armut, Hunger, Ebola“ und wer „Syrien“ sagt, hört nur noch „Assad, Krieg, IS“. Wer „Ukraine“ sagt, bekommt seit einem Jahr nur noch „Krise, Russland, MH17“ als Antwort, und wer auf einem bayerischen Volksfest „Kosovo“ ins Bierzelt ruft, dem schallen die Schlagworte „Asylmissbrauch, Armutseinwanderung, Wirtschaftsflüchtling“ entgegen. Dabei bestehen alle diese Länder aus mehr als den negativen Schlagworten, wie sicher jeder, der dort einmal gewesen ist oder von dort kommt, bestätigen kann. In Afrika gibt es auch mehr als Ebola, die Ukraine hat eine längere Geschichte als die gleichnamige Krise und auch in Syrien gab und gibt es Dinge, die dem weit verbreiteten Bild widersprechen. Die Ursache für dieses Problem liegt zum großen Teil in unserer Medienlandschaft. Ich erinnere mich an eine Weltkarte, die in unserem Diercke-Schulatlas abgebildet war, und aufzeigte, wie oft verschiedene internationale Leitmedien aus welchen Ländern der Erde berichteten. Dabei gab es einen deutlichen Unterschied zwischen amerikanischen Medien wie der New York Times, der Washington Post oder der Huffington Post, und deutschen Medien, wie der ZEIT oder der Frankfurter Allgemeinen. Während die Amerikaner eher weltweit berichten und eine sehr ausgewogene Berichterstattung aus allen Ecken der Erde haben, erscheinen in deutschen Medien fast nur Berichte über deutsche oder europäische Themen. Der Blick nach außen, auf andere Erdteile, fehlt oft völlig. Wenn Sie das nächste Mal eine Zeitung lesen, passen Sie einmal auf, aus welchem Land die Berichte stammen, und aus welcher Perspektive sie geschrieben sind: ob aus der des großen weißen Mannes, der alles über jedes Land der Erde zu wissen glaubt, oder ob subjektiv und individuell. Lateinamerika zum Beispiel gerät bei uns nur in die Schlagzeilen, wenn in Chile ein Erdbeben ist oder in Kolumbien ein Drogenkrieg. Entsprechend verändert sich unser Bild dieser Region: wir hören nur schlechte Nachrichten, also glauben wir irgendwann auch, dass es nur schlechte Nachrichten gibt.

…und Uruguay?

Etwas Ähnliches muss bei dem eingangs erwähnten Kommentar passiert sein. „Uruguay“ ist hier eine Argumentationskette im Kopf, die damit beginnt, dass man in Deutschland meist nicht mehr vom „paísito“ kennt als die Namen Súarez und Mújica. Also denkt man an den großen Nachbarn Brasilien: Favela, Armut, Gewalt. Davon einmal abgesehen, dass Brasilien auch andere Seiten zu bieten hat, entsteht so aus Mangel an Information ein Bild, das zu kurz greift. Manche Autoren bezeichnen diese Assoziationsketten sogar als „latent rassistisch“ und „neoimperialistisch“, weil sie meistens so verlaufen: Afrika-arm-zu dumm, um sich selbst zu helfen-wir müssen helfen! Das ist meist gut gemeint und die Urheber dieser Gedanken sind sicher keine Rassisten. In Summe führt dieser latente Rassismus aber nur zu einer Stärkung der bestehenden Abhängigkeiten, nicht aber zu einer Änderung der Situation vor Ort und einer konkreten Selbsthilfe durch die Betroffenen.

Single Stories und kulturweit

Auch wir kulturweit-Freiwilligen sind, wenn wir bloggen, anfällig für die „Danger of a Single Story“. Wie können wir behaupten: mein Einsatzland ist…, in meinem Einsatzland machen alle immer…, das läuft hier so…, das ist schlechter als in Deutschland? Wie können wir schreiben, die Menschen seien faul, die Verwaltung korrupt, der Verkehr chaotisch und die Hygiene unter aller Sau? Man stelle sich vor, jemand aus unseren Einsatzländern wurde Deutschland so beschreiben: alle Menschen sind fleißig, pünktlich und trinken nur Bier. Es gibt immer mindestens einen Menschen, auf den das nicht zutrifft. Alles, was wir (be)schreiben können, kann sich folglich nur um Einzelerfahrungen, um einzelne Begegnungen mit individuellen Menschen drehen, die wir subjektiv wahrnehmen und beschreiben. Niemals können wir behaupten, ein Land und alle seine Einwohner ganz zu kennen, nur weil wir ein einziges Jahr dort gelebt haben. Denn ehrlich: kennen Sie als Einheimischer alle Facetten von Deutschland? Insofern erschreckt es mich, wie sorglos manche Bloggerkollegen trotz intensivster Vorbereitung auf dem Seminar mit diesem Problem umgehen. Da sind erscheinen dann Listen wie „Top 10 der Dinge, die hier üblich sind (und man in Deutschland nie tun würde!)“, obwohl die Autorin gar nicht weiß, ob alle Einwohner ihre Landes diese Dinge tun würden – oder ob nicht vielleicht auch einige Deutsche so handeln würden. Wer weiß.

Harte Fakten gegen Vorurteile

Ich selbst nehme mich natürlich nicht heraus aus der Gruppe derjenigen, die Gefahr laufen, eine Single Story über ihr Einsatzland zu verbreiten. Auch ich kann nur subjektiv berichten, was ich erlebt habe, nicht aber, was für das ganze Land gilt. Das gelingt mir mal mehr, mal weniger. Deswegen möchte ich, bevor ich endlich die Frage des Kommentators vom Anfang beantworte, ausnahmsweise einmal harte Fakten sprechen lassen (auch wenn man die hier aufgelisteten Indikatoren ebenfalls hinterfragen kann):

IndikatorDeutschlandUruguay
BIP/Kopf (kaufkraftbereinigt, in USD)43.47515.113
Human Development Index0,9110,790
Rangliste der Pressefreiheit Reporter ohne GrenzenPlatz 12 von 180Platz 23 von 180
Sterblichkeitsrate pro 1000 Einwohner11,429,45
Urbanisierungsgrad75,3 %95,3 %
Kindersterblichkeit pro 1000 Lebendgeburten3,438,74
durchschnittliche Lebenserwartung Mann/Frau78,26/83 Jahre73,86/80,26 Jahre
Gesundheitsausgaben in % des BIP11,38,8
Ärztedichte pro 1000 Einwohner3,893,74
Krankenhausbetten pro 1000 Einwohner8,22,5
HIV-Tote pro Jahr400600
Bildungsausgaben in Prozent des BIP5 %4,4 %
Jugendarbeitslosigkeit8,1 %18,5 %
Arbeitskräfte nach Wirtschaftssektoren: primär/sekundär/tertiär1,6/24,6/73,8 %13/14/73 %
Arbeitslosigkeit5 %6,5 %
Bevölkerung unter der Armutslinie15,5 %18,6 %
Staatsbudget (Einnahmen/Ausgaben) in USD1,68 Billionen/1,664 Billionen16,8 Milliarden/18,71 Milliarden
Haushaltsüberschuss/-defizit in Prozent des BIP0,4 %-3,4 %
Öffentliche Schulden in Prozent des BIP74,7 %64,7 %
Inflationsrate0,8 %8,9 %
Exporte/Importe in USD1,547 Billionen/1,319 Billionen11 Milliarden/12,5 Milliarden
Anteil der Internetnutzer an der Bevölkerung86,8 %59 %
Militärausgaben in Prozent des BIP1,35 %1,95 %

Internationale Entwicklungsindikatoren für Deutschland und Uruguay im Vergleich

Quellen: Wikipedia, Reporter ohne Grenzen, CIA World Factbook

Dieser Liste offenbart eine für manchen meiner Leser vielleicht überraschende Tatsache: Uruguay ist in vielerlei Hinsicht eine moderne Dienstleistungsgesellschaft, mit funktionierendem öffentlichem und kostenlosem Bildungs- und Gesundheitssystem, mit einer stabilen Wirtschaft, einer freiheitlichen Demokratie und hoher Lebenserwartung, kurz: ein Land des „Westens“, mit Deutschland vergleichbar. Kein Wunder, dass die beiden Länder kulturell und wirtschaftlich so eng zusammenarbeiten – Deutschland ist für Uruguay der wichtigste Handelspartner. Wenig überraschend, schließlich wird Uruguay seit Beginn des 20. Jahrhunderts als „Schweiz Lateinamerikas“ bezeichnet, ein Stolz, von dem die besagten Fotos, insbesondere der Palacio Salvo, künden, auch wenn in Deutschland niemand davon weiß.

Es ist nicht alles Gold, was glänzt?

Bereits früher jedoch, anlässlich meines Besuchs in Colonia, habe ich über die Manipulationsmacht eines Fotografen geschrieben. Natürlich zeigen meine Bilder nur ausgewählte Orte Montevideos, auch wenn an diesem einen Ort, der Plaza de la Independencia, wirklich alles so „gut“ aussieht wie auf den Fotos. Und natürlich gibt es auch in Uruguay einige wenige Slums. Montevideo insbesondere beherbergt am Stadtrand einen der ganz wenigen Slums in Uruguay. Jedes Mal, wenn ich mit dem Omnibus die Stadt betrete, muss ich ihn durchqueren – und der Reiseführer empfiehlt ausdrücklich, es (vom offiziellen Taxi abgesehen) auch mit keinem anderen Verkehrsmittel zu versuchen – und auf keinen Fall zu Fuß. Doch auch hier sprechen wir nicht von der Art Slum, die wir uns als typisch afrikanisch vorstellen, mit Schotterpisten, Wellblechdächern und hohen Kriminalitätsraten in der ganzen Stadt, sondern von geteerten Straßen, eher mehr befestigten Häusern und sicheren Städten, im ganzen Land. Auch wenn man überall Plastiktüten am Straßenrand liegen sieht und die Kanäle verdreckt sind.

Fazit

Das Fazit dieses ungewöhnlich langen Blogbeitrags: „Oh Gott, Lateinamerika!“ – dieses Vorurteil ist nicht zu halten. In Deutschland ist über diesen unendlich großen Kontinent viel zu wenig bekannt, als dass wir wissen könnten, wie das Leben in Lateinamerika funktioniert. Und auch ich maße mir nicht an zu behaupten, jetzt zum Lateinamerika-Experten mutiert zu sein. Andere Länder sind wieder anders, und schon im nächsten Dorf geht das Leben einen anderen Gang. Ich will aber dazu aufrufen, dass jeder meiner Leser sich persönlich Gedanken darüber macht, wie er die Welt abseits der deutschen Landesgrenzen bisher wahrgenommen hat und weiter wahrnehmen wird – ob durch die eurozentrierte Brille des Kolonialzeitalters, das sich noch heute in Bezeichnungen wie „Mohrenkopf“ und „Negerkuss“ für eine bekannte Süßspeise niederschlägt, oder mit einer Offenheit für neue Entdeckungen und ungewohnte Überraschungen, die auch mal fünfe gerade sein lässt. Ich lade darüber hinaus dazu ein, mir Ihre Gedanken mitzuteilen. Was denken Sie zum Thema Single Story?

Zu allen meinen Blogbeiträgen, aber insbesondere zu diesem, ist natürlich der Hinweis zur Single-Story-Thematik zu beachten.

4 Kommentare

  1. Klemens · 7. November 2015

    Guter Artikel. Super interessant. Uruguay verblüfft mich. Nur Vorsicht: Unterstell nicht zu schnell, dass jemand der interessiert fragt, voller Klischees und Vorurteile ist. 😉

    • Jan Doria · 7. November 2015

      Das wollte ich niemals unterstellt wissen! So was passiert unabsichtlich und unbewusst, meist in guter Absicht. Deswegen habe ich es ja zu korrigieren versucht.

  2. Oli Stroh · 17. Oktober 2015

    Find ich gut, dass du dem Thema einen Blogeintrag widmest. Ich mach auch die Erfahrung, dass die Single Story-Mentalität bei vielen tief sitzt… Die Statistik ist auch super.
    Nur dem 10-Dinge-Artikel, finde ich, kann man den Vorwurf eigentlich nicht machen. Nach einem Monat in der Stadt kann man denk ich schon ein bisschen einschätzen, was üblich ist (sie schreibt ja nicht: alle machen das so), zumal es auch nicht um Mentalität oder ähnlich verfängliches geht sondern um Getränke aus Plastiktüten. (Im übrigen möcht ich dich noch drauf hinweisen dass du in ne ähnliche Falle tappst, wenn du von ‚typisch afrikanischen Slums‘ sprichst und den ganzen Kontinent Afrika in eine Reihe mit anderen Ländern stellst). Aber wie du sagst, aufpassen ist an der Stelle definitiv sehr wichtig.

    • Jan Doria · 17. Oktober 2015

      Danke für die Anregung. Ich habe ja selber geschrieben, dass auch ich anfällig bin für die „Danger of a Single Story“, insofern danke für den Hinweis. Du hast natürlich Recht. In puncto Slums habe ich den Halbsatz auch geändert in: „Doch auch hier sprechen wir nicht von der Art Slum, die wir uns als typisch afrikanisch vorstellen […]“. In Puncto Länderauflistung werde ich aber nichts ändern. Das ist in dem Fall pure Absicht, ein Stilmittel, um aufzuzeigen, was eben passiert, wenn man bestimmte Länder nennt und dann sofort Schlagworte kommen. Genau diesen Mechanismus wollte ich abbilden, um ihn später dann kritisieren zu können.

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