Kopfschmerzen in La Paz
Mir dröhnt der Schädel. Ich bin zu meinem großen Glück eine Person, die von regelmäßigen Kopfschmerzen verschont bleibt, und wer mich kennt, der weißt, dass auch übermäßiger Alkoholkonsum mir fremd ist, und dennoch schmerzt mir der Kopf so arg, dass ich kaum einschlafen kann. Ich stehe mitten in der Nacht auf, nehme eine Paracetamol (aus Deutschland mitgebracht) und falle in einen viel zu kurzen Schlaf nach einer viel zu anstrengenden Reise. Willkommen im Andenhochland, dem Altiplano, willkommen Höhenkrankheit. Willkommen in La Paz.
Im Ferienflieger
In Chile hatte ich bereits mit der mal de altura Erfahrungen gemacht. Jeder Schritt und jede Treppenstufe verursachen auf bis zu 4000 Meter Höhe über dem Meeresspiegel ein schleppendes Keuchen und Luftschnappen, als wäre ich ein 80 Jahre alter Mann. Wer, wie ich, direkt vom Meeresniveau auf eine solche Höhe katapultiert wird, dem wird eigentlich empfohlen, ein bis zwei Tage Gewöhnungszeit an die dünne Luft einzuplanen, doch mein enger, durch die uruguayischen Winterferien begrenzter Zeitraum ließ dies nicht zu. Ein Paracetamol musste reichen, und ich zog mein Besuchsprogramm im höchstgelegenen Regierungssitz der Welt durch. Stressiger Flug mit Umsteigen in Santa Cruz de la Sierra hin oder her.
Es gab zu meiner Überraschung sowieso nicht viel zu sehen in Boliviens Regierungssitz, über die ich mich nicht wie sonst üblich vorher ausführlich informiert hatte. Schließlich lohnte sich für mich ein Bolivien-Reiseführer nicht, da La Paz, vom Titicacasee-Dörfchen Copacabana abgesehen, leider mein einziges Reiseziel in diesem Land bleiben sollte. Am besten in Erinnerung geblieben ist mir da noch der Anflug. Ein Flugzeug blockierte die einzige Start- und Landebahn des internationalen Flughafens von La Paz/El Alto, und wir drehten deswegen einen kostenlosen Rundflug über die Dächer der Millionenmetropole. Man konnte sehr schön erkennen, wie im Talkessel auf 3500 Meter Höhe La Paz zwischen den Anden eingeklemmt ist, und auf der 4000 Meter hohen Hochebene des Altiplano sich das wesentlich ärmere und unbedeutendere El Alto ausbreitet. Das Wissen, dass immer dann, wenn’s bergauf ging, ich irgendwie falsch war, hatte mir die nächsten zwei Tage sehr geholfen.
Gestatten? Evo Morales
Zumal man diesen Höhenunterschied natürlich sowieso nicht per Fuß bewältigen sollte. Deswegen hat die bolivianische Regierung vor gar nicht allzulanger Zeit eine topmoderne Seilbahn aus österreichischer Produktion mitten in die Stadt gesetzt, deren Linien sich sogar noch im Ausbau befinden. Interessanterweise hat die höchste Seilbahn der Welt den Schildern zufolge gar nicht der bolivianische Staat an sich erbauen lassen, sondern Staatspräsident Evo Morales Ayma höchstpersönlich. Wenn in Deutschland eine Autobahn renoviert wird, dann heißt es, „der Freistaat Bayern baut für Sie“, aber doch nicht Horst Seehofer. In Bolivien aber, das fiel mir in der kurzen Zeit am meisten auf, scheint es dem ersten indigenen und extrem linksgerichteten Präsidenten Lateinamerikas gelungen zu sein, eine Art Personenkult zu etablieren. Auf jedem noch so kleinen Dorfklo, das der bolivianische Staat spendiert hat, stand ¡Gracias Evo! („Danke Evo!“), als hätte der Präsident nichts anderes zu tun, als die Baggerschaufel zum Häuslebau höchstpersönlich in die Hand zu nehmen. Überall hing außerdem noch die Parole ¡Evo Sí! („Evo ja!“), die sich auf das Verfassungsreferendum vor knapp einem halben Jahr bezieht. Evo Morales wollte die bolivianische Verfassung ändern, um sich selbst eine Kandidatur für eine mögliche dritte Amtszeit zu ermöglichen, doch trotz der offensichtlich vorhandenen Dankbarkeit und eines sehr guten Wahlkampfteams ging das Referendum knapp verloren (was laut Morales selbst übrigens an den USA – wem sonst? – liegt). Morales‘ Präsidentschaft hat dem Land zwar eine bis dato unbekannte politische Stabilität gebracht, die Republik in „plurinationaler Staat“ umbenannt, die indígenas im indigensten Land Südamerikas aus der sozialen Verachtung geholt und das Konzept des buen vivir (wörtlich: „gutes Leben“) zum Staatsziel erklärt, doch am Ende hat all das nicht gereicht. Zumal es Korruptionsvorwürfe gab. Ich frage mich nur, was soll aus dem bolivianischen Staat und dem neugewonnenen Vertrauen der Menschen in staatliche Institutionen werden, wenn „ihr“ Präsident, der Cocabauer Evo, nicht mehr an der Spitze steht?
Warten auf Godot…
In El Alto, welches das Armenviertel von La Paz ist, in dem landflüchtige Glücksritter leben, gab es nicht viel zu sehen, und so kehrte ich schnell wieder um. Etwas unterhalb aber befindet sich der Friedhof von La Paz, und von dort aus fährt angeblich ein öffentlicher Bus in die präinkaische Ruinenstätte von Tihuanaco. Beim Bau der Seilbahn hat man sogar eine topmoderne Bushaltestelle neben der Seilbahnstation aufgebaut, mit schicken überdachten Metallbänkchen und allem Drum und Dran. Nur leider dachten sich die Österreicher nach der Montage der Alustangen wohl, die Arbeit wäre erledigt, und sind einfach wieder heimgeflogen. Auf die Idee, so etwas wie einen Busfahrplan auszuhängen, kommt in Lateinamerika von alleine nämlich sonst leider niemand. Ich ging also erst mal in den Friedhof und schaute mir die Gräber der „Helden des Pazifikkriegs“ an, den die Bolivianer leider gegen Chile verloren haben [1], und als ich genug Grabmäler zu Ehren der Verteidiger des Vaterlandes gesehen hatte, ging ich zurück zur Bushaltestelle. Nachdem zwischenzeitlich leider niemand auf den Gedanken kam, spontan Busfahrpläne zu installieren, fragte ich kurzerhand einfach eine herumlaufende Parkplatzpolizisten, ob und wann denn heute ein Bus nach Tihuanaco fahren würde. Die Antwort hätte typischer für Lateinamerika nicht sein können: ja, ja, jeden Tag, heute auch, alle halbe Stunde oder irgendwann so, sie wisse es nicht genau. Wenn man nach dem Weg frägt, bekommt man in Südamerika immer erst mal „Ja, ich weiß wo’s langgeht“, dann irgendeine Wegbeschreibung, die in 90 % der Fälle frei erfunden ist, und dann nach konsequenten Nachhacken schließlich das Eingeständnis, dass man leider keine Ahnung habe und doch jemanden anderen fragen solle. Ich setzte mich also auf die Bank der topmodernen, aber immer noch leeren Bushaltestelle, und wartete. Es kamen und gingen: ein paar Touristen, die offensichtlich auch keine Ahnung haben. Haufenweise Taxis und Kleinbusse, die irgendwo hinfahren, weiß Gott wo hin. Fußgänger. Als nur mehr noch ein Straßenköter über den Asphalt dackelte, beschloss ich zu gehen. Tihuanaco ist sicher hoch interessant und schön. Aber dort gewesen bin ich nie.
…und auf warmes Wasser
Vielleicht war es auch besser, dass der Bus nie kam, denn der Verkehr in Bolivien und Perú ist unmöglich. In Uruguay allein fahren sie schon wie die Verrückten, doch in diesen beiden Ländern als Fußgänger eine Straße überqueren zu wollen, kommt einem Selbstmordversuch gleich. Ich erinnere mich noch genau, wie meine Fahrlehrerin mir im wahrsten Sinne des Wortes einprügelte, dass ich vor einem Zebrastreifen anzuhalten habe, um die Fußgänger rüberzulassen, verdammt noch mal! Im hohen Norden hält sich da kein Mensch dran. Die Autos fahren in den engen Straßen, die von den Spaniern leider nicht für die Verkehrsbedürfnisse des 21. Jahrhunderts ausgelegt wurden, wie sie wollen, das heißt: auf dem Zebrastreifen. Blockieren die Kreuzung. Überholen sogar noch während dem Abbiegen (!). Hab ich alles erlebt. Und wundern sich dann, warum die Straße blockiert ist, und hupen wie blöd. Das hilft aber auch nicht weiter, und mir armen Fußgänger blieb entgegen meiner deutschen Gewohnheit nichts anderes übrig, als die Straßen zu überqueren, während die Autos noch fuhren. Anders ging es nicht. Von wegen, Uruguay sei ein „Entwicklungsland“, wie sie mir dort immer und immer wieder erzählen. Wenn Uruguay ein Entwicklungsland sein soll, dann sind Bolivien und Perú schon ein anderer Planet. Straßenhändler, meistens zahnlose, alte Frauen in traditioneller Kleidung, breiten ihre Ware mitten auf der Straße aus – vom Bauern direkt zum Verbraucher. In den Straßen hängt ein Gestank, der unglaublich ist, auf dem Boden musste ich ständig Lachen ausweichen, von denen ich nicht eindeutig sagen kann, ob sie aus Wasser bestehen oder aus (menschlichem?) Urin, und die meisten Häuser selbst im Stadtzentrum sind unverputzte Rohbauten. Das Untergeschoss ist fertiggestellt, für den zweiten Stock hat dann wohl das Geld nicht mehr gereicht. Bauruinen wie in Italien, nur in groß. Und bewohnt.[2]
Das Beste aber waren die Duschen. Wo es keine Heizung gibt, gibt es auch kein warmes Wasser, und so erwärmen Solartanks auf dem Dach jedes Hauses das Wasser. Das funktioniert mal mehr, mal weniger gut. Im ersten Hostel erhalte ich beim Check-In die Anweisung, das Wasser im Badezimmer einfach mal fünf Minuten laufen zu lassen, denn es dauere eine Weile, bis das warme Wasser durch alle Leitungen gepumpt sei. Was für eine Wasserverschwendung, aber gut. Ich will es ausprobieren und vergesse, dass dies eine lateinamerikanische Zeitangabe war. Also eine ungefähre. Also wieder zur Rezeption, nachgefragt, die Information erhalten, dass die Wartezeit auch gut und gerne mal zehn Minuten (!) betragen könne. Außerdem müsse man zuerst das kalte Wasser aufdrehen, es eine Weile laufen lassen, und dann das warme hinzufügen. Eine Bedienungsanleitung zum Duschen. Ich denke, schlimmer kann es nun wohl nicht mehr kommen, schnappe mir mein Handy und stelle die Stoppuhr-App auf zehn Minuten. Bei 8:30 Minuten fängt das Wasser langsam an, warm zu werden, und bei 9 Minuten ist es auf Badetemperatur. In Hostel Numero Zwo funktionierte das Warmwasser erst gleich mal gar nicht, oder nur in Abhängigkeit vom Sydneyer Wasserstand. Dieser erreichte dummerweise nur am Tag der Abreise die nötige Höhe, aber das ist immer noch besser als mein Favorit in Cuzco. Dort funktionierte das Warmwsser anfangs nur in der Dusche des Nachbarzimmers, in dem ich gar nicht eingecheckt war, „aber kein Problem, Sie können da jederzeit rein, da ist niemand drin“[3], so die Hotelbesitzerin zur Begrüßung. Nachdem nach einer einzigen Dusche die Fähigkeiten dieser Dusche offensichtlich bereits erschöpft waren, beschwerte ich mich und bekomme das Angebot, dann eben in der privaten Dusche der Eigentümerfamilie (!) zu duschen. Kein Scherz. „Und bevor Sie morgen abreisen, werden Sie sicher noch mal in dieser Dusche duschen wollen. Kein Problem“. (Übersetzer) O-Ton Hostelbesitzerin. Irgendwann ist einem dann auch das egal. Hauptsache warmes Wasser. Und erzählt mir nie wieder was von Uruguay und „Entwicklungsland“!
Mir war von Anfang an schon klar, dass mich diese Reise in eine ganz andere Welt führen würde, als ich sie von Uruguay, Argentinien und Chile kannte. In meiner Vorstellung ging es aber um die Ureinwohner, die indígenas. Während sie in Chile ja leider alle umgebracht haben, befand ich mich nun zum ersten Mal in meinem Leben unter einer mehrheitlich nicht-weißen Bevölkerung. Zum ersten Mal war die Tatsache, dass ich Tourist bin, wirklich auffällig. In Buenos Aires kann ich ja mittlerweile auch getrost als Einheimischer durchgehen, so zielstrebig, wie ich meinen Weg finde, und so europäisch, wie die ganzen Einwanderernachfahren um mich herum aussehen. Nur wenn ich den Mund aufmache, erkennen die Argentinier (und auch die Uruguayos) mein Spanisch trotz lokalen Dialekts als Kopie des Originals. In Perú nun haben sie mir tatsächlich einmal geglaubt, ich wäre aus Argentinien. Und ich habe das Glück, in La Paz zufällig auf ein kleines, lokales Straßenfest zu treffen, nicht für Touristen aufgemacht, sondern authentisch, echt. Ich habe nur verstanden, dass es um irgendeinen lokalen Heiligen ging. Mit diesem lebendigen Eindruck aus den gut 2300 Bildern, die ich geschossen habe, endet dieser Beitrag aus La Paz, endet alles, was ich von Bolivien gesehen habe. Leider. Es folgt: Perú.
[1] was die bolivianische Regierung nicht daran hindert, bei jeder Gelegenheit auf nationaler und internationaler Bühne einen Zugang zum „bolivianischen Meer“ zu fordern und eine militärisch völlig sinnlose Marine zu unterhalten, deren einzige Aufgabe darin besteht, mit ihren Schlauchbötchen auf dem Titicacasee herumzutuckern – der wiederum mehrheitlich zu Perú gehört. Armes Bolivien.
[2] Es erübrigt sich wohl zu erwähnen, dass die meisten Häuser, wie in Uruguay, über keine Heizung verfügen. Und nachts gibt es im Altiplano ganzjährig einstellige Minusgrade – in der wärmeren Stadt und am Titicacasee. Auf dem Land, so erzählte mir eine Rezeptionistin in Puno (Perú), nähmen sich demnach die Bauern auch gerne mal das Lama mit ins Bett, um sich daran zu wärmen. Ich selbst habe auf der gesamten Reise nie in einer Unterkunft mit Heizung übernachtet. Wenn ich nicht aus Uruguay gekommen wäre und das schon seit Monaten gewöhnt gewesen wäre, sondern direkt aus dem heißen deutschen Sommer, so wäre ich wohl erfroren.
[3] Im hohen Norden wurde ich, im Gegensatz zu Uruguay und Argentinien, von allen Fremden konsequent gesiezt.
Hallo!
Endlich gibt’s mal wieder was zu lesen. Es überrascht mich fast nix aus Deinem Bericht. Das habe ich genau so erwartet. Uruguay ist Südamerika light. Venezuela war 1988 schon Südamerika Hardcore für mich…..
Einzige Überraschung: „… eine Bombardier von der bolivianischen Fluggesellschaft Amaszonas.“ Das Du in das Ding gestiegen bist. Ich bin auch schon Bombardier geflogen, aber nicht mit der Airline. Das ist schon ein „kleiner“ Unterschied.
Freue mich auf Deinen Bericht über Peru. Wann gibt’s den?
Na ja, zu meinem Ferienflieger muss ich sagen, dass ich eigentlich ganz zufrieden mit Amaszonas war. Ist nix kaputt oder verlorengegangen, bin sicher und pünktlich angekommen, also was will man noch mehr.
Weitere Berichte aus Perú sind in Arbeit, aber momentan noch auf meiner To-Do-Liste so weit hinten, dass ich noch nicht dazukam, sie anzufangen!