Wachgerüttelt

An meinem 4. Tag in México bebte die Erde.

Stärke 7,1. Das Epizentrum lag rund 40 Kilometer von Puebla entfernt.

Kaum eine halbe Stunde nach dem Beben, das alle Mitarbeiter und Schüler in der Sprachschule Instituto para Formación y Desaróllo Volkswagen (meine Einsatzstelle) auf den Vorplatz flüchten ließ, flimmerten die ersten Schreckensbilder und Nachrichten über die Handybildschirme: Einstürze und Verletzte in der Stadt.  Rauch und eingefallene Gebäude. Wie Kartenhäuser. Tote in Ciudad de México und Puebla.

In der Schule selbst nur zerbrochene Fenster. 

Doch: Unsicherheit, Panik in den Augen der Umstehenden. Lehrer redeten beruhigend auf ihre Schüler ein. Schüler sprachen in ihre Handys. Schlucken. Wegbechende Satzteile. Schrille, hecktische Stimmen.

„Estás bien?“ „Are you Ok?“ „Geht es dir gut?“ Whatsappnachrichten im Minutentakt aus aller Welt. Danke dafür.

Zitternde Knie, in der Brust ein wild schlagendes Herz. Man bot mir eine Zigarette an.

Willkommen.

Das Beben bestimmte maßgeblich die ersten zehn Tage.

Es verhinderte die Einstellung eines geregelten Alltags, ließ meinen Freiwilligendienst mit fünf Tagen „Freizeit“ beginnen. Die Schule schloss aus Sicherheitsgründen. Das Gebäude musste auf größere Schäden hin untersucht werden. Was das Beben ermöglichte, war eine besondere Nähe zu den Menschen in meiner Umgebung. Gemeinsam große Angst erlebt zu haben, gemeinsam damit umgehen zu müssen – das schweißt zusammen.

Über Sprachbarrieren und kulturelle Unterschiede hinweg.

Unterstützung für die (am stärksten) betroffenen Regionen gab es sehr schnell. Überall auf Pueblas Straßen wurden Hilfszentren eingerichet, sogenannte „Centros de Acopio“. Dort sammelten sich Spenden, die – teils von Privatpersonen, teils von großen Organisationen – in die am stärksten betroffenen Gebiete gebracht wurden (Spitzhacken, Windeln, Getränke, Essen, Hundefutter, Skalpelle, Medikamente, Kleidung und Spielzeug).

Eines davon ist ein Dorf in Morelos.

Dort zusammen mit fünfzehn nun-nicht-mehr-fremden Poblanern Schutt beiseite zu schaufeln und Lehmziegel aufzuschichten, hinterlässt das Gefühl, als Fremde im Land und in einer Situation wie dieser nicht vollkommen hilflos zu sein.

Puebla wird nun vertrauter, je mehr Zeit vergeht.

Die Gesichter, die schnelle spanische Sprache, Gassen und Straßenecken werden vertrauter. Die vielen „Vendedores ambuantes“, Straßenhändler hinter bunten Verkaufsständen, die alle Sorten von Gebäck und warmen Speisen, frisch gepresste Säfte oder Chapulines (knusprig frittierte und mit Chillipulver vermengte Heuschrecken) anbieten, verlieren etwas von ihrer Neuartigkeit. Ebenso wie die halsbrecherischen Busfahrten oder die bunten Häuserfassaden und imposanten Kathedralen.

Alltag? Nein, das ist es noch lange nicht.

Aber ein Näherkommen, ein Einleben. Und ein Wohlfühlen.

15 Gedanken zu „Wachgerüttelt

  1. Hallo liebe Marilene,
    Danke für Deinen tollen Blog, mit dem Du uns an Deinen Erlebnissen teilhaben lässt. Wir sind alle froh, dass Du das Beben gut überstanden hast und freuen uns mit Dir über die vielen neuen Eindrücke. Genieße die Zeit!
    Liebe Grüße von den Hamelspringern
    Heidi & Co.

  2. Liebe Marilene,
    ich bin froh, dass es Dir gut geht und Du das Erdbeben unbeschadet überstanden hast. Du beschreibst sehr schön und eindringlich, wie diese Ausnahmesituation Dich ganz anders in diese Welt hinein und mit den Menschen noch näher zusammengebracht hat, und toll, dass Du gleich mit abgepackt hast. Das Herz pocht mit, auch weil Du alles so genau vor einem erstehen lässt. Hab weiterhin eine schöne und intensive Zeit, alles Liebe von Martin

    • Lieber Martin,
      es freut mich sehr zu hören, dass Du dir mit diesem Eintrag ein Bild von der Situation hast machen können. Ich habe sehr lange darüber nachgedacht, das beben überhaupt auf diesem Blog zu thematisieren – schlichtweg, weil es mir unglaublich schwer fiel diese Situation auch nur annähernd mit Worten zu beschreiben.
      Muchos saludos, Marilene

  3. Hallo Marilene, den Blog Link habe ich gerade erhalten – schön zu hören, dass es Dir gut geht – diese besondere Situation verlangt von Dir besondere Stärke – und diese hast Du – es grüßen dich die Vier aus Elstorf …

  4. Que bueno que estás bien Marilene, cuídate mucho fue muy feo esto que ocurrió. 
    Saludos desde Guadalajara. 
    Cynthia 

  5. Liebe Marilene!
    Schön von dir hier zu lesen. Hoffe, du genießt die Zeit und lernst das Leben und die Welt aus anderen Perspektiven kennen. Toi toi toi

    • Buenas días Herr Kroha,
      vielen Dank für den Kommentar. Ja, den hochangepriesenen Perspektivwechsel erlebe ich hier immer wieder aufs Neue.
      Viele Grüße von México nach Schäftlarn sendet
      Marilene

  6. Ich bin eine Tennispartnerin von deiner Oma. Als ich das erste Mal vom Erdbeben in Puebla hörte, musste ich sofort an
    deine Oma denken.
    Ich finde deinen Bericht super und er gibt eigentlich nur wieder, wie dich deine Oma immer sieht. Mach weiter so und alles, alles Gute und ebenso viel Kraft für die Zukunft.

    • Hallo Monika!
      Danke für die herzlichen Zeilen! Wie schön zu sehen, dass der Blog von so vielen Seiten her mitverfolgt wird. Ich freue mich sehr darüber und sende viele Grüße aus Puebla nach Salzgitter zu Dir und meinen Großeltern!

  7. Schön dass du auch einen kleinen Lichtschimmer darin erkennst und deinen Optimismus behälst, ich wünsche euch alles Gute und viel Kraft!!!
    PS: Vermiss dich, dickes Bussi :*

    • Liebe Clara!
      Fühl´ dich gedrückt und vermisst! Danke für deine lieben Zeilen, Lichtschimmer scheinen immer von irgendwo her.
      Alles, alles Liebe aus México sendet Dir deine Marilene :*

  8. Marilene, ein Glück, dass du das Beben unbeschadet überstanden hast. Ab nun : Guten Start und liebe Grüße

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