Mein Tellerrand schien immer höher und höher zu wachsen. Mir fiel es schwer, darüber hinaus zu schauen, Neues zu sehen, zu entdecken.
Die Komfortzone, die einfach viel zu schön war. Die ich mir in den letzten Jahren so gemütlich und kuschelig eingerichtet habe. In der ich mich immer so wohl fühlen konnte. Die ich zu Hause nie verlassen musste, höchstens mal vorsichtig mit einem Fuß herausgetastet habe und mich schnell wieder zurückziehen konnte. Ich musste nicht raus. Musste nichts ausprobieren, nichts wagen, nicht studieren, nichts sagen. Ich war einfach da, hatte mein Leben, war froh und fühlte mich wohl, in meiner schön eingerichteten Komfortzone in Berlin.
Vor elf Monaten war nun der Zeitpunkt gekommen, an dem ich die schützende Tür öffnen musste. Neuen, frischen Wind um meine Nase habe wehen lassen, raus in die große Welt, um mich von neuen Eindrücken einspinnen zu lassen. Wie in einem Spinnennetz. Es brauchte große Überwindung, mich in die Fremde des Landes, die Sprache und die Kultur hineinfallen zu lassen, bis mir auffiel, dass das Netz verwoben ist und ich mich von hier nach da hangeln kann. Erst schien alles unüberwindbar, viel zu neu, zu voll, zu ungewohnt. Überwältigt von Chaos, der Lautstärke und dem Dreck. Und das, wo ich aus Berlin komme – das heißt doch schon was.
Ich war wie im freien Fall. Nichts Bekanntes, an dem ich sich festhalten konnte, nichts, was mich aufzufangen schien. Aber nach einer Weile und dann später immer wieder, fanden sich bekannte Dinge. Dinge, die mir meinen Alltag schöner und zu etwas Besonderem machen.
Angekommen auf dem Boden, herausgehangelt aus dem Netz aus Anfangsaufregung, neuen Farben, Geräuschen und Gerüchen, merke ich nun, dass diese Angst, all das Neue und Unbekannte, das Beste ist, was mir passieren konnte.
Und ich merke, dass ich eigentlich doch noch lange nicht auf dem Boden angekommen bin. Dass es immer weiter geht Es geht immer weiter. Dass ich Tag täglich neue Eindrücke bekomme und mir immer wieder unbekannte Dinge begegnen. Manchmal nehme ich sie vielleicht gar nicht wahr, oder erst später, wenn ich es überhaupt nicht erwarte. Es ist die Offenheit, die der Schlüssel für mich ist. Neue Dinge zu entdecken und zu erleben ist super interessant, bringt mir unglaublich viel und mit einem Funken Neugier hört das Entdecken nie auf. Meistens kann ich mein inneres Erleben und Empfinden noch gar nicht beschreiben. Es ist in mir, reift mit mir und tritt irgendwann – vielleicht – zu Tage, so dass ich es wirklich wahrnehme. Und dann ordne ich es ein, verarbeite es in meinem Kopf – Kulturschock, Hitzeschock, Verkehrsschock, alles Schock.
Es war schwer, die ersten Eindrücke kurz zu fassen und möglichst farbenfroh und ausdrucksstark in die Köpfe von Außenstehenden zu pinseln…und positiv zu halten. In der fremden Welt gibt es keine grünen Parks, schlichte Dekorationen, einladende Straßen und verständliche Worte. Jeder folgt einem geheimen Treiben, in das ich nicht zu gehören scheine. So war es anfangs für mich und genau das fühle ich jetzt wieder…nur andersherum.
Mein Tellerrand ist jetzt in die andere Richtung gewachsen. Aufregung und ängstliche Unwohlseinsattacken steigen in mir auf, diesen nun wieder überschreiten zu müssen. Zurück in die alte, bekannte Welt, die mir jetzt doch sehr fremd entgegen starrt.
Denn wenn ich jetzt, nach so langer Zeit, wieder zurück nach Hause komme – ich meine das Alte und Bekannte – hat sich wohl möglich Alles und Nichts verändert. Sind meine Freunde immer noch die Gleichen, ist die Wohnung, bis auf möglicherweise ein paar neue Bücher, komplett die Alte.
Aber ich – ich bin nicht mehr die Gleiche, ich habe mich verändert, habe Erfahrungen und Eindrücke in mich aufgesaugt. Und damit ist genau das passiert, was mir alle immer gesagt haben, ich aber lange Zeit nicht glauben konnte und wollte. Dadurch, dass ich im letzten Jahr, trotz Hilfen und trotz der Kontakte zu anderen Menschen und nach Hause, so auf mich allein gestellt war, dass alle Entscheidungen ganz allein meine eigenen waren, habe ich erst jetzt bewusst gemerkt, was ich will, was ich kann, was ich brauche, was mir gut tut.
Ich habe gelernt, wo meine Schwächen und Stärken liegen, an meinen Schwächen zu arbeiten, sie bewusst zu suchen und mich mit ihnen zu konfrontieren. Ich habe gelernt, was mir wichtig ist, erkenne es daran, was auch in meinem erst völlig neuen Alltag im März nicht fehlen durfte.
Ich sehe, was ich absolut nicht brauche und was in meinem früheren Alltag nur unnötiges Gepäck war. All das werde ich auf meiner Rückreise sorgfältig aussortieren, was sicherlich hier und da für Verwunderung sorgen wird, aber in dem letzten Jahr habe ich eines gelernt – was mir nicht gut tut, kann weg.
Ich habe gelernt, allein zurechtzukommen und überall dort, wo mir mein eigener Schatten im Weg steht, gekonnt über ihn hinweg zu springen und mich am höchsten Rand des Tellers mutig an ihm hochzuziehen und staunend das Treiben außerhalb zu begutachten.