Und mit jedem Tag, verschwindet einer. Die Zeit rennt nur so, prescht voran, wie ein wildgewordener Elefant, ein Pferd, das man zu sehr mit der Gerte angetrieben hat oder wie meine Mitfreiwillige Frieda, die einen Blutegel entdeckt hat.
Sie rennt gerade jetzt, wo sie kriechen soll. Es ist genau, wie alle voraussagen, wovon ich lang nichts hielt und nicht geglaubt hatte. Wenn die Zeit verfliegen soll, am Anfang, wenn alles ungewohnt, neu und viel zu viel ist, kriecht sie nur so dahin, gleicht einer Schnecke, die auch den letzten Motivationsstoß verpasst hat und nun, wenn sie es gerade soll, sprintet sie gerade so wie Usain Bolt.
Die Zeit ist gehässig, verarscht mich, lacht mich Tag für Tag aus. Die Zeit ist mein Gegenspieler, macht das was ich vermeiden will, spielt mich aus.
Die Zeit ist ein kleines Arschloch.
Die Zeit ist das, was das Leben bestimmt. Sagt, wann ich aufstehen muss, steht mit erhobenen Zeigefinger vor mir steht, wenn ich mal wieder zu spät bin, wechselt vom Zeigefinger zum Mittelfinger, wenn ich schwitzend in einer Prüfung sitze und reicht mir dann doch manchmal die ganze Hand, wenn ich meinen fast verpassten Flieger doch noch erwische.
Die Zeit ist so berechenbar, jeden Tag gleich. 60 Sekunden – 1 Minute. 60 Minuten – 1 Stunde. 24 Stunden – 1 Tag. 7 Tage – 1 Woche. 4 Wochen – 1 Monat. 12 Monate – 1 Jahr. 1 Jahr – Vietnam. Und genau dieses ist bald vorbei. Meine Zeit hier ist um und fängt in zwei Monaten von vorn an zu schlagen. Aber jetzt bin ich erstmal noch hier. Meine ellenlange Liste an Dingen, die ich unbedingt noch essen, trinken, sehen und machen will scheint einfach nicht zu schrumpfen. Im Gegenteil. Sie wird mit jedem Gang nach Draußen, mit jeder pinterest oder google Suche, mit jedem Gespräch länger.
Wenigstens ein Bruchteil wurde mit der Weihnachtsreise mit dem Wiedervereinigungszug abgehakt, aber für den Rest scheinen die letzten Monate einfach viel zu kurz. Die Wochenenden sind gezählt, die Wochen vollgestopft, aber wo bleibt die Zeit?
Ich sehe sie in der Ferne, sie hat Vorsprung, begegnet schon fast dem Osterhasen. Wann kaufe ich Souveniers (die aufgrund meines Backpacks zum Glück schon reduziert werden müssen), wann kaufe ich mir Kleidung, die hier ein Bruchteil dessen kostet, als in Deutschland, wann arbeite ich meine Liste ab, wann sehe ich die Uni, das Restaurant oder meine geliebte Mopedstrecke nach Distrikt 2 das letzte Mal.
Fragen über Fragen, die nur die Zeit beantworten kann. Und Antworten, die sie fadenscheinig zurückhält, die mal mehr, mal weniger zufriedenstellend sind.
Die Zeit macht ein Wettrennen mit mir. Ich habe sie mit dem Startschuss im März mit einem großen Vorsprung hinter mir gelassen. Sie kam im Mai an mich heran und holte auf und ist nun in einem Affenzahn an mir vorbeigerauscht, hat ihre letzten Energiereserven mobilisiert und lächelt nun höhnisch zu mir zurück, wie ich mir alle Mühe gebe, aufzuholen.
Aber die Zeit werde ich nicht aufholen können, ich kann sie nicht zurückdrehen, aber ich kann und werde sie nutzen!