Ulcinj – eine ultimative Liebeserklärung

Es ist so weit. Mein wundervolles Jahr in Ulcinj endet. Morgen werden wir in Richtung Norden aufbrechen und ich muss die Stadt, in die ich mich so verliebt habe, bis auf weiteres hinter mir lassen.

Ich hatte einen sehr schönen Abschiedsabend, mit meinen Kollegen, Rexhep und Zenepa. Einfach zusammensitzen, essen, trinken, leidenschaftlich Diskussionen führen und nebenbei ein bisschen Fußball schauen. Und dann macht auch noch der Spieler mit albanischen Wurzeln das erste Tor für die deutsche Nationalmannschaft. Ich bin ziemlich sicher, das war nur für mich!

Es heißt Abschied nehmen. Abschied nehmen von alldem, was dieses Jahr zu dem gemacht hat, was es für mich war. All die großen und kleinen Dinge und Ereignisse, all die Menschen, die mir im Gedächtnis bleiben werden, die ich mitnehme, wo auch immer mein Weg mich hinführen mag.

Ein kleiner (oder vermutlich etwas größerer Überblick):

An erster Stelle mal meine Kollegen Armin und Kurt, die maßgeblichen Anteil daran hatten, dass es ein gutes Jahr war. Ihr habt mir viel Verantwortung und tolle Aufgaben gegeben und meine unglaubliche Renitenz und Leidenschaft in allen Diskussionen über Gott und die Welt ertragen und mich trotzdem immer wieder zum Essen eingeladen. Kurt, morgen zahl‘ ich! Sie standen mir immer mit Rat und Tat zur Seite, haben mir unheimlich viel beigebracht, wir haben viele tolle Abende im Plaža verlebt und Hassan das Auskommen über den Winter gesichert.

Ich verabschiede mich auch von meinen anderen Kollegen und Kolleginnen. Von Naim, Gazmir, Irma, Milka und ganz besonders von Luljeta, mit der ich in Freudenstadt viel Spaß hatte und von Artan, den ich schon sehr früh in mein Herz geschlossen hatte. Er war der beste Montenegrinisch-Lehrer, den ich mir vorstellen konnte und den ich verdient hatte, und hat mir seinen Sohn für den 1. FC Kaiserslautern versprochen. Ich bin zuversichtlich, dass ich in ungefähr 15 Jahren einem Spieler mit dem Namen „Kurti“ zujubeln darf. Ich werde das im Auge behalten.

Ich verabschiede mich von meinen Schüler_innen. Nun ist meine Schulzeit ja noch nicht allzu lange her und wenn ich mich an uns als Schüler_innen erinnere, kann ich nur dankbar sein für das, was mir da vorgesetzt wurde. Nette, freundliche, hilfsbereite, lustige, motivierte, begabte, intelligente Köpfe mit einem unglaublichen Potential. Ich wünsche jedem und jeder einzelnen nur das allerbeste, ich hatte viel Spaß mit ihnen und werde sie vermissen. Und meinen Siebtklässler_innen einen besonderen Dank für das „Marmor, Stein und Eisen bricht“. Es hat mich sehr berührt und ich werde mich immer daran erinnern!

Ich nehme Abschied von meiner Vermieterfamilie, zu der ich nicht mehr schreiben muss, als den Satz, mit dem sie mich im September willkommen hießen: „Unsere Granatäpfel sind deine Granatäpfel.“ Genauso habe ich mich bei Sascha, Ivana, Milica, Marco und Ivan immer gefühlt!

Ich verabschiede mich von Jussuf, der mich an meinem Ankunftstag vom Flughafen abgeholt hat und sich mir als Josef vorgestellt hat, um, wie er mir später verriet, den kulturellen Schock zu mindern, der meine Verwandtschaft durch die Gegend kutschiert hat und der immer ein paar liebe Worte für mich hatte, wenn ich ihm in der Stadt begegnet bin.

Ich nehme Abschied von meiner persönlichen Marktfrau, meiner Bäckereiverkäuferin, meiner Käsethekenverkäuferin und dem Fahrkartenabreißer an der Busstation, die mich nach kurzer Zeit kannten und jedes einzelne Mal zu strahlen anfingen, wenn sie mich nur sahen.

Ich nehme Abschied vom Meer, das für mich als Kind des Pfälzer Walds nicht der natürliche Habitus ist, das ich aber unendlich liebgewonnen habe.

Ich verabschiede mich von Zenepa, der stellvertretenden Bürgermeisterin, die durch alles, was sie tat, für mich zum Vorbild und zur Inspiration wurde, die immer zur Verfügung stand, wenn wir sie für unsere Projekte gebraucht haben und die, und die, obwohl sie nie Zeit hat, immer eine Umarmung und ein Küsschen für mich übrig hatte. Es ist einfach nur gut, dass es sie gibt!

Ich nehme Abschied von meinen Büchern, die das Leben meiner Schüler bereicherten, mir einen Projektpreis brachten und mich zu vierfachem Diebstahl anstifteten.

Ich nehme Abschied von Ardita und den anderen Damen in der Bibliothek, die mir beim Büchersortieren geholfen haben und verhinderten, dass ich an den Büchern kleben bleibe bzw. allzu viele stehlen kann.

Ich verabschiede mich von meinen Mitfreiwilligen, ganz besonders von denen, die mich hier besucht haben oder die ich besuchen durfte, also Christina, Sarah, Eva, Amelie und Merve (nochmal danke für die Babygläschen und die Lästereien!) und von meinen anderen Balkan-Homies, mit denen ich ein super Zwischenseminar hatte. Ich freue mich aufs Seminar im August!

Ich nehme Abschied von der unbeschreiblichen Natur Ulcinjs und Montenegros, die mich immer wieder sprachlos zurücklässt, egal, wie oft ich sie sehe. Valdanos, die Tour zum großen Strand hier in Ulcinj, Kolašin, Berane, Kotor, etc. in ganz Montenegro. Es ist wirklich eine Reise wert!

Ich nehme Abschied von Dragan, dem Mann aus dem Laden gegenüber, der mich mit seinem Geschäft davor gerettet hat, allzu viel schwere Einkäufe den Berg hochschleppen zu müssen. Auch er und seine Frau hatten immer nette Worte und ein warmherziges Lächeln für mich.

Ich nehme Abschied von meiner Balkon-Katze mit den strahlend grünen Augen, die zuverlässig immer kam, wenn ich mich mal einsam gefühlt habe und die geduldig mit mir geschmust hat. Außerdem hat sie mir zum Abschied vertrauensvoll ihre Babys vorgestellt, so etwas Niedliches habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.

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Auch von den zahlreichen anderen Katzen verabschiede ich mich, von der frechen, die ich zur Angst vor meiner Wasserflasche erziehen konnte und von der, die bei Armin in der Nähe wohnt und mit ihrem schwarzen Fleck an einer ungünstigen Stelle ein bisschen so aussieht wie Adolf Hitler.

Ich verabschiede mich von der Saline, die ich mir erst kurz vor Schluss erschlossen habe, die mir aber zu einem Herzensanliegen wurde und von der ich hoffe, dass es Zenepa, Azra und den anderen gelingt, sie zu retten.

Ich verabschiede mich von Rexhep, der immer noch nicht von dem Plan ablässt, mich mit einem seiner Brüder, am liebsten mit dem Hoxha, zu verheiraten. Da werde ich ihn enttäuschen müssen, sonst ist er aber ich wirklich lieber Kerl.

Ich verabschiede mich vom Ruf des Muezzins, der mich so zuverlässig durch den Tag begleitet hat, der einen Hauch Exotik und Orient in diese Stadt trug und der mir als Zeitmesser fehlen wird.

Ich nehme Abschied vom Papillon, Venus, Avanti, Tropical, Aragosta und Teuta, den Restaurants und Cafés, in denen ich mich hauptsächlich rumgetrieben habe, und natürlich ganz besonders vom Plaža, dem „Place to be“ für alle Tageszeiten. Ich habe dort so viel Zeit verbracht und so viel Geld gelassen wie in keinem anderen Restaurant und ich habe es nicht bereut. Die beste Pizza Vegetariana im ganzen Umkreis, die frischste Limonade der Welt und das beste Risotto meines Lebens! Die nettesten Kellner und Köche und die meisten Bier aufs Haus! Und wenn man von den Kellnern mit drei Küsschen verabschiedet wird, heißt das, dass man eine gute Zeit hatte.

Ich nehme Abschied von kulinarischen Köstlichkeiten. Von Gemüse, das man waschen musste, weil Dreck dran war und nicht irgendwelches Chemie-Zeug, von Eierschachteln voller Hühnerfedern, von herrlich krummen Gurken. Von den schmackhaftesten Tomaten und Orangen, die vielleicht verhindern, dass ich die in Deutschland jemals wieder genießen kann. Abschied von Shopska, Procorde und Nikšićko pivo, viel Schnaps unbekannter Herkunft, Tee mit Zitrone, Salzstangen mit Erdnuss-Füllung und ganz besonders Trilece, dem Paradies auf Erden komprimiert in einem kleinen Stück Nachtisch.

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Ich verabschiede mich von meinen beiden Roma-Mädels, Drita und ihrer Schwester, die gegen eine kleine Gebühr immer einen lustigen Spruch und ein Highfive für mich hatten und mich mit ihrem perfekten Deutsch beglückten, obwohl sie nie eine Schule von innen gesehen haben und wahrscheinlich auch nicht mehr sehen werden.

Ich verabschiede mich von meinem Deutsch-Stammtisch, der nicht so richtige laufen wollte, mir aber trotzdem immer wieder interessante Bekanntschaften verschafft hat. Ich drücke Azra alle verfügbaren Daumen und großen Zehen für ihren neuen Job in der deutschen Botschaft in Podgorica!

Ich nehme Abschied von Serbien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien und besonders Albanien, die Länder der Region, in die es mich im Laufe der Zeit mal verschlagen hat und die alle meinen Horizont erweitert haben.

Ich verabschiede mich von meinem Lieblingsstrand Liman 1 mit seinem günstig gelegenen Felsen im Wasser auf dem ich oft saß, Gedichte schrieb oder nur in die Welt hinaus schaute. Hier habe ich viele Stunden in der Sonne und auch im Sturm verbracht und konnte die Gedanken schweifen lassen.

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Ich nehme Abschied von meinem Balkon, den ich nach zu langer Abwesenheit über den Winter wiedererobert habe und auf dem ich so unfassbar viel Zeit verbrachte, dass es eigentlich schon tragisch ist. Aber er war mein Paradies im Paradies und bot mir den wunderschönsten Ausblick, den ich mir vorstellen kann.

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Ich verabschiede mich vom drittschönsten Sternenhimmel der Welt, der mir viel Schlaf gestohlen hat, weil er einfach so wunderschön war, dass ich ihn ständig anschauen musste.

Ich nehme Abschied vom halben Türknauf an der Tür des Gymnasiums, der mich in den ersten Tagen hier begrüßt hat und bei dem ich jedes einzelne Mal schmunzeln muss, wenn ich ihn sehe.

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Ich nehme Abschied von Herbert, dem Plüsch-Elch, den wir erst vor kurzem als Klassenmaskottchen eingeführt haben und den ich genau wie die meisten Schüler sofort ins Herz geschlossen haben. Herbert, es tut mir leid, dass du jetzt drei Monate ganz alleine im Schrank sitzen musst.

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Ich verabschiede mich vom hässlichsten Denkmal der Welt, das mich immer nervt, wenn ich es sehe, weil es so unfassbar hässlich ist, das aber trotzdem irgendwie zu Ulcinj gehört und deshalb nicht fehlen darf.

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Ich verabschiede mich von allen Zufallsbekanntschaften, vom Müllwagenfahrer, der mich jeden Morgen vom Müllwagen aus anhupt, von all den Leuten, die mir begegnet sind und es mit einem strahlenden Lächeln, einem Handkuss und/oder einem gestolperten „Guten Tag“ immer wieder verstanden, mir das Gefühl zu geben, allein meine Anwesenheit mache ihr Leben ein kleines Stück besser.

Kurz (oder lang) und gut: Ich nehme Abschied von Ulcinj, einer wahnsinnig tollen Stadt, in der alle Religionen, Nationalitäten und Sprachen friedlich nebeneinander leben, einer Stadt, die mich so herzlich aufgenommen hat, wie ich es mir nie erträumt hätte, einer Stadt, in der ich weiß, dass ich angekommen bin, seit ich beim Klang einer Autohupe nicht mehr sicher sein kann, dass ich nicht gemeint bin, einer Stadt, in der ich mich auch um ein Uhr nachts in der dunkelsten Gasse sicher gefühlt habe, einer Stadt, in der man nicht sein Müsli an der Supermarktkasse liegen lassen kann, ohne dass es einem eine Woche später feierlich überreicht wird, einer Stadt, die mich inspiriert hat, einer Stadt, die ich schon vermisse, obwohl ich noch hier bin und in die ich wie meine liebe Alex einer Schwalbe gleich sicherlich immer wieder zurückkehren werde. Ulcinj verliert man nicht!

!!!Danke//Thank you//Hvala//Faleminderit!!!

4 Kommentare

  1. Muriel · 21. Juni 2016

    Danke für all die wundervollen Blogbeiträge, die auch uns daheim immer bereichert haben! Wir freuen uns wieder auf dich!

  2. Merve · 21. Juni 2016

    Eine ultimative Liebeserklaerung. Ulcinj wird seine Ehrenbürgerin garantiert vermissen!
    Jana, danke für deine stets interessanten und tollen Geschichten und natürlich die lustige und erlebnisreiche Zeit bei und mit dir!

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