Schotterwege, Doppelkekse und das Meer, oder: Die Kulturweit-Fahrradkarawane im Baltikum

Werte Leser,

was ist eigentlich das Baltikum? Kaum mehr als ein geographischer Hilfsbegriff, um  die Region zwischen Danzig und St. Petersburg zusammenzufassen, keine Beschreibung einer einheitlichen Region. Insofern gibt es im Baltikum also einiges an kultureller Vielfalt zu bestaunen. Aus diesem Grunde entschloss ich mich, das Baltikum ein wenig zu bereisen, und da mir das Glück hold war, bot sich von offizieller Kulturweit-Seite die ideale Gelegenheit: Die Kulturweit-Fahrradkarawane. Eigentlich waren es zwei Karawanen, eine führte von Klaipeda nach Tallinn, die  andere von Belgrad nach Bukarest. Jede hatte zwanzig Teilnehmer plus drei Trainer, in unserem Falle zwei Trainerinnen und einen Trainer. Auf der Fahrrad spürt man nicht nur das wahre Ausmaß der Entfernung besser, sondern lernt ein Land auch intensiver kenne, als wenn man mit einem schnelleren Verkehrsmittel reist, darum hat man sich bei Kulturweit im letzten Jahr die Jahrradkarawane einfallen lassen. Um es gleich vorwegzuschicken: Die Idee ist brillant.

Nun aber will ich keine Zeit verlieren, einen Eindruck vom Baltikum zu vermitteln. Zwei Details werden in diesem Artikel anders sein als sonst: Ob der Zahl der bereisten Orte werde ich zu ihnen keine geschichtlichen Abrisse geben, wie ich es sonst zu tun pflege, und ich werde für die Städte – obgleich vorhanden – nicht die deutschen Namen verwenden, weil sie, anders als im Falle Polens, keine Zeichen enthalten, die mein Computer nicht darstellen kann, und auch weniger bekannt sind als die „wahren“ Namen.

Die Reise begann in Klaipeda, Litauen, aber da ich noch nie in Litauen gewesen war, entschloss ich mich, zusammen mit drei anderen Freiwilligen, zuvor nach Vilnius zu reisen. So bestiegen wir in Warschau einen Nachtbus, der uns in die etwa 550.000 Einwohner beherbergende Hauptstadt Litauens brachte. Eine Kurzinformation zu Litauen sei euch jetzt aber doch gegönnt: Auf dem überwiegend bewaldeten, flachen Staatsgebiet leben 3,2 Millionen Menschen, wobei es wegen zu niedriger Geburtenraten und starker Abwanderung immer weniger werden. Diese Menschen leben zu zwei Dritteln in Städten, achtzig Prozent von ihnen sind römisch-katholisch. Litauen erlebte in den letzten Jahren ein starkes Wirtschaftswachstum, wurde aber dann von der Krise hart getroffen. Seit 2004 ist es Mitglied der europäischen Union, die Währung heißt Litas. Wir kamen zur Hauptstoßzeit in VIlnius an, hatten aber nicht das Gefühl, von Betriebsamkeit gleichsam überfahren zu werden. Durch von Trolleybussen durchrollte Straßen und winzige, romantische Gassen kamen wir zu unserem Hostel, bevor wir uns in der Stadt umschauten, in der wir uns noch mit mehreren anderen Freiwilligen trafen. Manche lernten wir neu kennen, da sie im Februar 2012 ausgereist waren. Mittags nahmen wir an einer kostenlosen, mit Trinkgeldern finanzierten Stadführung teil. Mittlerweile regnete es in Strömen, aber unsere Fremdenführerin weigerte sich gegen jede Art von Regenschutz mit der Begründung, dass sie häufiger nass würde. Die Tour begann auf dem hübschen Rathausplatz und führte dann zu einer unscheinbaren Kirche, welche die älteste Litauens ist. Das heißt allerdings nicht extrem alt, denn Litauen wurde erst im 14. Jahrhundert christianisiert. Anschließend ging es in ein Künstlerviertel, dass sich zur unabhängigen Republik erklärt hat. Jeder darf sich künstlerisch verwirklichen, und entsprechend bunt, vielfältig und sympathisch-desorganisiert sieht es aus, doch die Gentrifikation hat schon begonnen, die Wohnungspreise steigen, es ist schick, dort zu wohnen. Außerdem besichtigten wir noch einige bemerkenswerte Kirchen und stiegen auf einen Hügel, von dem aus man einen guten Blick auf die größtenteils sandfarbene Altstadt und das moderne Geschäftsviertel hat, dessen glänzende Hochhaussilouette vom Aufschwung Litauens nach dem Ende der Sowjetzeit kündet, der erst von der Wirtschaftskrise gebremst wurde.

Den nächsten Tag verbrachten wir auf der Burg Trakai, einem backsteinroten Bollwerk gegen die einfallenden Deutschsordensritter im Mittelalter, auf einer Insel mitten in einem See gelegen. Einst ragten die Burgmauern direkt aus dem Wasser, doch durch die zunehmende Verlandung gibt es heute etliche Meter Abstand zwischen Ufer und Burg. Rund um den See gruppieren sich bunte, skandinavisch wirkinde Holzhäuser. Wie sich auf der Radtour zeigen sollte, nimmt diese Bullerbü-Ästhetik im Baltikum immer weiter zu, wen man nach Norden fährt.

Dann, endlich, ging es los in Richtung Klaipeda. Im Zug, der moderner war als die meisten Züge in Polen, und dessen Benutzung trotzdem nicht teurer war, entstand unser Karawanenlied, dessen Text ich, ohne ihn für mich in Anspruch nehmen zu wollen, hier einmal aufschreibe:

Wir radeln geschwinde durch Feld und Wald, wir radeln bergab und bergauf

und fällt wer vom Fahrrad, so fällt er gelinde und klettert behend wieder auf

Es geht über Stock und Stein, die Ostsee ist unser Begleiter

wir radeln im Sonnenschein, die Landschaft stimmt uns heiter

Auf die Räder! Wir strampeln ziemlich viel

Auf die Räder! Der Weg ist unser Ziel

Wer auf dem Gebiete der Volksmusik (also der richtigen, nicht Musikantenscheune) bewanderter ist als ich, wird feststellen, dass das Lied auf „Wir reiten geschwinde durch Feld und Wald“ basiert. In Klaipeda trafen wir uns dann mit der ganzen Karawanengruppe und den Trainern. Am Abend machten wir uns auch mit unseren Fahrrädern bekannt und fuhren mit ihnen zur Einweihung durch Klaipeda. Klaipeda hat am Hafen einige schöne Fachwerk- und Backsteinhäuser, viele Parks, Skulpturen und ein sehr maritimes Flair. Den Abend verbrachte ich mit einigen anderen nach langer Suche am Strand.

Am nächsten Tag ging es endlich los. Von Klaipeda aus fuhren wir auf einem nagelneuen Radweg durch schattige Kiefernwälder, immer an der Ostsee entlang, schmetterten unser Karawanenlied oder anderes erbauliches Liedgut, rezitierten Gedichte oder staunten einfach darüber, wieviele Touristen sich an den  litauischen Stränden verlustierten. Die Mittagspause fand im Schatten des Schildes „Republik Lettland“ fand, wobei das Schild viel größer als erforderlich ist und eine große leere Stelle mit Schrauben aufweist, an der sich früher weitere Metallbuchstaben befunden haben müssen, die man, als die Wörter „Sozialistische Sowjet-“ obsolet wurden, einfach abnahm. An der Grenze endete der Radweg, weiter ging es über eine etwas holprige Landstraße durch nur dünn besiedeltes und dafür dicht bewaldetes Gebiet und anschließend durch einen Schotterwerg, der uns mit gerippter Oberflächenstruktur und groß angelegten Mücken- und Stechfliegenangriffen quälte. Im Laufe unserer Fahrradtour wurde „Schotterweg“ das Wort, das ein kollektives Naserümpfen, Murren und Hände-über-dem-Kopf-Zusammenschlagen hervorrief und zum Synonym für allerlei Beschwernisse avancierte. Am Abend, endlich, kamen wir in einem winzigen Ort an, dessen Namen ich leider vergessen habe, der aber für uns sehr wichtig war, weil uns von dort ein Bus die letzten Kilometer nach Liepaja brachte. Von Liepaja sahen wir leider die angeblich hübsche Innenstadt nicht, sondern hauptsächlich ein schmuddlige Holzhausgewirr und gewaltige, graue Menhire, die sich bei näherem Hinsehen als Plattenbauten sowjetischen Typs entpuppten. Wir nächtigten in einer Schule, die sich in einem herrschaftlichen Vorkriegsbau in U-Form, möglicherweise einem großen deutschbaltischen Gutshof befand. Bereits am ersten Tag bildeten sich Rituale heraus, die uns die ganze Tour über erhalten bleiben sollten: Dazu gehörte zum Beispiel unsere Vorliebe für Doppelkekse und Pausen, unser kollektives Aufstöhnen, wenn wir auf einen Schotterweg kamen, der Signalruf „Trinkpause“ oder auch der Ruf „Pinkelpause“.

Da wir nun textlich ein neues Land betreten haben, soll eine kurze Information darüber nicht fehlen. Lettland ist fast so groß wie der südliche Nachbar Litauen,  aber wesentlich dünner besiedelt, denn die Bevölkerungszahl beträgt, wie die im Lande mit Entsetzen aufgenommene letzte Volkszählung ergeben hat, nur noch knapp zwei Millionen. Noch mehr als Litauen leidet Lettland unter starker Abwanderung, obwohl es bis 2008 ein starkes Wachstum der Wirtschft erlebt hat. Im Gegensatz zum katholischen Litauen, dass über lange Zeit mit Polen ein Großreich bildete, ist das eher deutsch und skandinavisch geprägte Lettland überwiegend von Lutheranern bewohnt. Der Anteil der Russen an der Bevölkerung ist mit einem Viertel ziemlich hoch. Die lettische Sprache ist, ebenso wie die litauische, eine baltische Sprache, entfernt verwandt mit den slawischen Sprachen. Interessanterweise ist die lettische Währung, der Lats, eine der stärksten der Welt: Ein Lats ist mehr Wert als ein Pfund Sterling. Seit 2004 ist Lettland Mitglied der europäischen Union.

Der nächste Reisetag führte uns durch das bewaldete und doch etwas hügelige Landesinnere nach Kuldiga. Unterwegs sahen wir einige Ruinen, derer es in Lettland aufgrund von Abwanderung und Landflucht viele gibt, wurden einmal nass und trockneten im Wind und bei angenehmen Temperaturen schnell wieder. Die Mittagspause verbrachten wir an einem Fluss, während der wir die erste Probe unseres Karawanenchores unternahmen. Am Abend kamen wir in Kuldiga an. Kuldiga ist ziemlich klein, hat nur etwa 15.000 Einwohner, dafür aber eine malerische Altstadt, durch die sich ein plätschendes Flüsschen windet, in der sich drei Marktplätze befinden und nichts die Idylle stört. Einen Gedanke über Idylle sollte man sich allerdings machen: Auf uns wirken alte Häuser mit blätterndem Putz, uralten Fenstern und teilweise gesprungenen Dachziegeln vielleicht romantisch-verwunschen, aber für die Bewohner sind sie möglicherweise in erster Linie schlecht isoliert, zugig und eines neuen Anstriches bedürftig, und nur der Geldmangel hindert sie  daran, die Häuser solchermaßen zu renovieren. Am Rand von Kuldiga fließt ein breiter Fluss, die Venta, und wartet mit dem breitesten Wasserfall Europas auf. Er erstreckt sich in der Horizontalen über 260 Meter, in der vertikalen jedoch nur über zwei. Man kann sich also darunter stellen und duschen lassen, und genau das taten viele Menschen am kleinen Strandbad am Flussufer auch. Wir gesellten uns zu ihnen und erfrischten uns. Ausklingen ließen wir die Abend in einer der urigen Kneipen der Stadt, bevor wir uns in der Turnhalle der sehr modernen Schule schlafen legten.

Am folgenden Tag ging es in Richtung Riga. Die Strecke war noch hügeliger als am Vortag, aber landschaftlich sehr schön, Wälder und Felder wechselten sich ab, und die Sonne schien, für meinen Geschmack sogar etwas zu viel. Wo wir unsere Mittagspause verbrachten, weiß ich nicht mehr, sicher bin ich aber, dass wir am Abend in einem kleinen Ort eintrafen, um das letzte Stück im Bus zurückzulegen, weil vierspurige Straßen und Fahrräder nicht so gut harmonieren. Der nächste Tag war unserer Erkundung Rigas gewidmet.

Riga ist mit über 800.000 Einwohnern die größte Stadt des Baltikums, eine Metropole und Lettlands Primatstadt, gelegen an der Daugava. Der erste Eindruck erinnerte mich ein bisschen an Hamburg, aber die Ähnlichkeit ist oberflächlich. Die Stadt ist aufgrund ihrer Vergangenheit sehr hanseatisch, sie hat einen Hafen und hochaufragende Kirchtürme, aber ihre Architektur ist ganz anders als die Hamburgs. Die Innenstadt ist in ihrem Grundriss noch mittelalterlich und bietet eine Vielzahl verschiedener Architekturstile, darunter Gotik, Renaisance, Barock und Klassizismus. Besonders auffällig sind die großen Bürgerhäuser der reichen Kaufleute, die über Jahrhunderte die Geschichte der Handelsstadt lenkten. Natürlich hatten die Bürger nicht nur Privathäuser, sondern auch Treffpunkte und Institutionen, zum Beispiel das gotisch-barocke Schwarzhäupterhaus, in dem sich die Kaufmannsbruderschaft der Schwarzhäupter traf und das erst von 1993 bis 1999 nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wiedererrichtet wurde, aber auch die Gilden, deren eine einst von einem abgewiesenen Kaufmann vermittels einer auf dem Dach seines angrenzenden Hauses stehenden Bronzekatze, die der Gilde den Hintern zuwandte, beleidigt wurde, sodass der Zurückgesetzte per Gerichtsbeschluss gezwungen werden muste, die Statue umzudrehen. Des weiteren gibt es in der Altstadt ein Schloss (heute Sitz des Stadtpräsidenten), einen Dom und viele weitere Kirchen. Die Neustadt ist bekannt für die größte Ansammlung von Jugenstilgebäuden der Welt. In manchen Straßen ist jedes Haus ein Jugendstilpalast, von dessen Fassade steinerne Löwen und Schlangen herunterschauen, an denen sich Pflanzen aus Marmor emporranken, wilde Götter und Dämonen Regenwasser speien oder einfach finster dreinblicken. Jugendstil entspricht zwar nicht unbedingt meinem Geschmack, aber faszinierend ist er in seiner Verspieltheit durchaus. Natürlich sind in Riga auch viele Nachkriegsgebäude, darunter sowjetische Wohnblöcke, ein stalinistischer Kultur- und Wissenschaftspalast, der aussieht, als wäre er der kleine Bruder des Palastes in Warschau, einen eleganten Fernsehturm und moderne Hochhäuser, die von der Transformation Lettlands zu einer freien Marktwirtschaft künden.

Unsere Erkundung Rigas begann mit einem Vortrag über das Unesco Welterbe beim Goetheinstitut, bevor wir die Stadt auf einer Schnitzeljagd erkundeten. Am Abend konnten wir zum Glück die Küche unserer Schule benutzen und uns Tacos zubereiten.

Da ich mich am Abend in Riga schlecht gefühlt hatte, verbrachte ich die erste Hälfte der nächsten Etappe im Auto. Weil eine in Lettland wohnende niederländische Künstlerin gesagt hatte, sie würde sich freuen, die Fahrradkarawane bei sich begrüßen zu können, wollten wir zu ihr fahren, um zu sehen, ob der Weg dafür geeignet wäre und die Karawane im nächsten Jahr sie besuchen könnte. Der Weg war nicht geeignet, der Transporter kämpfte sich über schlammige Waldwege und winzigste Dörfer, an verfallenen Kirchen und aufgegebenen Höfen vorbei, bevor wir endlich auf dem Waldgrundstück der Künstlerin eintrafen, die dann aber nicht zuhause war. Bei der zweiten Etappe handelte es sich ausschließlich um Schotterwege, die allgemeinen Unmut hervorriefen. Am Abend kamen wir dann aber an einem umso schöneren Platz an, nämlich in Salacgriva, einem kleinen Ort, wo wir in kleinen Holzhäuschen wohnten, grillten und, da wir direkt am Strand waren, im Abendlicht im Meer schwammen.

Am nächsten Tag fuhren wir über die Grenze nach Estland. Hier kommen also einige Informationen über Estland. Estland ist nicht nennenswert kleiner als Litauen oder Lettland, hat aber nur 1,3 Millionen Einwohner, ist also noch dünner besiedelt und noch dichter bewaldet. Kulturell unterscheidet sich Estland sehr stark von seinen südlichen Nachbarn, Sprache und Kultur sind der finnischen sehr ähnlich. Es gibt noch einige Besonderheiten mehr: Die estnische Wirtschaft, basierend auf Dientsleistungen und High-Tech-Industrie (Skype kommt aus Estland) ist eine der liberalsten in Europa mit dem niedrigsten Schuldenstand der Eurozone, zu der Estland seit 2011 gehört, Estland hat die dichteste W-Lan-Versorgung der Welt und den höchsten Anteil an Atheisten. Woher letzteres rührt, wurde mir von einer Stadtführerin in Tallinn folgendermaßen erklärt: Die Christianisierung Estlands habe sich im Wesentlichen auf die Oberschicht beschränkt, die bäuerliche Bevölkerungsmehrheit sei teilweise heidnisch geblieben, und da polytheistischen Religionen der Absolutheitsanspruch fehlt, sei die Religiösität, wie anderswo der Aberglaube, mit der Aufklärung zurückgegangen. Die aggressiv atheistischen Kommunisten hätten es daher leicht gehabt, die Religion endgültig in der Bedeutungslosigkeit zu versenken. Die größte Minderheit sind in Estland, wie auch in Lettland, die Russen, die leider im Durchschnitt eher die weniger qualifizierten Berufe ausüben, dementsprechend weniger Geld haben als die Esten und in vielen Fällen auch kein Estnisch können, weil sie nicht zum Lernen der Sprache verpflichtet sind.

In Estland fiel mir als erstes auf, wie nordisch es ist: Fast alle Häuser auf dem Land scheinen direkt aus Lönneberga zu stammen und die wenigen Menschen, die es gibt, sind größtenteils blond (übrigens hat Estland den höchsten Anteil an blauäugigen). Nicht dezidiert nordisch, aber auffällig ist auch die Tatsache, dass in Estland die Straßen und Häuser besser gepflegt und heiler wirken als bei den südlichen Nachbarn, obwohl die Einwohner gar nicht so viel reicher sind. Über eine wenig befahrene Landstraße führte uns der Weg nach Pärnu, Estlands Sommerhauptstadt. Der Rand dieser Stadt, die mit 44.000 Einwohner die fünftgrößte Estlands ist, besteht aus renovierten Plattenbauten und hölzernen Einfamilienhäusern, das Zentrum aus mehrstöckigen Holz- und Steinhäusern. In Pärnu übernachteten wir in einem Hostel.

Am nächsten Tag fuhren wir nach Kehtna, zuerst über eine vielbefahrene Landstraße, dann über eine wenig befahrene Landstraße, dann über einen Schotterweg und wieder über eine Landstraße, durch flaches Land voller Wälder und Felder. In Kehtna ist nichts außer einer Handvoll Häuser und einer frisch renovierten Herberge an einem idyllischen Weiher neben einem kleinen Schlösschen, in der wir nächtigten. In der Herberge gab es sogar ein gut gestimmtes Klavier, was uns die Chorprobe natürlich besonders versüßte.

Dann, endlich, lag die letzte Etappe an: Unser Weg nach Tallinn. Er führte erneut durch flaches Gelände, aber die Straßen wurden natürlich zunehmend breiter und stärker befahren. Tallinn selbst ist dann aber hügelig. Wir hatten bereits den Gürtel aus Einfamilienhäusern und Industrieanlagen durchquert und waren nun in den äußeren Stadtbezirken angekommen, die in ihrer gepflegten, aber doch recht grauen Plattenbauästhetik zwar nicht unbedingt Begeisterung hervorrufen, aber  genug Grünflächen aufweisen, um nicht völlig trostlos zu erscheinen, als sich plötzlich die Schleusen des Himmels öffneten und ein Platzregen niederging, der innerhalb von fünf Minuten die Straßen in Sturzbäche verwandelte und uns so durchnässte, dass wir hinterher unsere Schuhe auskippen konnten. Zwanzig Minuten später hörte der Regen auf und wir kamen am Deutschen Gymnasium Tallinn an. Wir hatten an die 600 Kilometer mit dem Rad zurückgelegt und waren dementsprechend Stolz.

Tallinn ist mit etwa 400.000 Einwohnern Estlands bei weitem größte Stadt und eine der schönsten, die ich kenne. Die Altstadt ist hervorragend erhalten und umgeben von einer Mauer mit zwanzig Türmen. Die Häuser sind in vielen bunten Farben gestrichen und in vielen verschiedenen Stilen erbaut, die Kirchtürme sind hoch und schlank, besonders hoch ist der Turm der Kirche St. Olaf, der früher, bevor er verkleinert wurde, mit 159 Metern das höchste Gebäude der Welt war. Im Zentrum  der Stadt befindet sich ein Festungshügel, auf dem sich das klassizistische Parlamentsgebäude befindet, dass, nach Aussage einer Fremdenführerin nur rosa aussieht, aber tatsächlich lachsfarben ist. Direkt gegenüber befindet sich eine russische Machtdemonstration des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, nämlich eine orthodoxe Kirche, die sich mit ihrer märchenhaften Detailfülle und orientalischen Zwiebeltürmen von der restlichen Stadt deutlich abhebt. Es gibt einen Platz, auf dem man gleichzeitig zwei Restaurants, eines mit dem Namen „Olde Hansa“ und eines mit dem Namen „Peppersack“, beide anknüpfend an die hanseatische Vergangenheit, und eben jene Kirche sieht.  Heftiger können Ost und West wohl nicht zusammenprallen. Direkt neben der Altstadt befindet sich ein modernes Geschäftsviertel mit Hochhäusern aus Stahl und Glas, die erstaunlicherweise ausgezeichnet mit ihr harmonieren. In Tallinn konnten wir auf dem Marktplatz endlich unsere vorher eingeübten Lieder zum Besten geben, und nicht ohne Stolz kann ich sagen, dass wir auch einige erfreute Zuhörer hatten. Mit darunter war Kulturweit-Leiterin Anna Veigel, die uns besuchte und nach eigener Aussage sehr neidisch war, dass sie zu arbeiten hat und nicht mit uns mitfahren konnte. Am nächsten Tag verabschiedeten wir uns nach einer Resümeezeromonie von unseren Fahrrädern, unseren Trainern und voneinander. Es war ein durchaus trauriger Abschied, hatten wir doch zusammen alle Schotterwege überstanden, viel gesehen, gesungen und Doppelkekse gegessen. Die meisten von uns blieben jedoch noch einige Zeit in Tallinn. Zum Beispiel machten wir per Bus einen Ausflug nach Tartu, der zweitgrößten Stadt Estlands, die dank ihrer Universität als geistiges Zentrum Estlands bekannt ist. Sie liegt im Landesinneren und verfügt über eine überwiegend klassizistische Innenstadt, mit einem nach holländischem Vorbild errichteten Rathaus, vor dem ein Brunnen mit der Bronzeskulptur eines sich küssenden Studentenpaares steht, in der aber leider tagsüber nicht allzu viel los ist, weil direkt neben der Innenstadt mehrere Einkaufszentren stehen und ihnen wohl die meisten Geschäfte der Altstadt zum Opfer gefallen sind. Die Außenbezirke sind bekannt für ihre alten, lauschigen Holzhäuser. Eine andere nette Stadt ist die Kleinstadt Viljandi, die sich sehr herausgeputzt hat mit einer schier unglaublichen Anzahl von Bronzeskulpturen. Das Fremdenverkehrsamt bietet Broschüren auf Deutsch an, anhand derer man die Stadt selbst erkunden kann und an verschiedenen Punkten Informationen zu allem erhält, was es zu sehen gibt. Kurz vor dem Ende meines Aufenthalts in Estland fuhr ich mit Mareike aus Warschau und der örtlichen Freiwilligen Karla per Fähre nach Helsinki, da die Fahrt nur zwei Stunden dauert. Helsinki verteilt sich auf etliche Inseln und ist vom Charakter her völlig anders als Tallinn. Es ist mehr als doppelt so groß wie Tallinn und geprägt von klassizistischer Architektur. Der Einkommensunterschied, der dazu führt, dass viele Esten in Finnland arbeiten, fällt sofort ins Auge: Die Autos sind neuer und teurer, es gibt keine maroden Häuser, mehr Menschen in Luxusläden. Das größte Einkauszentrum Nordeuropas, Stockmann, befindet sich in Helsinki und lockt mit allen erdenklichen Waren auf acht Stockwerken. Es gibt aber natürlich wesentlich sehenswertere Gebäude, beispielsweise der scheeweiße, von einer Kuppel gekrönte Dom, mehrere funktionalistische Gebäude, eine Kirche, die in einen Felsen hineingebaut wurde, ein hypermodernes Museum für zeitgenössische Kunst und eine alte Festung auf einer Insel, zu der man mit einem Schiff fahren kann, das mit zum Öffentlichen Personennahverkehrssystem gehört.

Dann, nach  einundzwanzig Tagen, stieg ich in Tallinn ins Flugzeug zurück in meine neue Heimat, voller Eindrücke und neuer Reisepläne. Ich weiß, dass dieser Artikel nur ein sehr kurzer Abriss und trotzdem schon wieder zu lang ist, aber ich hoffe, dass ich trotzdem einen Eindruck vom Baltikum vermitteln konnte.