Der Tag der Verfassung

Werte Leser, viele Menschen wissen nicht, dass die älteste Verfassung Europas keineswegs im revolutionären Frankreich beschlossen wurde, sondern in Polen, nämlich am 3. Mai 1791. Die Feierlichkeiten anlässlich dieser Verfassung sind eine hervorragende Gelegenheit, sich einmal kurz mit dieser Verassung zu beschäftigen. Im Jahre 1791 war Polen sehr geschwächt. Es hatte während des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts viele Kriege erleben müssen, einen mit Preußen, zwei mit Schweden, vier mit Russland und drei mit dem Osmanischen Reich, dazu einen Thronfolgekrieg, Kosakenaufstände, Rebellionen in der Ukraine und Raubzüge von Krimtataren. Polen-Litauen, vorher das mächtigste Reich Europas, wurde zum Spielball anderer Mächte. Das lag unter anderem auch an der Handlungsunfähigkeit des Polnischen Staates. Zu diesem Zeitpunkt war Polen eine sogenannte Adelsrepublik: Der König wurde vom Adel gewählt und vom adligen Reichstag kontrolliert, der nicht nach dem Mehrheits- sondern nach dem Einstimmigkeitsprinzip arbeitete. Mithilfe des sogenannten „liberum veto“, also dem Einspruchsrecht der Freien, konnte jedes Reichstagsmitglied jede Entscheidung blockieren. Mit ihrer Macht und ihrem Reichtum beherrschten die Magnaten, bedeutende Hochadlige, den Reichstag und kauften die Stimmen des Kleinadels. Da es zu den unverbrüchlichen Rechten des Adels gehörte, keine Steuern zu zahlen, war der Staat sehr knapp bei Kasse und auch militärisch schlecht gerüstet, was sich in den vielen Niederlagen ausdrückte. König Stanislaus II. August versuchte 1764, die Handlungsfähigkeit des Staates durch Reformen zu verbessern, wogegen Russland, das an keinem starken Polen interessiert war, intervenierte. Der König beugte sich dem russischen Widerstand, und die Konföderation von Bar, ein sowohl gegen den König als auch gegen Russland gerichteter Adelszusammenschluss, musste eine Niederlage gegen Russland hinnehmen. Da sich der Konflikt zu einem europäischen Konflikt ausgeweitet und die Großmächte auf den Plan gerufen hatte, führte die Niederlage 1772 zur ersten Teilung Polens, die das Land 200.000 Quadratkilometer und 4,5 Millionen Menschen kostete.  Preußen sicherte sich Ermland und einen Teil Großpolens, Österreich nahm sich Kleinpolen südlich der Weichsel, Rotreußen, Wolhynien und Podolien, Russland verleibte sich Polnisch-Livland und Weißrussland ein. Stanislaus II. August  stieß nach diesem Schock weitere Reformen an, unter anderem eine Bildungsreform und die Bildung ds Ständigen Rates, der verschiedene Regierungskompetenzen wahrnahm und an eine Städtereform, Gesetze zum Schutze der Bauern und die Zulassung von Nichtkatholiken zu Staatsämtern beschloss. Des weiteren setzten der Hof und die Reformkräfte im Adel ab 1788 durch, dass die Steuerfreiheit des Adels abgeschafft wurde und das Recht zur Teilnahme am Reichstag geändert wurde: Es richtete sich nunmehr nach Besitz und nicht mehr nach Abstammung. Am 3. Mai 1791 verabschiedete der Reichstag das „Regierungsgesetz“, die erste geschriebene Verfassung Europas.  Die neue Verfassung war ein weitergehender Versuch, die Handlungsfähigkeit des Staates wiederherzustellen: Die Gewaltenteilung wurde eingeführt und die Königswahl zugunsten eines dynastischen Systems aufgegeben. Der Reichstag wurde vom Adel und vom Bürgertum gewählt, womit zum ersten Mal in Europa die Volkssouveränität zumindest teilweise verwirklicht wurde. Ein weiteres demokratisches Element war die Einführung der Rechtsgleichheit aller Bürger. Im Reichstag galt das Mehrheitsprinzip, sodass Entscheidungen nun viel schneller getroffen werden konnten. Der Katholizismus blieb Nationalreligion. Wer einer anderen Glaubensgemeinschaft angehörte, durfte seinen Glauben frei ausüben, aber kein Katholik konnte die Kirche verlassen. Die neue Verfassung wurde zu einer Quelle der Inspiration für die Verfassung des revolutionären Frankreich, bei den absolutistischen Herrschern Europas kam sie weniger gut an, stellte sie doch ihre nicht-konstitutionelle Herschaft in Frage. Besonders groß war der Argwohn am preußischen und russischen Hofe. Katharina die Große unterstützte eine Gruppe polnischer Oppositioneller militärisch, um einen Bürgerkrieg zu entfachen. Diese Oppositionellen, die Konföderation von Targowica, besiegte die polnisch-litauischen Truppen und übernahm die Macht im Reiche. Die Reformen wurden für nichtig erklärt, der König durfte im Amt bleiben, wurde aber an der Ausübung desselben gehindert. 1793 einigten sich Preußen und Russland auf eine neuerlich Teilung Polen-Litauens und begründeten dies damit, das sie eine weitere Ausbreitung demokratischen Gedankenguts verhindern wollten. Ein 1794 gestarteter Aufstand gegen diese weitere Verstümmelung Polens wurde niedergeschlagen und 1795 teilten Preußen, Russland und Österreich in der dritten Teilung die restlichen Gebiete Polens unter sich auf. 1797 erklärten die Teilungsmächte den Staat Polen für völkerrechtlich erloschen. Die polnische Nation konnten die Besatzer jedoch nicht auslöschen, und das Streben nach Unabhängigkeit blieb während der folgenden Zeit immer ein Thema . Ihr Ziel erreichen konnte die Nationalbewegung jedoch erst 1918.

Zur Feier des Tages der Verfassung präsentierte sich in Thorn das Militär. Auf dem Neustadtmarkt hatte die örtliche Garnison ihre Fahrzeuge aufgefahren, die man nun besteigen und fotografieren konnte, interessierte durften auch gern einmal ein Gewehr in die Hand nehmen oder einen Helm aufsetzen. Der Grund dafür ist unter anderem, dass die polnische Armee, wie seit kurzem auch die Deutsche, eine Freiwilligenarmee ist und daher natürlich Werbung für sich machen muss. Zum Beispiel hängen auch im Sportbereich der Schule einige Plakate der Armee aus, die mit dem Spruch „Ein Job für Profis“ um junge Rekruten werben und – anders als deutsche Plakate, die meistens lediglich Soldaten in Ausgehuniformen an Computern zeigen – wahrheitsgetreue Bilder von jungen Männern im Schlamm zeigen. Für mich steigern zwar großformatige Abbildungen von in feuchter Erde herumrobbenden Leuten nicht die Sehnsucht nach der damit beworbenen Arbeit, aber vielleicht gilt das nicht für jeden. Zugegeben, bei aller Freundlichkeit der jungen Soldaten auf dem Neustadtmarkt ist der Anblick von in Zielfernrohre blickenden Dreijährigen dann doch etwas gewöhnungsbedürftig, aber von einer Militarisierung der Gesellschaft kann man ansonsten kaum sprechen, insofern sei der Armee ihre Werbeaktion gern gegönnt.