Eine skurrile Begegnung

Werte Leser,

sicher kann man in jedem Land skurrile Gespräche führen, und in der Regel bleiben sie einem in Erinnerung. Die folgende Geschichte ist wahr, aber keinesfalls repräsentativ für Polen. Oftmals versteht man aber gerade durch das Verzerrte, Überspitzte gewisse Tendenzen in einer Gesellschaft, darum werde ich von ihnen erzählen und versuchen, sie zu erklären.

Ursprünglich wollte ich an dieser Stelle von zwei merkwürdigen Begegnungen erzählen, aber die andere Begegnung, die in diesem Artikel erscheinen sollte, ist viel zu ernst, um sie unter dem Begriff „skurril“ einzuordnen. Die Art und Weise der vorgetragenen Meinung enthielt zwar eine gewisse Komik, aber sie spiegelt die geschichtsbedingten Ängste vieler Polen wider. Darum soll sie zu einem späteren Zeitpunkt Eingang in einen sorgfältig recherchierten Artikel finden, in welchem ich ihre geschichtlichen und politischen Hintergründe zu erläutern versuche, um ihr so in ihrer Ernsthaftigkeit gerecht zu werden.

Die nun noch übrig gebliebene Begegnung fand in der Schule statt. Ein Schüler klagte mir dort sein Leid: Er hasse die Schule. Auf meine mitfühlende und aufgrund der Tatsache, dass es kein Deutsch lernt, unbefangene Frage, wo denn der Schuh drücke, antwortete er, dass ihm die Fächer Biologie, Erdkunde und Physik große Probleme bereiteten. Daraus schloss ich zunächst, dass ihm Naturwissenschaften wohl nicht liegen, musste aber feststellen, dass dies offenbar nicht der Fall war. Stattdessen beschwerte er sich darüber, dass er in diesen Fächern Dinge lernen müsse, die er für falsch halte. Sowohl was die Evolution als auch das Alter der Erde anginge, könne er sich mit dem Schulstoff nicht anfreunden. Obwohl ich mir denken konnte, was kommen würde, fragte ich ihn, wie denn seine Sicht der Dinge sei. Seine Sicht der Dinge war, dass die Erde sich nicht verändere, sondern vor relativ kurzer Zeit von Gott in der heutigen Form erschaffen worden sei. Er versuchte mich von seiner Sicht der Dinge zu überzeugen, was ihm selbstverständlich nicht gelang, nicht, weil ich ein so guter Debattant wäre, sondern weil er alle wissenschaftlichen Erkenntnisse gegen sich hatte. Die Debatte im Einzelnen auszuführen würde sicher zu keinem Erkenntnisgewinn führen, wichtig ist aber, dass irgendwann das für Kreationisten typische Argument kam, die Evolution sei „nur“ eine Theorie. In der Tat ist sie das, aber nicht in dem Sinne, wie dieser Terminus meistens verwendet wird. Umgangssprachlich bezeichnet das Wort eine unbewiesene, spekulative Erklärung. Der wissenschaftliche Terminus dafür ist Hypothese, und genau das ist Evolution nicht. Die Evolution ist eine Theorie im wissenschaftliche Sinne, eine Erklärung, gegen die kein einziger Beweis spricht und die von Belegen gestützt wird. Theorien können per definitionem niemals bewiesen werden, weil man nie alle Vorhersagen, die durch sie gemacht werden, einzeln überprüfen kann, aber das ist auch nicht notwendig. Man braucht nicht alle Belege, man braucht nur genug und vor allem darf es keinen Gegenbeweis geben. Genau das trifft für die Evolution zu, es gibt Berge von Belegen wie Fossilien, die beobachtbare Mikroevolution (einen dummer Begriff, der suggeriert, es gäbe einen Unterschied zur Makroevolution, ich verwende ihn nur deshalb, um von Veränderungen, die man wegen der langen erforderlichen Zeitspannen nicht direkt beobachten kann, abzugrenzen), die Erkenntnisse aus der Genetik, die geografische Distribution, die Abwesenheit besserer Erklärungen für Komplexität und vieles mehr. Evolution ist, um den großen englischen Biologen Richard Dawkins zu zitieren, im selben Sinn eine Theorie wie die Idee, dass die Erde um die Sonne kreist. Ich beging in der Debatte den Fehler, genau dieses Argument zu verwenden. Mein Gesprächspartner stimmte mir leider zu, aber ohne seine Meinung zu ändern.

Kreationisten sind leider keine Seltenheit, aber mit einem Geozentristen hatte ich wirklich nicht gerechnet. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass die Tatsache, dass die Erde keine Scheibe ist, zu ihm durchgedrungen war, präsentierte er mir eine Internetseite von einem „biblical astronomer“, die er als wissenschaftlich bezeichnete, obwohl sie bereits auf der Heimseite mit Bibelzitaten und der Klarstellung begann, dass Erkenntnisse sich nach dem Glauben zu richten hätten, nicht umgekehrt. Es ging dann auf der Seite damit weiter, dass die Evolution nur ein Aufguss des babylonischen Mythos sei, dass die Welt aus dem Chaos komme (nein, nein, nein! Evolution ist das Gegenteil von Chaos und Zufall!).

Nach diesem Erlebnis stand ich vor der Frage: Wie kann ein intelligenter, interessierter junger Mann der festen Überzeugung sein, dass bronzezeitliche Märchen wissenschaftliche Berichte seien? Offenbar scheint sein Glaube so fest zu sein, dass alle Gegenargumente der Welt ihn erschüttern können.

Natürlich ist mein Schüler ein zur Repräsentation ungeeignetes Extrembeispiel, aber seine Frömmigkeit ist typisch für viele Polen. Schätzungsweise 98 Prozent der Polen gehören der römisch-katholischen Kirche an. Der Anteil der wirklich Gläubigen ist sicherlich beträchtlich geringer, aber gewiss größer als in Deutschland. Selbst Touristen bekreuzigen sich, wenn sie eine Kirche betreten, an ihr vorbeigehen oder sogar, wenn sie mit der Straßenbahn an ihr vorbeifahren. Wenn Messe ist, und das ist oft, platzen die Kirchen aus den Nähten, und während in Deutschland viele Pfarrer wie der Father Mackenzie aus dem Lied „Eleanor Rigby“ Predigten schreiben, die sich niemand anhören wird, sind hier unter den vielen Neubauten auch etliche Kirchen. Der großen Zahl der Gläubigen und ihrer Frömmigkeit entsprechen auch Allgegenwart und der Einfluss der Kirche. Vielleicht ist die Kirche sogar noch mächtiger, als es ihr zukommt. Oft wird dem Katholizismus von Protestanten nachgesagt, mit seiner Marienverehrung, seinen vielen Heiligen und Engeln und seinem Satansglauben sei er eigentlich polytheistisch. In Polen könnte nichts falscher sein, hier ist der Katholizismus so monotheistisch, wie eine Religion nur sein kann. Es gibt nur einen Gott, und das ist Johannes Paul II. Es ist omnipräsent, lächelt huldvoll von Hauswänden herab, hat in vielen Kirchen seinen eigenen Altar, betet auf Kalendern und Postern, und selbst wenn man einen Brief verschicken will, schaut er noch freundlich aus der Postwertmarke heraus. Hätte ich nicht gewusst, dass es mittlerweile einen Papst aus Bayern gibt, so hätte ich in Polen sicher den Eindruck gewonnen, Johannes Paul II. bewohnte noch immer den Vatikan.

Die Religion spielt auch in der polnischen Politik eine große Rolle. Polens zweitgrößte Partei PiS (dieses Kürzel steht für „Recht und Gerechtigkeit“) ist eine christliche Partei, und das in anderem Sinne, als die CDU dies ist. PiS steht von ihren Grundwerten her sehr weit rechts, ist relativ bibeltreu und patriotisch, obwohl die von PiS vertretene Wirtschaftspolitik eher staatsinterventionistisch, also links ist. Dies zeigt ein weiteres Mal, dass die Begriffe „links“ und „rechts“ nur eine sehr ungenaue politische Einordnung ermöglicht. Nach Aussage vieler Menschen, mit denen ich gesprochen habe, ist die polnische Gesellschaft stark polarisiert zwischen den Anhängern der christlichen Rechten (mir fällt einfach kein besserer Begriff für diese Bewegung und aus Klerikern, Parteien und Medien ein) und dem Rest der polnischen Gesellschaft. Die Debatten über Abtreibung oder die Legalisierung homosexueller Ehen werden dementsprechend laut und hitzig geführt. Am lautesten auf die Pauke schlägt dabei sicherlich Radio Maryja, ein in Thorn beheimateter und ebenso berüchtigter wie erfolgreicher Medienkonzern. Täglich eine Million Hörer hat der Radiosender der von einem Priester namens Rydzyk Anfang der Neunziger Jahre gegründeten Sendeanstalt. Rydzyk steht wegen seiner teils nationalistischen und antisemitischen Äußerungen sowie seinen als Gottes Wille verbrämten eindeutigen Wahlempfehlungen in Polen in der Kritik, auch der katholische Klerus wendet sich teilweise entschieden gegen Radio Maryja.

Woher diese starke Position der Religion in Polen kommt, weiß ich nicht genau, ich vermute allerdings, dass es am Missionierungswahn der kommunistischen Herrscher lag. Die Kommunisten waren in Polen entgegen ihrer Selbstinszenierung als Befreier von den Nationalsozialisten eine Okkupationsmacht. Stalin selbst hatte ja im Hitler-Stalin-Pakt mitbeschlossen, das Polen als Staat zugunsten von Deutschland und der Sowjetunion seine Eigenstaatlichkeit verlieren sollte. Als die Sowjetunion von Hitler überfallen worden war und somit unfreiwillig auf die Seite von Hitlers Gegnern, also die selbe Seite wie die polnische Exilregierung in London geraten war, versagte sie dieser Regierung die Unterstützung, ebenso wie auch dem Warschauer Aufstand. Nachdem sie die Herrschaft über Polen übernommen hatte, ging sie gegen Mitglieder der Exilregierung und der polnischen Armija Krajowa, also der Widerstandsarmee (wörtlich übersetzt „Heimatarmee“), vor. Von einer Freundschaft mit Polen konnte daher keine Rede sein. Von der Sowjetunion protegiert, versuchten die polnischen Kommunisten, ihre eigene Ideologie, an die sie mindestens ebenso fromm glaubten wie religiöse Fundamentalisten an die ihre glauben, den Polen aufzuzwingen. Ihre wichtigste weltanschauliche Konkurrentin war dabei die Kirche. Das daraus resultierende rücksichtslose Vorgehen des Regimes insbesondere gegen die Kirche trieb die Menschen genau in die Arme dieser Kirche. Papst Johannes Paul II. war dabei eine wichtige Integrationsfiur für viele Polen, weil er sich ausdrücklich nicht vom Regime vereinnahmen ließ, sondern sich auch mit Vertretern der Opposition traf. Somit sind Religion und das Streben nach Freiheit in Polen eng miteinander verbunden.

Das ist jedenfalls mein Erklärungsansatz, den ich aus der Lektüre über polnische Geschichte gewonnen und auch so ähnlich schon gelesen habe. Ich erhebe natürlich keinen Anspruch auf Richtigkeit, den gerade Mentalitätsfragen sind gerade für Außenstehende nur schwer zu durchdringen, und auf der Suche nach Erklärungen lehnt man sich schnell einmal zu weit aus dem Fenster. Ich empfehle jedem interessierten Leser, sich nicht auf mich zu verlassen, sondern sich eine eigene Meinung zu bilden.

Von dieser Erklärung ausgehend, kann ich verstehen, warum viele Polen so religiös sind, aber wenn ich mir die stark emotional aufgeladenen Debatten, den schlechte Stand von der Kirche als unmoralisch angesehener Minderheiten und nicht zuletzt die Verbreitung des Kreationismus in Polen anschaue, schließe ich mich der Meinung der vielen Polen an, die sagen, ein bisschen weniger Frömmigkeit würde es auch tun.

5 Gedanken zu „Eine skurrile Begegnung

  1. Ihr evolutionisten seid krank im kopf ich selber glaube dass gott die welt vor 6000 jahren geschaffen hat und die sintflut im jahr 2400 v. chr. stattfand also rede nicht sachen die nicht stimmen!

    • Werter Gopertdi,
      mich interessiert, ob du das ironisch meinst oder ernst. Wenn zweiteres der Fall sein sollte, so möchte ich Dich darauf hinweisen, dass es ein psychisches Krankheitsbild namens „Evolutionismus“ eben so wenig gibt wie eines, das man als „Kreationismus“ bezeichnet. Ich behaupte keine Sachen, die nicht stimmen, sondern Sachen, die von Wissenschaftlern, zu deren Beruf es gehört, die Fehler, die andere Wissenschaftler bei ihren Forschungen begangen haben, zu korrigieren, als für höchstwahrscheinlich wahr gehalten werden, weil sie plausibel sind und es für sie eine Vielzahl von Belegen gibt, während die biblische Schöpfungsgeschichte nun einmal mit den Naturgesetzen eben so gut vereinbar ist und von eben so vielen Belegen gestützt wird wie die Argonautensage, die Legende von Ragnarök oder das Ende der Welt durch das Ende des Mayakalenders. Wenn Dich das Thema besonders interessiert, so würde ich mich freuen, zum Meinungsaustausch mit Dir in Kontakt zu treten.
      Mit freundlichen Grüßen,
      Ludger

  2. Werter Gast,
    vielen Dank für deinen Hinweis. Vielleicht hilft er ja, den genannten Schüler zu überzeugen. Auch wenn ich Herrn Heller nicht zustimme und der Templeton-Stiftung auch nicht, so macht die Position der genannten sicher vieles leichter, als es die Position der Kreationisten tut. Allerdings hat auch die Templeton-Stiftung schon Menschen ausgezeichnet, die man zumindest als Intelligent-Design-Anhänger bezeichnet, sodass viele Menschen Zweifel daran haben, dass die Stiftung tatsächlich an der Vereinbarkeit von Wissenschaft und Religion interessiert ist.
    Mit freundlichen Grüßen,
    Ludger

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