„Bei Breslau“

 

Werte Leser,

bei Kulturweit ist eine bestimmte Anzahl von Seminartagen gesetzlich vorgeschrieben. Sie werden verteilt auf Vorbereitungs-, Zwischen- und Nachbereitungsseminar. Das Zweitgenannte fand gegen Ende November statt. Für die Freiwilligen in den Ländern Polen, Litauen, Lettland und Estland sollte es nach Aussage der Trainer „bei Breslau“ stattfinden. So trafen wir uns also am Hauptbahnhof von Breslau, der zurzeit eine einzige Baustelle ist, um von dort aus mit dem Bus zum Seminarort zu fahren. Die Wiedersehensfreude war groß und die Begrüßung herzlich. Im Bus tauschten wir uns über unsere Erfahrungen auus und mussten feststellen, dass mit „bei Breslau“ Kleinhelmsdorf gemeint war. Kleinhelmsdorf liegt von der genannten Stadt achtzig Kilometer entfernt mitten in der Hügellandschaft des Bober-Katzbach-Vorgebirges in den Sudeten und hat etwa fünfhundert Einwohner. Dieses ehemals deutsche Dorf schlängelt sich etwa drei Kilometer lang durch ein Tal und wurde aufgrund seiner idyllischen Lage und verschiedener Projekte, auf die ich noch zu schreiben kommen werde, zum schönsten Dorf Niederschlesiens gekürt. Das pittoreske Dörfchen vermittelte uns mit seinen Fachwerkhäusern und wilhelminischen Gutshöfen ein gewisses Gefühl von Heimat. Wie wohl wir uns fühlen würden, wurde klar, als wir an unserem Seminarort angekommen waren. Ich werde den Namen der Herberge nicht nennen, weil Werbung nicht in einen Blog gehört, aber sie hat jede Werbung verdient, und wen es interessiert und wer dort vielleicht einmal Urlaub machen will, ist herzlich eingeladen, mich zu fragen. Es handelt sich um einen umgebauten Bauernhof, an dessen Eingangstür uns der Hausherr und unsere beiden Trainer begrüßten. Moni, eine Dozentin für Europawissenschaften aus Breslau, hatte ich bereits beim Vorbereitungsseminar kennen gelernt und ins Herz geschlosssen, Mika, ein Politikwissenschaftler und Photograph aus Kassel, kannten wir noch nicht. Unser Seminarraum wie auch unser Speisezimmer war ein mit einem Kreuzgratgewölbe überspannter Saal, in dem mehrere Sessel am Kamin zum Verweilen einluden. Unsere Zimmer waren ebenso schön wie der Saal. Jedes Zimmer ist mit eigenem Bad ausgestattet, größer als ein Hotelzimmer und mit wunderschönen Bauernmöbeln eingerichtet. Die berechtigte Sorge, Kulturweit-Freiwillige wohnten auf Kosten des Steuerzahlers in Luxushotels, möchte ich allerdings zerstreuen, denn unser Aufenthalt kostete nicht mehr als in einer guten Jugendherberge in Deutschland. Zu Monis Überraschung gab es niemanden, der mit seiner Einsatzstelle oder seinem Land unzufrieden war. Stattdessen herrschte größtenteils Begeisterung. Es war sehr spannend, den anderen Freiwilligen bei ihren Erzählungen zuzuhören. So unterschiedlich wie die Einsatzstellen waren die Einsatzorte. Vom Goethe-Institut über die Unesco, Partnerschulen und Deutsche Auslandsschulen bis hin zum Deutschen Archäologischen Institut reicht die Bandbreite der Institutionen, die Einsatzorte reichen von der lettischen Mittelstadt Rezekne und der polnischen Mitttelstadt Schneidemühl über die Großstädte Lublin, Thorn (beide Polen), Klaipeda (Litauen), Tartu (Estland) und Tallinn bis zu den Millionenstädten Krakau, Warschau, Riga und . . .Rom. Warum Rom? Daniela sollte eigentlich nach Syrien gehen, was das gewalttätige Vorgehen von Herrn Assad und auch die immer rabiatere Reaktion der von ihm bedrohten Demonstranten jedoch umöglich machten. Zum Glück hatte das Deutsche Archäologische Institut in Rom auch Verwendung für eine junge Archäologin, und so kam Daniela nach Rom. Eigentlich sollte sie zum Zwischenseminar in Serbien, doch da dies aus terminlichen Gründen nicht möglich war, hatten wir nun das Vergnügen, sie in unserer Mitte zu haben. Bei manchen Freiwilligen, besonders denen aus Estland, hatte sich die Begeisterung schon zu einer Art Patriotismus für ihr Gastland gesteigert. Besser kann es wohl nicht sein. Auch über unsere Arbeit wurde gesprochen. Grundsätzlich waren alle zufrieden, aber hier und dort war mal jemand ein wenig über-, unter- oder fehlgefordert, und so war es schön, dass wir uns gegenseitig Ratschläge geben oder von den engagierten Trainern empfangen konnten. Ein weiteres großes Thema waren unsere Langzeitprojekte. Solche Projekte sind Teil des Programms, zeichnen sich aber mitunter dadurch aus, dass man sie vor sich herschiebt, weil man keine Idee hat oder nicht weiß,wie man seine Idee umsetzen soll. Es half daher sehr, dass wir nun ein Forum zum Austausch hatten und von den Trainern etwas gedrängelt wurden,nun doch einmal konkrete Ideen zu entwickeln. Tatsächlich haben alle das Seminar mit einem konkreten Plan wieder verlassen.

Am dritten Tag fragten uns die Köchinnen besorgt, ob uns das Essen nicht schmecke, weil wir so viel übrig ließen. Völlig desorientiert blickten sie uns an, als unsere Reaktion in schallendem Gelächter bestand. Als wir uns wieder beruhigt hatten, erklärten wir ihnen, dass das Essen ganz ausgezeichnet sei, aber so reichlich, dass wir unmöglich alles Essen könnten. Ich glaube, ich bin noch nie in einer Herberge mit so gutem Essen untergebracht gewesen, und jede der ausschließlich aus frischen Biozutaten zubereiteten Mahlzeiten war ein Tageshöhepunkt.

Am dritten Tage führte uns der Hausherr durch das Dorf. Wir waren beeindruckt von der Vielzahl an Projekten, die ein so kleines Dorf zustande bringen kann. Es wird ein Museum in einem Bauernaus eingerichtet, in dem es einen eben solchen Raum gibt wie unseren Seminarsal, nur dass er hier noh ein Stall ist, mehrere Töpfereien, ein Kulturzentrum, von Kindern selbst bemalte Buswartehäusschen und noch vielerlei anderer Sachen, die ich leider nicht mehr genau in Erinnerung habe. Die meisten Dörfer können sich von so viel ehrenamtlichem Engagement noch viel abschauen.

Unseren letzten Tag verbrachten wir dann in Breslau, nämlich in einem Hostel direkt am dem Marktplatz. Nach dem, was wir aus Kleinhelmsdorf gewohnt waren, bedeutete es für uns trotz aller Ordnung und Sauberkeit einen rüden Absturz des Lebensstandards, aber dafür wurden wir von der Stadt entschädigt. Direkt vor dem Haus war das gotische Rathaus, umgeben von pastellfarbenen Altbauten und mit auffälligen Ziergiebeln. Die Stimmung auf dem Marktplatz war dank des Weihnachtsmarktes wirklich anheimelnd. Wer hätte gedacht, das wir während unseres Auslandsaufenthaltes auf einen Weihnachtsmarkt gehen würden? Am Abend führte uns Moni durch die Stadt, und diese Führung trug den Titel „Zwergenstadtrundgang“. Um diesen Namen zu verstehen, muss man sich die Ereignisse in den achtziger Jahren vor Augen führen. Es war eine grausame Ironie der Geschichte, dass die sozialistischen Staaten, die behaupteten, die Arbeiter als „führende Klasse“ eingesetzt zu haben und ihre „objektiven Interessen“ zu vertreten, die Rechte der Arbeiter derart mit Füßen traten, dass diese es irgendwann nicht mehr ertragen konnten. In Deutschland im Jahre 1953, in Ungarn und Polen 1956 und in der Tschechoslowakei 1968 wehrten sich die Bürger gegen die Unterdrückung, doch am Schluss endeten die Aufstände immer unter sowjetischen Panzern. Erst der Aufstand der Danziger Werftarbeiter unter ihrem Anführer Lech Wałȩsa zeitigte Erfolge. Über eine Million Menschen schlossen sich ihm an, und auch wenn General Jaruzelski mithilfe des Ausnahmezustandes die Lage vorrübergehend wieder unter Kontrolle bekam, markierte der heldenhafte weil friedliche Kampf dieser Menschen den Beginn des Endes der realsozialistischen Diktatur. In Breslau solidarisierten sich ebenfalls viele Bürger mit den Bürgerrechtlern. Sie verwendeten Zeichnungen von Zwergen mit orangenen Zipfelmützen als geheime Erkennungszeichen. Es kam schließlich zu einer Demonstration, die ausschließlich darin bestand, dass die Menschen mit ebensolchen Zipfelmützen durch die Stadt gingen. Mit dieser neuen, humorvollen Art des Protests konnten die Machthaber nicht umgehen, denn sie bot ebenso wenig politische Angriffsfläche, wie sie missverständlich war. Als Erinnerung daran ließ die Stadtverwaltung in den neunziger Jahren einige kleine Zwergenstatuen in der Stadt aufstellen. Diese Idee wurde begeistert aufgenommen, und so stellten auch Privatleute Zwerge auf, sodass heute nicht mehr genau bekannt ist, wieviele es eigentlich gibt. Moni führte uns durch die Stadt und wies dabei jeweils auf die Zwerge hin.

Auch sonst ist Breslau eine interessante und sehr schöne Stadt. Niederschlesien ist eine der reichsten Regionen Polens, und das merkt man in Breslau unter anderem daran, dass man kaum eines der beschädigten Häuser sieht, die man in Polen sonst oft antrifft, und das es auch viele neue Gebäude gibt. Es scheint ein Scherz der Geschichte zu sein, das Breslau einen großen Teil seines alten Stadtbildes behalten hat, weil die polnische Regierung ob der Tatsache, das Breslau bis 1945 nie eine polnische Stadt gewesen war, fürchtete, die Stadt eines Tages wieder zurückgeben zu müssen, und kaum neue Bauprojekte dort in Auftrag gab. Die Stadt liegt an der Oder. Das Zentrum ist verteilt auf einige kleine Inseln: Auf der größten liegt die Altstadt mit ihren malerischen Kirchen und Häuserzeilen sowie dem barocken Schloss, in dem heute ein Teil der Universität untergebracht ist, eine sehr kleine gehört den Studenten, die dort veranstalten dürfen, was immer sie wollen, und die von diesem Recht auch reichlich Gebrauch machen und immer neue Ereignisse kultureller oder feierlicher Art auf die Beine stellen, am anderen Ufer liegt der älteste und wahrscheinlich ruhigste Teil der Stadt mit dem gotischen Dom. Die Nacht verbrachten wir größtenteils in einem Tanzklub. Jenny, Sina, Alex, Daniela und ich blieben noch eine weitere Nacht in einem anderen Hostel, in dem der Komfort nicht sehr herausragte, für den niedrigen Preis aber noch recht gut war.

Dies war ein kurzer Abriss zum Zwischenseminar.

2 Gedanken zu „„Bei Breslau“

  1. Die in „Auftrag gegebenen Bauprojekte“ Breslaus, bestanden im Wiederaufbau der Stadt. 1945 war die Festung Breslau ein Trümmerfeld. Hätten die Polen irgendeine Angst vor einer Rückkgabe, wäre die alte Bausubstanz garnicht wieder aufgebaut worden.

    • Vielen Dank für die Berichtigung. Sicher hast du damit recht. Ich bin kein Experte für Breslau (oder für sonst irgendetwas), daher konnte ich nur wiedergeben, was mir die aus Breslau stammende Trainerin erzählt hat. Sicher war ein Wiederaufbau der Stadt alternativlos, da die aus dem Osten nach Niederschlesien vertriebenen Polen irgendwo wohnen mussten. Darüber hinaus fehlen aber in Breslau die großen Nachkriegswohnsiedlungen, die man aus anderen polnischen Städten kennt, und das liegt nach Aussage der Trainerin daran, dass man aus schon genannter Sorge keine über die Notwendigkeit des Wiederaufbaus hinausgehende Erweiterung der Stadt betreiben wollte.
      Mit freundlichen Grüßen,
      Ludger

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