Vom Schüler zum Lehrer oder Pädagogische Betrachtungen eines Unbedarften

Werte Leser,

noch vor wenigen Monaten war ich ein Schüler, nun übernehme ich einige Lehreraufgaben. Mein erster Tag im Liceum begann mit einer Überraschung. Seit Jahren hatte ich nicht mehr eine solche Sauberkeit in einer Schule gesehen wie in diesen beiden zitronengelben Blöcken, die meine neue Arbeitsstelle sind. In der Lehranstalt, an der ich das Vergnügen hatte, mein Abitur zu erreichen, herrschte unter den Schülern eine entsetzliche Unkultur in Bezug auf den Umgang mit Gemeinschaftseigentum. Wenn ich morgens das Gebäude betrat, war es sauber und ordentlich, doch im Laufe des Tages verwandelte es sich in eine Müllhalde, denn viele Schüler warfen Papiertaschentücher auf den Boden, ließen Kunststoffverpackungen, aus denen sie Fertigsalate gegesen hatten, am Ort des Verzehrs stehen, stopften Pizzapackungen hinter Heizkörper und so fort. Es war derart ekelerregend, dass ich manchmal den Müll weggeräumt habe, weil ich ihn nicht mehr sehen konnte, obwohl diese Tätigkeit erstens nicht angenehm ist und zweitens dem Kampf eines gewissen spanischen Helden gegen mit Windenergie betriebene Einrichtungen vorindustrieller Nahrungsmittelproduktion ähnelt. Ein trauriger Trost ist, dass man den Dreck durch Gewöhnung irgendwann übersieht. Mich besorgt allerdings, dass Gymnasiasten die Neigung haben, zu studieren und danach verantwortungsvolle Tätigkeiten auszuüben. Wie viel Verantwortungsbewusstsein darf man von jenem nicht unwesentlichen Teil der Gymnasiasten erwarten, der aus Gleichgültigkeit und mangelnder Wertschätzung für das von den Bürgern hart erarbeitete öffentliche Vermögen ihre Schule in den beschriebenen beklagenswerten Zustand versetzt?

Nach diesem Ausflug in den Kulturpessimismus kehre ich allerdings wieder zum ursprünglichen Thema zurück. In der wie beschrieben sehr sauberen Schule stellte mich mein Mentor verschiedensten Personen vor. Es gibt außer ihm noch zwei weitere Deutschlehrer, oder vielmehr Lehrerinnen. Wie ich in der folgenden Zeit erfahren sollte, sind meine Kollegen ausgesprochen sympathisch. Sympathisch sind auch die Schüler. In den folgenden Tagen wohnte ich vielen Unterrichtsstunden bei und lernte auf diese Weise viele Klassen kennen. Es mag sowohl mit der westlichen Kultur als auch mit einer statistisch gesehen höheren sprachlichen Intelligenz von Frauen zusammenhängen, dass in den Klassen mit erweitertem Deutschprogramm fast nur Mädchen sind. Mittlerweile kann ich nachempfinden, warum so viele Lehrer die Namen ihrer Schüler durcheinander bringen. Auf einen Schlag viele Namen zu lernen, ist schwieriger, als ich gedacht hatte. Verschärft wird dieses Problem dadurch, dass in Polen nach meinem Eindruck die Menschen in Bezug auf die Benennung ihrer Kinder längst nicht so individualistisch sind viel in Deutschland. Linnea-Inken, Titus, Angelique, Ivette, Thelonius oder eben Ludger kann man sich gut merken, und es gibt in Deutschland viele Kinder, die so ungewöhnliche Namen tragen. In meiner neuen Heimat aber gibt es einige Namen, die unglaublich verbreitet sind, sodass man von jeder Sorte immer mehrere in einer Klasse hat. Zu diesen Namen gehören für die Jungen Bartlomiej (mit durchgestrichenem L), Mateusz, Michal (mit durchgestrichenem L) und Jakub, für die Mädchen Aleksandra, Magdalena, Joanna und Malgorzata (mit durchgestrichenem L). Meistens werden in Polen aber Kurzformen der Namen verwendet, so werden aus den genannten Namen in selber Reihenfolge bei Auslassung von Michal und Mateusz: Bartek, Kuba, Ola, Magda, Asia und Gosia. Allerdings nehmen es einem die Schüler nicht übel, wenn man ihre Namen durcheinanderbringt, wie ich überhaupt außerordentlich freundlich empfangen worden bin.  Die meisten Leute sind in Polen nach meiner Erfahrung viel freundlicher als in Deutschland. Natürlich werden die Polen nicht alle bessere Menschen sein, aber offenbar haben die meisten eine sehr gastfeundliche Haltung, die sie dazu veranlasst, sich Fremden gegenüber von ihrer Schokoladenseite zu zeigen. Oft sind die Leute sehr interessiert, wenn sie hören, dass man aus Deutschland kommt, und ich behaupte aus meinen völlig unrepräsentativen Eindrücken einfach einmal, dass schon mehr Polen in Deutschland gewesen sind als umgekehrt und auch die Polen tendeziell mehr über Deutschland wissen als umgekehrt, wovon ich mich nicht ausnehme, denn bevor ich nach Polen gezogen bin, habe ich auch nur wenig über das Land gewusst und gar nicht geahnt, wie viel ich damit verpasst habe. Von einer Deutschenfeindlichkeit, über die man manchmal etwas erzählt bekommt, habe ich noch nichts gespürt, im Gegenteil habe ich schon einige Menschen getroffen, die Polen mit seinen Unzulänglichkeiten ihrem Bild von Deutschland als dem perfekt organisierten High-tech-Land gegenüberstellen und sich dabei über Polen ärgern. (Wobei sie aber andererseits betonen, dass die deutschen Frauen den polnischen im Bezug auf das Äußere längst nicht das Wasser reichen könnten). So musste ich schon manches Mal Aufklärungsarbeit zum Deutschland leisten. Ich verstehe die Unzufriedenheit über Polen, die meistens mit der Unterstellung gekoppelt ist, alle polnischen Politiker seien korrupt und unfähig, nicht ganz, denn wenn man sich die Wirtschaftsdaten ansieht, so kann man optimistisch sein und den Politikern einer Ansicht nach im Großen und Ganzen ein gutes Zeugnis ausstellen. Unter den ehemals sowjetisch beherrschten Ländern ist Polen eines der erfolgreichsten. Allerdings gebe ich zu, dass der Blick auf die Wirtschaftsdaten auch zeigt, dass der Aufschwung längst nicht bei allen ankommt und die sozialen Unterschiede sehr groß sind. Das deckt sich auch mit meinen Beobachtungen, so habe ich zum Beispiel in Deutschland noch nie so viele Villen gesehen wie in Polen, aber eben auch noch nie so viele ärmliche Häuser. Wo das Geld fehlt, sieht man aber nicht nur an den Häusern, sondern auch an vielen Autos, bei denen in den letzten Jahren einige Reparaturen dem Geldmangel zum Opfer gefallen sind und an einem Detail, mit dem ich vorher nicht gerechnet hätte: Einige wenige, aber immernoch viel mehr Menschen als in Deutschland haben sehr schlechte Zähne, woraus ich schließe, dass sie sich keinen Zahnarzt leisten können. Im internationalen Vergleich ist Polen sicher nicht arm, aber der Unterschied zu Deutschland ist doch signifikant und fällt besonders ins Auge, da Polen ein westliches Land ist und daher Deutschland sonst in vieler Hinsicht recht ähnlich.

Nach meinen kleinen Betrachtungen und dem Schluss, das Polen zwar ärmer als Deutschland ist, sich aber in Riesenschritten vorwärts bewegt, wende ich mich nun wieder meiner Arbeit zu. Vielleicht schadet ein kleiner Exkurs in das polnische Schulsystem nicht. Anders als Deutschland ist Polen ein Zentralstaat, die sechzehn Wojewodschaften sind eher Verwaltungsbezirke als Bundesländer, obwohl sie eigene Parlamente haben. Das von Kujawien-Pommern ist zum Beispiel hier in Thorn, während die Hauptstadt der Wojewodschaft Bromberg ist. Diesem Organisationsprinzip des Staates gemäß ist die Republik Polen als Ganzes für die Schulpolitik zuständig. Daher ist das Schulsystem in ganz Polen mehr oder weniger gleich. Nach einer sechsjährigen Grundschule wechseln die Schüler aufs Gymnasium, das einer deutschen Gesamtschule, Orientierungsstufe, Mittelschule, Stadtteilschule und ähnlichem entspricht. Nach drei Jahren dort können die Schüler entweder zur Berufsschule, zum Fachliceum, welches unseren Fachoberschulen entspricht, oder zum Liceum, also zur gymnasialen Oberstufe wechseln. In jeder Stadt gibt es ein Schulranking, das unter anderem auf den Zentralabiturergebnissen beruht. Dies bietet meiner Meinung nach einen sinnvollen Qualitätswettbewerb zwischen den Schulen, obwohl ich die Einzelheiten nicht kenne und es auch möglich ist, das einzelne Aspekte dieses Wettbewerbs wenig Sinn haben. Für eine ausgezeichnete Einrichtung halte ich die Auszeichnungen für verdiente und engagierte Lehrer, die teilweise mit erheblichen finanziellen Boni verbunden sind. In Deutschland gibt es viele sehr engagierte Lehrer, aber sie erhalten weder ideell noch materiell mehr Lohn als ihre faulen Kollegen. Zu kritisieren ist allerdings die schlechte Bezahlung der Lehrer, die nicht nur niedriger als in Deutschland ausfällt, sondern auch für Polen unterdurchschnittlich ist, was dazu führt, dass viele Lehrer Nebenarbeiten machen, um über die Runden zu kommen, und daher permanent überarbeitet sind. Im Schulanking ist das Dritte Liceum im Bezug auf den Deutschunterricht das profilierteste der Stadt, was sich nicht nur darin äußert, dass es sich um einen Kulturweit-Freiwilligen beworben hat, sondern vor allem darin, dass es das DSD, also das Deutsche Sprachdiplom offeriert. Die zweite Stufe dieses Diploms berechtigt zum Studium in Deutschland, ohne dass man noch eine Sprachprüfung ablegen müsste.

Um das DSD dreht sich auch eine meiner Hauptaufgaben. Die Lehrerin, die die dritte Klasse, was einer deutschen zwölften Klasse entspricht, unterrichtet, übt mit ihren Schülerinnen auch für das DSD, das acht von ihnen ablegen werden. Sie ist sehr engagiert, aber hat natürlich auch noch anderes zu tun. Dabei komme ich ins Spiel. Drei Stunden in der Woche übe ich mit der DSD-Gruppe. Sie besteht aus acht sehr sympatischen und weit fortgeschrittenen Schülerinnen, wobei gleich gesagt sei, dass es auch hier große Unterschiede gibt wie man sie aus jeder Lerngruppe kennt. Interessant ist dabei, dass es eine Schülerin gibt, die bei schriftlichen Aufgaben immer gute Leistungen erbringt, aber nicht herausragt, aber ein exzellentes Deutsch spricht, sodass ihr niemand an der Schule mit Ausnahme der Lehrer und mir das Wasser reichen kann. Im Unterricht üben wir speziell für die verschiedenen Teile der Prüfung. Ein Teil ist die schriftliche Kommunikation, bei der die Probanten einen Text zusammenfassen, eine Grafik beschreiben und auswerten, das im Material besprochene Thema erörtern und anschließend eine eigene Stellungnahme abgeben müssen. Dafür bleiben nur 120 Minuten Zeit, was selbst für die Lehrer oder mich schwierig einzuhalten ist. Außerdem wird in polnischen Schulen kein so großer Schwerpunkt auf das Abgeben eigener Einschätzungen gesetzt, sodass hierfür geübt werden muss. So bringe ich jede Stunde Statistiken mit, bei deren Erstellung mit der polnischen Tabellenkalkulation mir die Schulbibliothekarin anfangs mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Diese Statistiken und Grafiken müssen die Schülerinnen dann beschreiben und Auswerten. Manchmal stelle ich auch Thesen auf, die dann erörtert und bewertet werden müssen. Die entstandenen Machwerke korrigiere ich dann. Sprachliche Korrekturen sind nicht sehr schwierig, und man lernt dabei viel über die Deutsche wie auch die Polnische Sprache. So treten bestimmte Fehler vermutlich nur bei Polen auf, weil sie den Eigenheiten ihrer Muttersprache geschuldet sind. Dazu gehören Unsicherheiten mit der Wortstellung, die im Polnischen recht liberal ist, und auch bei der Verwendung von Artikeln, die es im Polnischen nicht gibt. Nicht weniger interessant, aber viel schwieriger ist die inhaltliche Korrektur. Darum haben mich die Lehrer am Anfang sehr detailliert in die Kriterien für das DSD eingeführt, sodass ich nun einigermaßen einschätzen kann, wie gut eine Erörterung oder Stellungnahme ist. Eine weitere Aufgabe ist die mündliche Kommunikation, bei der zwei Vorträge gehalten werden müssen. Der erste ist vorher vorzubereiten, der zweite erfolgt anhand eines „Wortclusters“ was wohl weniger chaotisch als „Worthaufen“ klingen soll, der aus verschiedenen Aspekten eines Themas besteht, die nach kurzer Vorbereitungszeit abgearbeitet werden müssen, bevor der Prüfer beginnt, Fragen zu stellen.

An der mündlichen Kommunikation arbeite ich auch mit der zweiten Klasse meines Mentors. Drei Schülerinnen aus dieser Klasse werden im nächsten Jahr das DSD ablegen und bereiten sich bereits jetzt darauf vor. Kürzlich haben sie die sogenannte Pilotprüfung, also eine Übung unter Prüfungbedingungen, abgelegt. Bei der Übung dafür und der Vorbereitung der Vorträge habe ich sie begleitet. Schier endlos haben wir recherchiert, Texte eingeübt, Fehler verbessert und an der Aussprache gefeilt. Auf die Pilotprüfung werde ich später noch genauer eingehen, zunächst aber möchte ich auf eine der drei Schülerinnen hinweisen, die nämlich außerordentlich begabt ist. Offenbar gilt das für alle Fächer, denn kürzlich hat sie ein Stipendium gewonnen, weil sie die beste Schülerin der Schule ist. (Übrigens entsprechend die polnischen Zensuren den deutschen, nur das eins die schlechteste und sechs die beste ist) Für Deutsch aber interessiert sie sich besonders, wobei sie in ihrer Methode wohl dem Klischee des Bücherwurms entspricht, das heißt sie liest unheimlich viel und lernt die Sprache streng systematisch. Daraus resultiert, dass sie einen sehr großen Wortschatz hat und auch komplizierte grammatische Konstruktionen ziemlich unfallfei verwendet. Allerdings ist ihre Intonation unnatürlich und ihre Äußerungen klingen konstruiert. Außerdem konnte sie nach Aussage meines Mentors, der ihr Lehrer ist, bis vor einiger Zeit überhaupt kein Deutsch sprechen, sondern nur schreiben. Vermutlich ist das ihrer Methode geschuldet, aber einmal in der Woche mache ich eine Stunde Individualunterricht mit ihr, und ihre Erfolge sind unübersehbar. Damit möchte ich mich nicht selbst ins Rampenlicht rücken, mein Nutzen ist nur, dass ich der Gesprächspartner bin, ihre Fragen beantworte und ihre Aussprache verbessere, ihr Lernerfolg resultiert aber eher aus ihrer Sprachbegabung, ihrem Fleiß und ihrem Ehrgeiz. Sie brauchte nur jemanden, der Zeit hat, sich mit ihr zu unterhalten, um ihr Potenzial auch mündlich zu entwickeln.

Eine weitere Aufgabe betrifft Förderunterricht mit kleinen Schülergruppen. Dazu gehören zwei Stunden in der Woche mit jungen Damen, die bald die mündliche Abiturprüfung in Deutsch ablegen sollen und die deshalb von mir Bilder gezeigt bekommen, die sie beschreiben müssen, oder die sich zu bestimmten Themen äußern sollen. Diese Aufgabe gehört sicher zu den schwierigsten, denn die Schülerinnen sprechen nur sehr ungern. Sie begründen das damit, dass sie fürchteten, vor mir Fehler zu machen. Sie tauen mittlerweile auf, aber längst nicht so schnell, wie ich mir das wünsche. Sehe ich so bedrohlich aus? Gesprächiger sind da die Mädchen und der Junge aus schon erwähnter zweiter Klasse, die mit mir in zwei Gruppen eine Förderstunde pro Woche haben, in denen wir die Unterrichtsthemen wie Einrichtung, Wetter, Familie, Wohnen et cetera wiederhoen und vertiefen. Immer wieder überrascht mich der große Spezialwortschatz, den ich im Fache Englisch nie besessen habe, obwohl ich vielleicht weniger Grammatikfehler gemacht habe als meine Schützlinge, was aber wohl an der Simplizität der Englischen Sprache liegt. Mein Mentor leistet da mit seinen aufwändigen Arbeitsblättern, seiner perfekten Vorbereitung und seiner Mischung aus Strenge und „Coolness“, die ihn bei den Schülern so beliebt macht, ganze Arbeit. Dann habe ich noch eine Stunde pro Woche mit einigen Erstklässlerinnen, mit denen ich sehr grundlegende Sachen mache, weil sie nur sehr wenig Deutsch können. Eine Ausnahme sind zwei Mädchen, die längere Zeit in Deutschland gelebt haben. Sie machen zwar mehr Fehler als manch andere gute Schülerin aus den höheren Klassen, aber ihre Intonation ist dafür absolut lebendig und natürlich.

Nähere Betrachtungen zu anderen Themen folgen in Kürze.