Vom Anfang bis zur Ankunft

Werte Leser! Der Grund, warum es erst heute etwas von mir zu lesen gibt, obwohl ich bereits seit dem 19. September an meiner Einsatzstelle bin, besteht darin, dass es lange gedauert hat, bis ich über einen Internetanschluss verfügte, und dass ich danach noch einige Tage brauchte, mich in den Blog einzuarbeiten. Weitere Details zu erzählen würde jedoch bedeuten, vorzugreifen, daher beginne ich, ganz traditionell chronologisch, mit dem Anfang. Ich hatte bereits seit längerem vor, ein Jahr ins Ausland zu gehen, und schon im elften Schuljahr angefangen, zu recherchieren, welche Art von Auslandsaufenthalt für mich in Frage käme, denn meiner Ansicht nach sollte man solche Entscheidungen nach reiflicher Überlegung treffen. Zunächst war meine Idee, am Weltwärts-Programm des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung teilzunehmen. Nach kurzer Zeit tauchte jedoch bei mir die Frage auf, welche Fähigkeiten ein deutscher Abiturient ohne Kenntnis der Sprache seines Gastlandes und ohne Berufsausbildung denn haben könnte, die dabei dienlich sein könnten, diesem Land „Entwicklungshilfe“ zu leisten. Nachdem mir auch nach langem Nachdenken keine eingefallen waren, beschloss ich, nach etwas Anderem zu suchen, und bei den Recherchen fand ich das „Kulturweit“-Programm. Für dieses auf interkulturellen Austausch und internationale Begegnungen ausgerichtete Programm begeisterte ich mich sofort, denn hier konnte ich tatsächlich etwas leisten, ohne dafür eine Ausbildung zu haben. Also bewarb ich mich im November 2010. Da mir das Ganze sehr wichtig war, widmete ich meiner Bewerbung viel Zeit, und das war offensichtlich die richtige Entscheidung, denn ich wurde vom PAD zum Vorstellungsgespräch eingeladen. So fuhr ich im März 2011 nach Bonn. Dort erwarteten mich zwei außerordentlich freundliche und gut vorbereitete PAD-Mitarbeiter sowie zwei Mitstreiter, von denen der eine, Alpay, später mein Zimmergenosse auf dem Vorbereitungsseminar werden sollte und heute in der Slowakei ist. Die Interviewer eröffneten uns als erstes, dass sie für Mittel- und Osteuropa zuständig seien, und begannen dann, uns sehr viele, sehr genaue Fragen zu stellen. Es war deutlich zu merken, dass viel verlangt wurde, aber die Atmosphäre blieb trotzdem entspannt. Einige Wochen später kam die lang ersehnte Nachricht, dass ich angenommen worden sei. Ich muss gestehen, dass ich nicht besonders viel über mein Einsatzland Polen wusste und noch weniger über die Stadt Thorn, daher musste ich mich eingehend informieren. Es dauerte nicht lange, bis ich zugesagt hatte, denn alles, was ich über meinen Einsatzort las, war positiv. Da Polen erfreulicherweise Teil der EU ist, konnte ich mir einen Teil der Formalitäten sparen. So nutzte ich die Zeit bis zu meiner Ausreise für den Versuch, Polnisch zu lernen. Der Erfolg war mäßig, denn eine Sprache nur aus einem Buche zu lernen, ist schwer und Polnisch ist außerdem eine komplizierte Sprache, die nur wenig Ähnlichkeiten mit dem Deutschen aufweist. Zum Glück konnte ich immer ein wenig üben, wenn ich Klavierunterricht hatte, denn der Klavierlehrer ist Pole. Das besserte meine musikalischen Fähigkeiten nicht unbedingt, aber sicher meine Aussprache. Wer irgendwo polnische Wörter aufgeschrieben sieht, hält sie meist für unaussprechlich, aber tatsächlich klingt Polnisch nicht nur viel weicher, als es mit den vielen Konsonanten aussieht, sondern besitzt auch äußerst konsequente Ausspracheregeln, womit es sich deutlich vom Deutschen oder gar Englischen unterscheidet. Schwierig ist eher die Grammatik, die in ihrer Konsequenz und ihrer Neigung zur Wortbeugung und zu relativer Liberalität bei der Wortstellung an das Lateinische erinnert. Im September lag dann endlich das lang ersehnte Vorbereitungsseminar am Werbellinsee an.

Schon die Ankunft am Berliner Hauptbahnhof war interessant, hatten doch die Leute, die ich dort traf, alle verschiedene Zielländer, sodass die Gesprächsthemen nicht ausgingen. Nach der Fahrt, die ich mit einer angenehmen Unterhaltung mit Charlie, jetzt wohnhaft in Prag, verbrachte, auf dem wunderschönen Gelände angekommen, lernten wir schon bei der Hauszuweisung die ausgezeichnete Organisation kennen, die sich durch das ganze Seminar ziehen sollte. Eigentlich war das nicht überraschend, denn bereits im Vorfeld war alles hervorragend durchdacht und geplant gewesen. Eine eingehende, nach Tagen geordnete Beschreibung des Seminars will ich meinen Lesern ersparen, aber ich will nicht unterschlagen, dass ich begeistert war. Mit meiner Homezone, also meiner Lerngruppe, wie auch mit Moni, meiner Trainerin, hatte ich einen echten Glücksgriff, sowohl was die Sympathie betrifft als auch die Tatsache, dass Moni selbst aus Polen kommt und mich daher umfassend beraten konnte. Zwar war es insgesamt doch recht anstrengend, aber man bekommt nur selten Gelegenheit, in so kurzer Zeit so viele interessante Menschen kennen zu lernen. Wie alle teilen das Ziel, in die Welt hinaus zu gehen und zu lernen, und dieses Ziel haben in der Regel Menschen, die auch sonst breit gestreute Interessen haben. Daher vereinten uns Interesse und Offenheit, aber da es so viele Dinge gibt, für die man sich interessieren kann, waren wir eine sehr vielfältige Gruppe, und ich wurde mindestens einmal in der Stunde aufs neue überrascht, wenn bei irgendjemandem eine ganz besondere Fähigkeit zum Vorschein kam. Entsprechend vielfältig war denn auch der Kulturabend, auf dem viele Darbietungen schier unglaublich waren. Dazu gehörten bayrische Volkslieder, Beatboxing, ein Kulturweit-Rap, eine Clownsnummer und vieles mehr. Ich könnte noch endlos von diesem Seminar erzählen, zum Beispiel vom Vortrag über das Institut für angewandte Beleuchtungskörperästhetik in Unna, der uns in Berlin dargeboten wurde, aber die Neugier meiner Leser auf das Ende des Vorgeplänkels drängt mich, nun endlich mit der Schilderung meines Auslandsaufenthaltes zu beginnen.

Zwei Tage nach dem Vorbereitungsseminar stand ich mitten in der Nacht auf dem Hannoveraner Hauptbahnhof und verabschiedete mich dort von meiner Mutter und meinem kleinen Bruder. Mein Vater war leider nicht dabei, weil er zu einer Tagung musste. Dann bestieg ich mit zwei Koffern, einem Rucksack und einer Sporttasche den Zug von Amsterdam nach Moskau. Ich stellte fest, dass im Schlafwagen der Gang so eng war, dass selbst ein eher schmaler Zeitgenosse wie ich Mühe hatte, hindurchzugehen. Nach langem Kampf gegen die Breite meiner Koffer war ich endlich im Schlafabteil angekommen und fiel in unruhigen Schlaf. Als ich am nächsten Morgen erwachte, sah ich aus dem Zugfenster heraus nichts als Bäume. Wie mir mein polnisch-deutscher Abteilmitbewohner erklärte, gibt es in Polen viel Wald. Bald darauf jedoch machte der Wald Feldern Platz. Erstaunlicherweise sah ich keine Dörfer, zwischen unbesiedeltem und besiedeltem Gebiet gibt es eher fließende Übergänge. Städte sind dort, wo sich die einsamen Häuser so nahe kommen, dass man von geschlossener Besiedlung sprechen kann. Die Häuser, die ich sehen konnte, waren sehr unterschiedlich, es gab alte Bauernhäuser, kleine graue Klötzchen (wie mir später erklärt wurde, sind sie in den sechziger Jahren als Erfolg einer großen staatlichen Eigenheimintiative entstanden), Bruchbuden mit Welblechdächern und vor allem unglaublich viele Neubauten und solche, die es werden wollen. Zur Erklärung sagte mein neuer Bekannter: „So ist das hier, alles ein bisschen schröggelich, aber dafür sehr sympathisch“. Tatsächlich war mein erster Eindruck aber nicht „schröggelich“ (meine nette Kollegin in Schneidemühl würde sagen: „uselig“), sondern eher, dass die Gegenden, durch die ich fuhr, selbst genauso unterwegs sind wie ich. Dieser Gedanke resultierte aus der regen Bautätigkeit, den alten und häufig recht renovierungsbedürftigen Häusern zwischen den neuen und meinem Wissen über Polens gewaltiges Wirtschaftswachstum der letzten Jahre, dass sich auch in der Krise fortgesetzt hat. Der Weg, auf den sich Polen mit der Revolution, mit der marktwirtschaftlichen Schocktherapie unter Finanzminister Balcerowicz im Jahr 1991,  mit der Errichtung der Demokratie gemacht hat, ist sicherlich ein sehr schwerer, wenn man die Ausgangsbedingungen bedenkt, und dieses Land meistert ihn wirklich erfolgreich. Im Posen musste ich umsteigen. Übrigens verwende ich in diesem Blog konsequent die deutschen Namen für die polnischen Städte. Das hat nichts mit Geschichtsrevisionismus oder vorgestriger Deutschtümelei zu tun, sondern ist der Tatsache geschuldet, dass mein Rechner zwar polnische Sonderzeichen darstellen kann, es aber sehr kompliziert ist, sie zu schreiben. Wie gesagt war ich also in Posen angekommen und wartete dort auf den Zug nach Thorn. Von Posen konnte ich nicht viel sehen, denn hinter dem Bahnhof ist jede Stadt grau und unansehnlich. Der Zug nach Thorn kam nicht, und an der Information sagte man mir, ich sei zu spät gewesen. Wie das möglich sein soll, wenn man eine Stunde früher da ist, sei dahingestellt, jedenfalls konnte ich mit meiner Fahrkarte auch einen späteren Zug nehmen. Der Zug war alt, rostig und längst nicht so gemütlich wie die anderen Züge, die ich danach in Polen kennen gelernt habe. Das war aber auch nicht nötig, bei 25 Grad braucht man weder Plüschsofas noch Gardinen. Mit einer unglaublichen Gemächlichkeit rollte der Zug von Dorf zu Dorf, oder besser gesagt von einsamem Bahnhof zu einsamem Bahnhof, bis er schließlich in Thorn ankam. Dort war ich überrascht, wie klein der Bahnhof für eine Stadt mit 200.000 Einwohnern war. Am Bahnhof empfing mich mein Mentor, und wir fuhren auf die andere Seite der Weichsel. Dort bekam ich einen ersten Eindruck von der Stadt, die sich majestätisch mit vielen Türmen hinter ihrer roten Stadtmauer erhebt. Zunächst aber ging es in Richtung Rubinkowo und Na Skarpie, einer Plattenbausiedlung, die auf unterschiedlichen Seiten ihrer Hauptstraße unterschiedlich heißt. Die Siedlung beherbergt 30.000 Menschen und war, als sie Anfang der achtziger Jahre gebaut wurde, die größte Polens. Im Moment werden die Gebäude renoviert und nach EU-Verordnungen wärmegedämmt., sodass viele schon in Pastellfarben leuchten, was sogar Plattenbauten recht freundlich aussehen lässt. Außerdem wurden nach der Wende kleine Häuser und Pavillons zwischen die Blöcke gebaut. In diesen Häusern befinden sich nun kleine Läden, die städtisches Leben mitten in eine Siedlung bringen, deren Verwandte in Westeuropa oft Schlafstädte mit miserablen Einkaufsmöglichkeiten sind, in denen tagsüber die einzigen Menschen, die man sieht, jene sind, die ohne Aufgabe in Hauseingängen sitzen. In Na Skarpie befindet sich auch meine Schule, das Liceum Nr. 3 in Thorn. Es sind zwei zitronengelbe, frisch renovierte, dreistöckige Blöcke, in denen jeden Tag etwa 500 Schüler sitzen. Außerdem ist im Gebäude der gymnasiale Teil der Privatschule Edukacja untergebracht. Da mein Ankunftstag aber ein Sonntag war, fuhren wir zunächst zu meiner Wohnung. Sie liegt in Grebocin, einem dörflichen Vorort von Thorn, dessen „e“ von einem hübschen Haken geziehrt wird, in einem Mehrfamilienhaus. Zusammen mit dem Vermieter inspizierten wir die Wohnung. Sie besteht aus einem Flur, einem Bad, einer Küche und einem Wohn- und Schlafzimmer. An den orangenen Wänden stehen schwarze Schränke, es gibt außerdem einen Sessel, ein Bett und einen Kühlschrank, sodass ich keine Möbel mehr kaufen musste. Ich bin also mit meiner Wohnung sehr zufrieden.

Weiteres folgt in Kürze.

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