Die Zeit vergeht immer schneller. Zu Beginn meiner 12 Monate in Bolivien konnte ich mir kaum vorstellen, dass das Jahr irgendwann einmal enden wird. Nun ist es Mitte Januar und der Tag der Abreise ist nur noch knappe 5 Wochen entfernt. Die Endphase hat begonnen – fast jedes verbleibende Wochenende ist nun durchgeplant, immer mehr muss ich mir Gedanken über das machen, was nach meiner Rückkehr kommt. Im Folgenden will ich meinen Blick aber weniger in die Zukunft als auf das richten, was bis zum Jahreswechsel 2023/24 in meinem Leben hier in Bolivien passiert ist.
Fangen wir dort an, wo mein letzter Blogeintrag vor – es ist tatsächlich wahr – in etwa einem halben Jahr aufgehört hat. Der August war ein sehr spannender Monat. Während mich eine Freundin aus Deutschland besuchte, wurde am 6. August der bolivianische Nationalfeiertag gefeiert, knapp einen Monat später der „día de Cochabamba“ (Tag Cochabambas). An beiden Tagen gibt es große Paraden, unter anderem vom Militär und von den Schulen. Für mich war es die erste Militärparade meines Lebens, die ich am bolivianischen Nationalfeiertag sah. Zuerst tatsächlich befremdlich, hatte ich mich einen Monat später beim Tag Cochabambas schon fast an diesen Anblick gewöhnt. Hier konnte ich die Feierlichkeiten nicht nur beobachten – nach einem Angebot unseres Schulleiters nahm ich auch selbst an der Parade der Schulen zum „día de Cochabamba“ teil. Mit vollem Anzug mit Deutschlandkrawatte und Fahnenanstecker von Cochabamba im Gleichschritt mit den anderen Lehrer*innen durch das Zentrum Cochabambas zu laufen war eine fast surreale Erfahrung, insbesondere aufgrund der an diesem Tag herrschenden dröhnenden Hitze muss ich sie aber nicht unbedingt nochmal wiederholen.
Mein persönlicher Eindruck ist, dass das Militär, Nationalstolz sowie gewisse (militärische) Vorstellungen von Disziplin und Ordnung in Bolivien präsent sind. Schon in den ersten Wochen in meiner Arbeit in der Schule ist mir dies aufgefallen, so etwa bei der „inauguración del nuevo año deportivo“ (Beginn des neuen Sportjahres), bei der von Seiten der Schule großer Wert auf Marschieren und Disziplin gelegt wurde. Auch eine „hiza de bandera“ (Hissen der Flagge) wird zu Beginn eines jeden Monats durchgeführt. Darüber hinaus gibt es in Bolivien einen obligatorischen Militärdienst für alle Männer, der entweder am Ende der Schulzeit („premilitar“) oder im Anschluss daran abgeleistet werden muss (es kann aber auch ein Zertifikat gekauft werden). Mir scheint, dass meine Freunde hier sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben – während einige es als eine der besten Zeiten ihres Lebens bezeichnen und viele gute Freunde kennengelernt haben, berichteten mir andere von teils harten Bedingungen in den Kasernen und der Verhängung körperlicher Strafen.
Selbstverständlich gibt es an Feiertagen aber nicht nur diese formellen Facetten, so wurde beispielsweise der Tag bzw. die Woche Cochabambas mit einem großen Festival auf dem Messegelände ausgiebig gefeiert.
Nach einem großen hoch im August, in dem ich auch nochmals die Möglichkeit des Reisens innerhalb Boliviens hatte, wurde meine Gefühlslage im September etwas durchwachsener. Gleichzeitig mit meiner besten Freundin aus Deutschland reisten auch einige andere Freiwillige von Kulturweit aus La Paz zurück nach Deutschland, die für mich zuvor noch ein wertvolles Supportnetz waren. Zur selben Zeit gab es in meinem Freundeskreis in Cochabamba Veränderungen, die mich einiges an Kraft kosteten. Darüber hinaus hatte ich fast den ganzen Monat eine Mandelentzündung. Beim Arzt wurden mir sehr starke Antibiotika verschrieben, deren Nebenwirkungen fast so große Auswirkungen hatten wie die Krankheit, die sie behandeln sollten. Wenn ich mich geschont hätte, wäre es mir vermutlich schnell besser gegangen. Ich brachte es aber weder übers Herz nicht zur Arbeiten zu gehen, noch wollte ich meine sozialen Kontakte vernachlässigen, und so zog sich alles sehr hin. In Deutschland hätte ich dies vermutlich anders gehandhabt, mein persönlicher Eindruck ist jedoch, dass viele Menschen in Bolivien in jedem körperlichen Zustand – buchstäblich bis zum Umfallen – arbeiten und im Zweifel statt zu Hause zu bleiben lieber sehr viele, frei verkäufliche, teilweise wirklich harte Medikamente nehmen. Dies liegt selbstverständlich nicht zuletzt an nicht vorhandener Krankenversicherung. Nicht zur Arbeit gehen bedeutet kein Lohn – und das können sich die allermeisten Bolivianer*innen schlicht nicht leisten. Deswegen tendierte auch ich wohl eher in diese Richtung, wollte ich doch nicht zu sehr heraushängen lassen, dass ich mir keinerlei solche Gedanken machen muss.
Darüber hinaus gab es noch ein weiteres Projekt, dass meine letzten Monate bestimmte. Ende August begann ich mit der Vorbereitung auf ein offizielles Spanischzertifikat. Nach sehr intensiven drei Monaten der Vorbereitung mit hohem zeitlichem und finanziellem Einsatz machte ich Mitte November das DELE C1. Ich habe die Ergebnisse zwar noch nicht erhalten, dennoch bin ich schon jetzt davon überzeugt, dass sich die Arbeit in jedem Fall ausgezahlt hat, denn dank eines deutlich erweiterten Wortschatzes und neuem grammatikalischem Wissen kann ich mich nun besser verständigen als je zuvor. Verstehen kann ich nun praktisch alles, in Konversationen komme ich meist erst an meine Grenzen, wenn es sich um wirklich komplizierte abstrakte, beispielsweise politische oder wirtschaftliche Themen handelt. Trotzdem hat man an manchen Tagen das Gefühl, dass die Wörter nicht so richtig aus dem Mund kommen. Auch nach 10 Monaten in Bolivien sorgt das bei mir manchmal für Frust, häufig entstehen aber auch lustige oder abstruse Momente – so etwa als ich mit einigen Freunden in Tarija war und wir eine halbe Stunde darüber redeten, dass wir „cangrejos“ essen gehen. Ich – vollkommen euphorisiert – dachte aus irgendeinem Grund es gehe um Heuschrecken und packte mein gefährliches Halbwissen darüber aus, dass das ja die Zukunft unserer Ernährung sei – bis ich dann nach einer halben Stunde verstand, dass es eigentlich um Krebse ging und die anderen überhaupt nicht verstanden hatten, was ich die ganze Zeit geredet hatte.
Aber zurück in die Chronologie. Meinen verpflichtenden Sprachkurs von Kulturweit nutze ich dazu, für eine Woche nach Lima zu reisen. Ich hätte niemals erwartet, dass der Kulturschock bei meiner ersten Ausreise aus Bolivien so groß sein würde, wie er letztendlich war. Natürlich sind die Bezirke Miraflores und Barranco von Lima in keiner Weise repräsentativ für das Leben in Peru, dennoch hat mich der Grad der Globalisierung dort im Gegensatz zu Bolivien sehr überrascht. Als ich beispielsweise durch eine Mall ging, erinnerte mich auf einmal vieles an Deutschland. Die Läden, die Produkte, die Gerüche, das alles, was man genau so in Deutschland, den USA, Mexiko oder eben Lima findet, gibt es in Bolivien an keinem Ort. Wo in Bolivien am Flughafen Bilder vom Präsidenten oder Werbung der Regierung hängt, prangen in Lima große Plakate mit Parfumwerbung von internationalen Großkonzernen. Sogar hinsichtlich der Kleidung, die die Menschen anhatten, hatte ich in dieser Woche einen kleinen Kulturschock. Außerdem habe ich in Lima an einem Tag mehr Touristen gesehen, als in meiner gesamten Zeit in Bolivien. Nicht nur an all diesen oberflächlichen Dingen, sondern auch an den vielen Vorurteilen, die die Menschen mir gegenüber in Lima äußerten (die in Deutschland vielleicht noch viel extremer wären), als ich erzählte, dass ich zurzeit in Bolivien lebe, merkte ich, dass Bolivien politisch, wirtschaftlich und kulturell deutlich isolierter ist, als ich es in meinem Leben hier wahrnehme.
Nachdem die Ferien für die Schüler*innen bereits Ende November begonnen hatten, hatten wir in der Schule noch einige eher ruhige Wochen bis auch unsere Weihnachtspause begann. So arbeiteten wir unter anderem an der Vorbereitung der Sprachcamps, der Umbenennung der Deutschräume (es müssen ja nicht alle Namen von alten weißen Männern sein…) und einigen weiteren Aufgaben. Die Monate zuvor waren sehr voll mit Prüfungen und verschiedenen Aktivitäten, beispielsweise dem Landesfinale von Jugend debattiert in Bolivien – bei dem ich in den Halbfinalen sogar selbst als Juror fungieren konnte – sowie der Aufführung eines Theaterstücks zur Deutschen Einheit. Das Theaterstück ist mein kleiner Stolz, denn habe ich es selbst geschrieben und konnte beim Einstudieren des Stücks mit einer 11. Klasse meinen Wunsch verwirklichen, mit einem Kurs intensiv in die Geschichte Deutschlands des 20. Jahrhundert einzutauchen. Die letzten Monate in der Schule waren mit die interessantesten, da ich mich oft einbezogen und gebraucht gefühlt habe, außerdem sind im September eine neue Praktikantin und eine neue Freiwillige an die Schule gekommen, mit denen die Arbeit nicht nur deutlich produktiver als zuvor ist, sondern auch viel mehr Spaß macht.
Nun habe ich es doch noch geschafft, einen kleinen Überblick über einige weitere Monate meiner Zeit hier in Bolivien zu geben. Fortsetzung folgt. Versprochen.
Es ist „Winter“ geworden in Cochabamba. Würden sich die Cochabambin@s nicht über zehn Grad in der Nacht beschweren und gäbe es in der Schule nicht den „Winterstundenplan“, der aufgrund dieser bitteren Kälte eingeführt wurde, hätte ich das von selbst wohl nicht bemerkt. Ich erfreue mich nach wie vor an den ca. 30 Grad, die jeden Nachmittag erreicht werden.
Als ich gesehen habe, wann ich hier auf dem Blog den letzten Artikel veröffentlicht habe, konnte ich kaum glauben, dass es nun schon fast drei Monate her ist – so voll war die letzte Zeit, so schnell ist sie vergangen. Hier nun also ein kurzes Life-Update von mir. In nächster Zeit werde ich noch andere, auf ein Rahmenthema begrenzte thematische Artikel zu Bolivien veröffentlichen. Versprochen!
Als ich Anfang letzter Woche aus Santa Cruz kommend in Cochabamba landete, (mein Vater hatte mich zwei Wochen besucht und wir waren gemeinsam durch Bolivien gereist) hatte ich wie so oft in den letzten zwei Monaten nach einer Reise dieses unfassbar schöne Gefühl, wenn ich nach Cochabamba zurückkomme – ein Gefühl angekommen zu sein, fast schon nach Hause zu kommen. Es überrascht mich selbst, wie schnell ich mich nicht nur an meine neue Lebenswelt gewöhnt, sondern sie wirklich ins Herz geschlossen habe.
Das Wichtigste, um sich in einer Stadt angekommen und nicht allein zu fühlen, sind meiner Meinung nach die Menschen, mit der man sie verbindet. Und in dieser Hinsicht kann ich mich wirklich nicht beschweren – im Gegenteil, ich hätte nicht gedacht, dass ich in so kurzer Zeit schon so viele Menschen kennenlernen würde. Nach meiner Kenntnis einzigartig für Bolivien gibt es in Cochabamba einmal pro Woche das Tandem, eine Art Konversationscafé, in dem man sich auf verschiedenen Sprachen unterhalten und so neue Menschen kennenlernen kann. Großartig für mich als Ausländer ist hierbei, dass man dort insbesondere viele Bolivianer*innen trifft, die dazu Lust haben, Menschen aus anderen Ländern kennenzulernen.
Da Cochabamba nur von sehr wenigen Menschen aus anderen Ländern besucht wird, sticht man hier als weißer Europäer den meisten Menschen sofort ins Auge. Selbst auf der Straße, in Cafés oder an der Kasse im Supermarkt habe ich schon erlebt, dass ich gefragt wurde, woher ich denn bin und was mich hier nach Cochabamba gebracht hat. „Cómo es Alemania?“ – diese Frage wird mir so oder so ähnlich in den meisten dieser Gespräche schnell gestellt. Auch, wenn es mit keinem Mal leichter wird, diese Frage in welcher Form auch immer zu beantworten, bin ich jedes Mal aufs Neue beeindruckt von der Offenheit und dem Interesse, mit dem mir die allermeisten Bolivianer*innen begegnen.
Bereits als ich das erste Mal ins Tandem ging, habe ich eine Gruppe von bolivianischen Lingustikstudent*innen kennengelernt, die mich – ich kann es nicht anders sagen – direkt ins Herz geschlossen haben. Man glaubt es kaum, aber hierzu hat auch beigetragen, dass sie alle Französisch studieren und sich sehr darüber freuten, mit mir auch manchmal auf Französisch reden zu können. Schon bald wurde ich von ihnen immer wieder Abends zum Essen oder zum Feiern mitgenommen. In Bolivien ist es üblicher als in Deutschland, sich in sehr großen Gruppen zu treffen, außerdem ist es nicht so starr, wer dabei sein darf und wer nicht. Und so lernte ich sehr schnell sehr viele neue Leute kennen.
Ich hätte niemals gedacht, dass Französisch so eine wichtige Rolle in meinem Alltag hier in Bolivien spielen würde. Kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, wurde ich von den Linguistikstundent*innen zu einem Kochabend mit einer französischen Freiwilligen eingeladen, die an der Universität hier in Cochabamba arbeitet. Schon bald traf ich mich auch so mit A., die mittlerweile zu einer meiner engsten Kontakte in Cochabamba geworden ist. Über sie lernte ich auch nochmal ganz andere, sehr interessante Menschen kennen. Außerdem nehme ich nun, wann immer ich kann, zweimal die Woche an ihren Aktivitäten in der Uni teil, einer französischen Filmprojektion sowie dem „café français“, eine Art Konversationsclub auf Französisch.
Soziale Kontakte sind auch der Schlüssel dazu, immer besser im Spanischen zu werden. Seit ich mehrere Abende pro Woche stundenlang Spanisch spreche und mich auch in der Schule mehr traue, merke ich, wie ich mich fast wöchentlich verbessere. Mit anderen Internationals kann ich nun eigentlich problemlos auf Spanisch kommunizieren. Ich hoffe, dass dies bald auch mit den Bolivianer*innen der Fall sein wird. Insbesondere in größeren Gruppen habe ich das Gefühl, häufig nicht wirklich mitzukommen, gerade bei den Student*innen, die wirklich sehr viel Slang benutzen und in Lichtgeschwindigkeit sprechen. Ich muss mich hier immer sehr konzentrieren, um etwas mehr als die Hauptpunkte zu verstehen. Oft ist es eine frustrierende Erfahrung, so intensiv mit dem Verstehen beschäftigt zu sein, dass man sich de facto nicht am Gespräch beteiligen kann, obwohl man es gerne würde. An doch immer wieder auftretenden Erfolgserlebnisse merkt man trotzdem, dass man sich immer weiter verbessert, so etwa, wenn man nach ein paar Stunden Gespräch auf Spanisch vergisst, dass es sich um eine Fremdsprache handelt oder man einen besonders schönen Satz gebildet hat. Vor ein paar Tagen hat mit eine Ecuadorianerin auf der Durchreise gesagt, dass ich schon den Akzent eines Cochabambinos habe – da war ich echt stolz auf mich.
Außerdem hatte ich in den letzten Monaten bereits das Privileg, viele verschiedene Teile und Facetten von Bolivien entdecken zu können – in Bolivien gibt es häufig Feiertage und lange Wochenenden. Ich werde noch detaillierter berichten, im Folgenden jedoch einige Impressionen:
Meine erste Reise innerhalb Boliviens führte mich nach La Paz, das zusammen mit El Alto eine der beiden großen Metropolregionen Boliviens bildet, auf ca. 3500 Metern liegt und damit den höchsten Regierungssitz der Welt darstellt.
Nur wenig später reiste ich mit meinen Mitfreiwilligen an den „Salar de Uyuni“, den größten Salzsee der Welt – sowie die „Reserva Nacional de Fauna Andina Eduardo Abaroa“, einem Nationalpark in den bolivianischen Anden. Hier haben wir in der zweiten Nacht auf ca. 4500 Metern geschlafen.
Für unser Zwischenseminar trafen wir Freiwillige uns dann in Santa Cruz de la Sierra, der Wirtschaftsmetropole Boliviens, die mit ihrem tropischen Klima im krassen Kontrast zum andinen La Paz steht. Teilweise fühlt man sich hier sehr an den Westen erinnert.
Mitte Juni besuchte ich schließlich Tarija, eine Stadt im Süden Boliviens, die insbesondere für ihren Weinanbau bekannt ist – fast wie ein kleines Bordeaux Boliviens.
Schon bald besuchte mich dann mein Vater in Bolivien, wobei wir nochmals nach La Paz, Uyuni und Santa Cruz de la Sierra reisten. Neu war für mich die Landstadt Samaipata mit der UNESCO-Weltkulturerbestätte „El Fuerte de Samaipata“ sowie dem „Parque Nacional Amboró“ – mein erstes Mal im bolivianischen Amazonas.
Selbstverständlich bin ich aber in den letzten Monaten nicht nur gereist, sondern habe zwischendurch auch noch gearbeitet. Nach wie vor bin ich sehr glücklich mit meiner Einsatzstelle. In manchen Phasen habe ich sehr viel zu tun – so etwa, wenn viele Lehrer*innen krank oder anderweitig abwesend sind oder es gilt, ein Projekt zu organisieren – in anderen Zeiten ist es ein bisschen ruhiger und ich muss mir sehr aktiv Arbeit suchen, damit mir nicht langweilig wird. Aktuell bin ich in der Schule neben der Unterstützung des täglichen Unterrichts – nach wie vor fast ausschließlich in der Sekundarstufe – insbesondere mit den Vorbereitungscamps für die Prüfungen der Sprachdiplome „DSD I“ und „DSD II“ sowie dem Landeswettbewerb von „Jugend debattiert“ beschäftigt, den unsere Schule im September ausrichten wird. Bald werde ich auch ein Projekt zum Tag der Deutschen Einheit starten, welches aktuelle aber noch in den Kinderschuhen steckt.
Auch die nächsten Monate werden somit in meiner Arbeit voraussichtlich von den offiziellen Sprachprüfungen, „Jugend debattiert“ sowie der Vorbereitung des Tags der Deutschen Einheit geprägt sein. Außerdem wird mich im August eine gute Freundin aus Deutschland besuchen, mit der ich aufs Neue in Bolivien reisen werde – ich freue mich sehr darauf, mit ihr das erste Mal den Amazonas im Norden Boliviens zu erkunden. Darüber hinaus werde ich Ende September das erste Mal Bolivien verlassen, um in der Hauptstadt Perus, Lima, einen intensiven Sprachkurs zu machen.
Das Lesen des folgenden Artikels mag für einige Lesende vermutlich anstrengend und ermüdend sein. Ich will es mir jedoch nicht nehmen lassen, über meine Erfahrungen bei der Beantragung des Visums zu berichten, da dies neben meiner Arbeit an der Schule wohl die für die ersten sechs Wochen in Bolivien prägendste Herausforderung war. Für mich, der mit dem großen Privileg aufgewachsen ist, im Besitz einer deutschen und europäischen Staatsbürgerschaft zu sein – und dies in Zeiten des Schengener Abkommens, der Freizügigkeit innerhalb Europas sowie der Möglichkeit, mit dem deutschen Pass in sehr viele Länder der Welt visumsfrei einzureisen, ist die Beantragung einer solchen Aufenthaltsgenehmigung außerdem eine vollkommen neue Erfahrung.
Bolivien ermöglicht es aus Deutschland heraus lediglich, ein Visum für die ersten 30 Tage zu beantragen. Vor Ort folgt nicht etwa die unkomplizierte Verlängerung desselben, sondern ein vollkommen neuer, alles in Deutschland übertreffender Prozess. Nicht nur aus diesem Grund, sondern noch vielmehr, da meine ursprünglich für September 2022 mit Kulturweit geplante Ausreise nach Chile ohne jegliche Mitschuld meinerseits aufgrund der Situation hinsichtlich des Visums abgesagt werden musste, war dieses Thema für mich von Beginn an besonders sensibel und mit großem Stress behaftet.
Somit machte ich mich schon im letzten Oktober an die Beantragung des „visa de objeto determinado – trabajo“ für die ersten 30 Tage, welches bei der bolivianischen Botschaft in Berlin zu beantragen ist. Hierbei war der Prozess recht unkompliziert, vier Wochen und drei Anrufe bei der Botschaft später hielt ich mein Visum in den Händen.
Fünf Monate später. Bereits am ersten vollen Tag in Bolivien traf ich mich mit meiner Tramitadora (kostenpflichtige Hilfe bei der Visumsbeantragung) und wir besprachen das Vorgehen in den nächsten fünf Wochen. Am Anfang war ich sehr froh über diese Hilfe und die Sicherheit, die M. mir gab, jedoch verkehrte sich dieses Gefühl mit allem, das im Folgenden schief gehen sollte, ins Gegenteil.
Bevor wir zur Migración – der Einwanderungsbehörde Boliviens – gehen konnten, mussten noch einige Dokumente organisiert werden. Der erste große „Behördengang“ stand in der zweiten Woche an: Der Besuch beim Amtsarzt im Polizeikrankenhaus. Mein Respekt vor diesem Termin war bereits sehr groß, jedoch steigerte er sich noch weiter, als ich die vielen Menschen in Uniform sah, die in diesem Krankenhaus arbeiteten. Zusätzlich merkte man an jeder Ecke, dass es dort an Geld und moderner Ausstattung fehlt. Eigentlich ist es unbegründet, aber die Tatsache, dass ich beim Warten zufällig dem Morgenapell der Belegschaft beiwohnte, vermochte es ebenfalls nicht, mir etwas meiner Nervosität zu nehmen. Ich empfinde es als fragwürdig, dass im Rahmen dieses Termins nicht nur eine Urinprobe durchgeführt, sondern darüber hinaus auch Blut abgenommen und eine verpflichtende Röntgenaufnahme des Thorax durchgeführt wurde, zumal ich die Relevanz für das Visumsverfahren nach wie vor nicht als gegeben ansehe. Nach einer eingehenden Untersuchung und einem Anamnesegespräch mit einem Amtsarzt hielt ich dann einen Tag später mein notwendiges medizinisches Zertifikat in den Händen.
Im weiteren Verlauf der Woche organisierte ich bei der Verwaltung meiner Schule die „certificación de voluntariado“ (Zertifikat für den Freiwilligendienst) sowie den „convenio privado de colaboración“ (privater Vertrag zwischen Schule und mir). Aber nicht nur dies, darüber hinaus wurde eine Kopie des Personalausweises des Schulleiters sowie sein „poder“ (ca. 17-Seitiges notarielles Dokument, welches bestätigt, dass der Schulleiter seine Position rechtmäßig innehat) sowie eine Registrierungsurkunde der Schule benötigt. Dies alles ist jedoch leichter gesagt als getan, denn die Verwaltung meiner Schule wusste zumeist nicht genau, was ich von ihr wollte. Infolgedessen taten sich immer wieder neue Fehler auf, die ich beheben musste.
Nachdem mein Führungszeugnis aus Deutschland aufs Neue übersetzt war (die Übersetzung aus Deutschland wurde aus mir unerfindlichen Gründen nicht akzeptiert; wieder einmal 75 Euro zum Fenster herausgeschmissen) musste es noch vom deutschen Honorarkonsul in Cochabamba legalisiert werden. Nun musste die Übersetzung nochmals von bolivianischer Seite legalisiert werden. Meine Tramitadora schrieb mir eine halbe Stunde vor einem unserer Treffen, dass die dafür zuständige „Cancillería“ für diesen Stempel nun auf einmal doch 100 Dollar statt der angekündigten 50 Dollar verlange. Es soll jeder seine eigenen Schlüsse ziehen, aber dies Geschah zu einem Zeitpunkt, an dem Dollar in Bolivien aus wirtschaftlichen Gründen de facto nicht bei einer Bank oder in einer Wechselstube zu bekommen waren. Somit blieb mir nichts anderes übrig, als zu einem grausamen Wechselkurs Dollar bei einem alles andere als vertrauenserweckenden Straßenstand mit der Aufschrift „Dolares“ zu kaufen. Zusätzlich fragwürdig erscheint es mir, dass man lediglich für die Zahlung in Bolivianos eine Rechnung erhält, nicht aber für die Gebühr in Dollar.
Darüber hinaus musste ich beim Notar eine Erklärung zu meinem Freiwilligendienst sowie der Quelle meiner Einkünfte abgeben und die Migración verlangt die Kontoauszüge der letzten drei Monate, was ebenfalls kein unerheblicher Eingriff in die Privatsphäre ist – immerhin kann man darüber de facto mein gesamtes Leben der letzten drei Monate nachvollziehen. Außerdem forderte die Migración eine Kopie meiner Kreditkarte sowie Kopien der Personalausweise meiner Eltern. Soweit zumindest der damalige Stand.
Nach erneuten gravierenden Problemen mit den Dokumenten meiner Schule stand am nächsten Tag der erste Besuch in der Migración an. Dorthin zu gelangen war jedoch bereits eine große Herausforderung, da ein Großteil des Verkehrs in Cochabamba aufgrund umfangreicher Straßenblockaden, den „bloqueos“, an diesem Tag stillgelegt war. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Wartens kamen wir an die Reihe. Mit höchster Akribie kontrollierte der Beamte jede einzelne Information der zahllosen Dokumente. Es schien fast zu gut um wahr zu sein: Der Beamte hatte nichts auszusetzen und forderte mich zur Zahlung des Visums (immerhin fast 175 Euro) auf.
Ich dachte in diesem Moment aufgrund der so genauen Kontrolle, dass ich es wirklich geschafft hätte. Nun stand jedoch eine zweite Kontrolle an. Nach wenigen Sekunden merkte ich hier, dass etwas nicht stimmte. Ich war in diesem abgetrennten Raum alleine und musste ohne meine Tramitadora dabei zusehen, wie mein Reisepass und mein Visum wild in privaten Whatsapp-Chats herumgeschickt wurde. Zuerst ging es generell um die Frage, ob mein Visum nicht schon bei der Einreise abgelaufen war. Als dies jedoch für mich positiv ausging, war die Beamtin unsicher darüber, ob ich denn nun mein Visum verlängern könnte. Nach kurzer Zeit war es klar: Ich konnte mein Visum erst an Tag 20 in Bolivien verlängern. An jenem Tag war Tag 18. Ich war über diese Aussage mehr als fassungslos, da ich noch nie von einer derartigen Regel gehört hatte und der Beamte in der ersten Kontrolle sowie meine Tramitadora nichts davon gesagt hatten – bezahlt hatte ich ja immerhin auch schon. Nach einer gefühlten Ewigkeit bekam ich immerhin mein Geld zurück und begab mich frustriert auf den Weg nach Hause.
Einige Tage später ging ich mit einem entspannten Gefühl in die Migración, da meine Dokumente ja bereits überprüft wurden. Dieses verflüchtigte sich bereits, als meine Tramitadora ohne Vorankündigung nicht auftauchte und ich somit alleine mit den Beamten kommunizieren musste. Obwohl der Beamte der gleiche war, der bereits wenige Tage zuvor meine Dokumente überprüft hatte, war der Ausgang ebenjener Überprüfung ein anderer. Plötzlich meinte er nun zu mir, dass ich mein Visum erst ab Tag 30, also ab Ablauf des alten Visums verlängern könnte, obwohl ich vier Tage zuvor mit der Begründung abgewiesen wurde, ich könne dies erst ab Tag 20. Ich entgegnete, dass ich dann ja illegal sei und Strafen zahlen müsste. Leicht schnippisch stimmte der Beamte mir zu. Ich hatte den Versuch enttarnt, mich in die Illegalität und damit zum Zahlen einer Geldstrafe zu treiben. Leider ist es so, dass die Beamten in der Migración von den gezahlten Geldstrafen direkt profitieren und aufgrund ihrer sehr schlechten Bezahlung auch auf diese angewiesen sind.
Schließlich fand der Beamte doch noch einen Fehler, ein Datum einer Unterschrift in einem Dokument der Schule war mehr als drei Monate alt. Dies war nichts anderes als plausibel und sehr einfach nachvollziehbar. Während ich noch versuchte, dem Beamten ebendies zu verdeutlichen, packte er mit sichtlich gestiegenem Elan wieder alle meine Dokumente zusammen. Auch wenn es im Rückblick vielleicht lächerlich wirken mag, in diesem Moment war ich bereits so nervös und fühlte mich so ungerecht behandelt und machtlos, dass ich mich sehr anstrengen musste, nicht in Tränen auszubrechen.
Mit leichter Süffisanz meinerseits kam ich bereits etwas mehr als eine Stunde später in die Migración zurück und präsentierte dem Beamten das neue Dokument. Nun gab es für ihn nichts mehr auszusetzen, ich durfte aufs Neue bezahlen, wieder ewig warten und schließlich meinen Antrag in einer weiteren Kontrolle endgültig abgeben. Mein Reisepass wurde selbstverständlich für die kommenden Wochen einbehalten – ein Umstand, der mich abermals sehr nervös machte.
So weit so gut, nun sollte man eigentlich denken, dass mein Artikel mit der unkomplizierten Abholung des Visums endet. Ab jetzt wird es jedoch erst richtig lustig.
Zwei Tage später stehe ich am Flughafen und warte auf das Boarding für meinen Flug nach La Paz, wo ich ein verlängertes Wochenende verbracht habe. Auf einmal erreichte mich ein Anruf, in der Situation konnte ich jedoch nicht abnehmen und dachte mir nichts Böses dabei. Während ich ins Flugzeug einstieg, erreichte mich jedoch über WhatsApp eine von meiner Tramitadora weitergeleitete Sprachnachricht des Beamten der Migración, der bereits mehrmals meine Dokumente überprüft hatte. Nun wurde meine Geburtsurkunde benötigt, und das sofort. Während das Flugzeug bereits zum Start rollte, suchte ich auf meinem Handy noch einen Scan meiner Geburtsurkunde heraus.
In der nächsten Woche erreichte mich dann über meine Ansprechpartnerin in der Schule die Nachricht, dass noch weitere Dokumente fehlten. Meine Tramitadora hatte mich darüber jedoch nicht informiert und versuchte auf eigene Faust, die Steuernummer meiner Schule sowie die Schulverfassung zu organisieren. Dies führte jedoch dazu, dass im ganzen Prozess fast eine Woche Stillstand herrschte und sich erst etwas bewegte, als ich die Sache selbst in die Hand nahm. Die Kommunikation mit meiner Tramitadora war hierbei – wie während des gesamten Prozesses der Visumsbeantragung – extrem schwierig, da sie sprachlich wie inhaltlich nicht bemüht war, meine Fragen verständlich zu beantworten oder mir etwas meiner Angst zu nehmen. Im Gegenteil: Meistens führte ihre mangelhafte Kommunikation bei mir zu zusätzlichem Stress, Unklarheit und damit Angst. Es machte mich verrückt, dass sie mit den Migrationsbeamten über WhatsApp über meinen Antrag kommunizierte und mich nur auf Nachfrage meinerseits vage darüber in Kenntnis setze. Nachdem die Dokumente eingereicht waren, musste ich erneut in die Migración, um dort eine Erklärung über die „Observaciones“ (Beobachtungen) während der Bearbeitung meines Antrags zu unterschreiben. Zuvor kam es wieder einmal zu Problemen hinsichtlich lächerlicher Details: Die Migración forderte das Deckblatt der Schulverfassung. Nach Rücksprache mit der Verwaltung meiner Schule sowie einem Notar war klar, dass ein solches jedoch nicht existierte. Mit viel Überredungskunst akzeptierte die Migración das dann auch. Meine Tramitadora hatte sich aus dem Prozess nun de facto herausgenommen und begleitete mich nicht mehr zu den Terminen – obwohl ich mir dies wünschte.
Wenn man es erstmal in den ersten Stock der Migración geschafft hat, muss schon einiges schiefgegangen sein. Dies wurde mir klar, nachdem ich bei diesem Termin 2,5 Stunden in dem engen Gang dieses unangenehmen Orts verbracht hatte und mich hierbei mit meinen Mitwartenden unterhielt. Nicht nur bei den Lehrer*innen in der Schule, auch bei meinen Mitwartenden war der Frust über die Arbeitsweise der Migración riesig. Ich unterhielt mich hierbei eingehender mit einem Bolivianer, der mir ebenfalls erzählte, dass der Frust über diese Behörde nicht nur wegen der weitverbreiteten Willkür, sondern auch der Demütigung aufgrund vernachlässigbarer Details (z.B. Überschriften von Dokumenten oder einzelne Buchstaben in Bescheinigungen) einen äußerst schlechten Ruf hat – immerhin bietet die Migración nicht nur Dienstleistungen für Ausländer, sondern auch für Bolivianer*innen an. Darüber hinaus ändern sich die Anforderungen, soweit sie denn beachtet werden, ständig (in letzter Zeit wurden sie deutlich strenger) und der Ausgang von Verfahren hängt oftmals von der Tagesstimmung eines Beamten ab. Auch die Lehrer*innen meiner Schule können mit frustrierenden Geschichten über die Migración Stunden füllen. Zumindest in der Schule meinte man auch zu mir, dass es bei mir schon wirklich schlecht gelaufen war. Normalerweise war der Prozess mit der Abgabe des Antrags abgeschlossen, was bei mir offenkundig nicht der Fall war.
Nachdem ich endlich an der Reihe war und die Erklärung unterschreiben konnte, versprach der Beamte mir, dass mein Visum am nächsten Tag fertig sein würde. Ich war mittlerweile mit den Nerven am Ende, da es sich so anfühlte, als würde das alles nie enden und die Migración immer weitere Dokumente fordern. Besonders Angst hatte ich, dass dies beispielsweise auch schwer zu beschaffende Dokumente aus Deutschland hätten sein können.
Als ich am nächsten Tag in die Migración ging, wurde ich jedoch abermals bitter enttäuscht. Entgegen der Versprechung am Tag zuvor war mein Antrag noch immer nicht fertig bearbeitet. Aufs Neue wartete ich eine ganze Weile in dem Gang, in dem ich bereits am Tag zuvor einige Stunden verbracht hatte. Es half jedoch nichts, der Verantwortliche der Migración vertröstete mich wieder auf den nächsten Tag.
Nun war ich endgültig mit den Nerven am Ende. Ich erinnere mich, dass ich in der kommenden Nacht kaum schlief. Das Visum war für mich schon immer ein absolutes Stressthema und nun schien es schlimmer als je zuvor. Aus Sorge, dass sich auch am folgenden Tag nichts bewegen würde, begleitete mich eine Lehrerin aus der Schweiz zur Migración, die bereits seit 15 Jahren in Bolivien lebt und viele eigene Erfahrungen mit dieser Behörde gemacht hat. Wir dachten uns bereits Argumentationsstrategien für das erneute Diskutieren mit dem Verantwortlichen aus. Doch das Undenkbare geschah: Mein Reisepass mit dem Visum wurde mir ausgehändigt. Es war leider der schönste Moment bis jetzt in Bolivien.
Doch damit war der Bördenmarathon noch nicht beendet, denn nun galt es, einen bolivianischen Personalausweis bei SEGIP zu beantragen. Dies ging jedoch weitestgehend reibungslos. Und nachdem aufs Neue mehrmals alle meine Fingerabdrücke genommen, Fotos von mir gemacht und ich eine saftige Gebühr bezahlte, hielt ich eine Woche später meinen Personalausweis in den Händen.
Insgesamt hat mich der Erwerb der Aufenthaltsgenehmigung(en) je nach Rechnung 600 bis 800 Euro gekostet und war alleine in Bolivien mit elf Behördengängen (plus fünf meiner Tramitadora) verbunden.
Ich hoffe, dass ich in diesem Jahr keine bolivianische Behörde mehr von innen sehen werde.
… und dann hat es doch mehr als zwei Wochen bis zu meinem nächsten Blogeintrag gedauert. Vermutlich für die wenigsten überraschend: Ich hatte mir schon viel früher vorgenommen, über meine ersten Wochen in Cochabamba zu berichten. Nun, beim Schreiben dieser Zeilen, bin ich fast auf den Tag genau einen Monat in Bolivien und habe schon so viel erlebt, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Deswegen mache ich es mir jetzt leicht – und fange einfach von vorne an.
Noch während ich aus Santa Cruz kommend mein Gepäck abholte, sah ich meine Ansprechpartnerin meiner Schule, Sandra, in der Ankunftshalle des kleinen Flughafens auf mich warten. Ich war zu diesem Zeitpunkt tatsächlich sehr aufgeregt, meine Müdigkeit hatte sich deswegen nahezu in Luft aufgelöst. Doch die Nervosität stellte sich sehr bald als unbegründet heraus, alles funktionierte nahezu reibungslos. Da der Flughafen Cochabamba noch fast in der Innenstadt liegt, waren wir schon nach wenigen Minuten bei meiner Unterkunft angelangt.
Nach einem Monat kann ich sagen, dass mein Zimmer – zumindest für die Anfangszeit – für mich perfekt ist. Die Lage im Zentrum ist ein riesiger Luxus und ich genieße es, das erste Mal in meinem Leben fast alles innerhalb weniger Minuten zu Fuß erreichen zu können. Auch mein Schulweg nimmt nur in etwa 20 Minuten mit dem Bus in Anspruch.
Den ersten Tag nutze ich dazu, mich in meinem neuen Zimmer einzurichten und das erste Mal einkaufen zu gehen. Ich versuche hierbei wann immer es geht, auf einen kleineren Supermarkt zurückzugreifen. Mittlerweile kennen mich die Kassiererinnen hier schon und fragen mich jedes Mal ein bisschen mehr darüber aus, was ich denn in Bolivien mache. Hieran aber auch an vielen anderen kleinen Dingen in meinem Alltag merke ich, dass ich sehr auffalle. Auf diese Wahrnehmung will ich aber in einem separaten Artikel eingehen, da ich diesem komplexen Thema an dieser Stelle nicht gerecht werden kann.
Mein erster Kulturschock war relativ profan, jedoch führt dies nicht dazu, dass ich weniger geschockt wäre: Milch, Joghurt und andere Flüssigkeiten in Plastikbeuteln. Bis heute frage ich mich, wer auf die Idee gekommen ist, dass es sich hierbei um eine gute Idee handelt. Noch drängender ist aber für mich die Frage, wie ich die Milch aus diesen Plastikbeuteln in eine Flasche bekommen soll, ohne dass zwei Drittel derselben in der Spüle verloren gehen. Ich denke, ich sollte mich an dieser Stelle jedoch nicht weiter in ebenjenen Überlegungen ergehen…
An meinen ersten Tagen in Bolivien merkte ich, wie ich von Minute zu Minute kränker wurde – ein Gefühl, welches mich in den nächsten vier Wochen noch häufiger ereilen sollte. Trotzdem wollte ich am zweiten Tag unbedingt noch mit Luisa, der Freiwilligen von Kulturweit, die bereits an meiner Schule arbeitet, essen gehen und ein wenig die Stadt erkunden. Am Nachmittag fuhren wir auch in meine Schule, damit ich mir ein erstes Bild machen konnte.
Hierbei benutze ich auch das erste Mal den ÖPNV Cochabambas. Dieser besteht aus einer Vielzahl von Trufi-Linien. Hat man Glück, wird seine Linie von kleinen Vans mit verschließbarer Tür befahren, hat man Pech, sind dies lediglich ausgebaute Autos oder Vans mit einer Tür, die immer offen steht.
Im Generellen sind die Sicherheitsstandards der Verkehrsmittel hier andere, beispielsweise sind in den meisten Taxis die Anschnallgurte nach hinten gebunden, sodass man sie nicht benutzen kann, und/oder ich habe die Straße zwischen meinen Füßen an mir vorbeiziehen sehen. Ebenfalls soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass das reguläre Scheinwerferlicht vieler Taxis durch ein atemberaubendes Spektakel an in allen Farben blinkender Lichter ersetzt wurde.
Aber zurück zu den Trufis: Was alle Linien gemeinsam haben ist, dass es keine Haltestellen und keinen Fahrplan im Sinne eines festen Takts gibt. So stellt man sich an die Straße und wartet, bis man irgendwann einen Bus seiner Linie sieht – ist dieser in Sicht, macht man den Busfahrer auf sich aufmerksam, woraufhin dieser stoppt. Beim Einsteigen bezahlt man pauschal zwei Bolivianos, umgerechnet sind dies weniger als 30 Cent. Will man Aussteigen, ruft man das ebenfalls dem Fahrer zu und der Bus hält an. Auch wenn es sich vermutlich nicht danach anhört, funktioniert dieses System nahezu reibungslos, obwohl es natürlich immer ein gewisses Glücksspiel ist, ob der nächste Bus in einer oder in fünfzehn Minuten kommt.
An meinem ersten vollen Tag in Cochabamba liefen Luisa und ich auch über die Plaza Colón (meiner Meinung nach einer der schönsten der vielen Plätze im Zentrum Cochabambas) und den Prado, die größte Straße, die auf dem Mittelstreifen durchgängig mit Bäumen und Palmen begrünt ist und großzügige Fußgängerwege bietet. Bereits an meinem ersten Abend kam ich in den Genuss (?), eines der typisch bolivianischen Gerichte ausprobieren zu können: Pique. Wie soll ich es beschreiben…nunja… Fleisch und Fleisch mit noch mehr Fleisch, Würstchen und Pommes. Irgendwie hatte ich mir da anderes vorgestellt. Aber auch wenn es nicht von Anfang an gefunkt hat, die bolivianische Küche sollte ich in den nächsten vier Wochen noch zu schätzen und zu lieben lernen.
Bereits am zweiten vollen Tag in Bolivien begann ich mit der Arbeit an meiner Schule. Obwohl ich vermutlich von Anfang an hätte zuhause bleiben sollen, kam dies für mich an meinem ersten Arbeitstag nicht in Frage. Man kann nicht behaupten, dass ich nicht vom ersten Moment an eingebunden worden wäre – bereits fünf Minuten nach meiner Ankunft wurde ich in eine 12. Klasse geschickt und improvisierte dort eine kleine Vertretung, bis nach ca. 25 Minuten die eigentliche Lehrerin verspätet ankam. Darüber hinaus habe ich am ersten Tag bereits Vokabeltests korrigiert und in zwei weiteren Klassen der Sekundarstufe hospitiert. Sehr dankbar bin ich darüber, dass ich bereits am ersten Tag eine kleine Schulhaustour bekommen habe und sehr vielen Mitgliedern der Schulfamilie, unter anderem der Verwaltung und dem Schulleiter, vorgestellt wurde (vermutlich habe ich noch nie so viele Hände geschüttelt wie an diesem Tag).
Das Colegio Alemán Federico Froebel ist eine Privatschule und liegt etwas außerhalb der Innenstadt in einer eher ruhigen, sehr grünen Umgebung. Obwohl es sich um eine deutsche Schule handelt, findet der Unterricht auf Spanisch statt. Natürlich liegt ein Schwerpunkt jedoch auf dem Deutschunterricht. Das Schulgelände besteht aus einigen Gebäuden, die durch einen sehr schönen, grünen Schulhof miteinander verbunden sind, wobei der zur Schule gehörende Kindergarten räumlich von den restlichen Gebäuden abgetrennt ist. Vieles befindet sich im Freien, beispielsweise ist die „Sporthalle“ eine Decke ohne Wände und die „Gänge“ sind ebenfalls im Freien.
Dies ist aber kein Problem bzw. sogar von Vorteil, da in Cochabamba tagsüber ganzjährig mindestens 25 Grad erreicht werden. Die Schüler*innen werden in festen Klassenzimmern unterrichtet, wobei Deutsch eine Ausnahme darstellt: In einem Gebäude gibt es einen eigenen Deutschtrakt, in dem jede*r Deutschlehrer*in ein eigenes Klassenzimmer hat. Darüber hinaus gibt es ein für die Deutschlehrer*innen dediziertes Lehrerzimmer. Einerseits schätze ich das Deutschlehrerzimmer sehr, da man hier immer gut aufgehoben ist. Andererseits sind die Deutschlehrer*innen dadurch von den Lehrer*innen der anderen Fachschaften separiert, weswegen ich bis jetzt leider kaum Kontakt zu ihnen hatte. Etwa ein Drittel der Deutschlehrer*innen sind Muttersprachler*innen aus Deutschland oder der Schweiz.
Irgendwann kam an meinem ersten Arbeitstag leider der Punkt, an dem ich das Gefühl hatte, nicht mehr weiterarbeiten zu können. Da es mir gesundheitlich wirklich schlecht ging –vermutlich ein Zusammenspiel der aus Deutschland mitgebrachten Krankheit sowie der hohen Lage Cochabambas (immerhin ca. 2600 Meter) – wurde ich auf die Krankenstation geschickt, wo mir eine sehr nette Dame (die an der Schule ausschließlich auf der Krankenstation arbeitet) Schmerzmittel gab, Sauerstoffsättigung und Blutdruck maß und ich mich etwas hinlegen konnte. Aber es half alles nichts, im Anschluss fuhr ich mit dem Taxi nach Hause und ging auch am folgenden Tag nicht zur Arbeit. Am Freitag meiner ersten Woche in Cochabamba fühlte ich mich wieder etwas besser und meinte, in die Arbeit gehen zu müssen und, noch schlimmer, nach der Arbeit einen noch leicht rohen Burger essen zu müssen. Ein großer Fehler, den ich in den darauffolgenden fünf Tagen gesundheitlich bitter bezahlte.
Es war kein schöner Start ins Auslandsjahr, an seinem ersten Wochenende in Cochabamba krank im Bett zu liegen. Viel zu früh kam so Heimweh auf, immerhin war es für mich das erste Mal, ganz allein krank zu sein. Und trotzdem muss man sich ja irgendwie zum Supermarkt schleppen, denn auf Trinkwasser lässt sich schlecht verzichten. Außerdem führte dieser unschöne Start dazu, dass ich in den ersten zwei Wochen de facto nichts von meiner neuen Heimatstadt sah.
Im Laufe der zweiten Woche ging es mir jedoch immer besser und ich konnte in meiner neuen Arbeit vollends durchstarten. Nachdem mein Fokus in der ersten Zeit insbesondere darauf lag, möglichst viele Klassenstufen und Klassen kennenzulernen, habe ich mir nun bereits einen festen Stundenplan zusammengestellt. Ich genieße es, in meiner Arbeit sehr große Freiheit zu haben und wenige feste, regelmäßige Aufgaben zugewiesen zu bekommen. Jedoch ist genau dies natürlich nicht nur eine Freiheit, sondern darüber hinaus auch eine große Verantwortung, da man immer engagiert sein und Eigeninitiative zeigen muss.
Meine normale Arbeitswoche besteht nun darin, dass ich jeweils eine neunte bis zwölfte Klasse in allen ihren Unterrichtsstunden begleite. Hier ist der Bedarf in jedem Fall auch gegeben, da sich diese Klassenstufen aktuell intensiv auf die Prüfung für das Deutsche Sprachdiplom I bzw. II vorbereiten. Wenn ich zusammen mit der Lehrerin in einer Klasse bin, halte ich mich eher im Hintergrund und unterstütze die Schüler*innen z.B. bei Einzel- und Gruppenarbeiten. Teilweise arbeite ich im Sinne der Binnendifferenzierung auch allein mit kleineren Gruppen von Schüler*innen. Am Freitag bin ich etwas in der Grundschule. Ich würde nicht behaupten, dass ich der geborene Grundschullehrer bin, jedoch macht mir die Arbeit mit den Kleinsten – zumindest in dieser homöopathischen Dosis – durchaus Spaß. Wenn ich nicht mit Klassen arbeite, unterstütze ich die Lehrer*innen bei Korrekturen, führe Recherchearbeiten aus oder bastele hin und wieder auch etwas. Hier mache ich eigentlich immer das, was gerade anfällt, wobei sich der Arbeitsaufwand hier von Tag zu Tag sehr stark unterscheidet.
Da in meinen ersten Wochen an der Schule viele Prüfungen stattfanden, habe ich auch schon einige Vertretungsstunden in der Sekundarstufe allein gehalten. Selbstverständlich ist es zu Beginn sehr herausfordernd, eine ganze Klasse zu unterrichten, es macht mir jedoch auch mit Abstand am meisten Spaß. Hierbei gilt es nicht nur, eine Balance zwischen dem Sicherstellen der nötigen Disziplin und der eigentlich entspannteren und weniger distanzierten Rolle als Freiwilligem zu finden, sondern darüber hinaus auch, möglichst souverän auf Spanisch zu reden. Dies gelingt mir meist gut, machmal ist es jedoch auch desaströs. Notwendig ist es in jedem Fall, da die allermeiste Kommunikation in der Klasse auf Spanisch stattfindet, oftmals muss ich auf Deutsch Gesagtes auch noch einmal auf Spanisch wiederholen.
Zumeist habe ich beim Gestalten der Vertretungsstunden sehr viele Freiheiten und kann Themen vorbereiten, die mir wirklich wichtig sind. Beispielsweise haben wir ein Lied analysiert oder – was besonders von Bedeutung ist, da es im Deutschunterricht deutlich zu kurz kommt – eine landeskundliche Recherche durchgeführt.
Fast immer hat dies bis jetzt auch sehr gut funktioniert und ich habe das Gefühl, dass die Schüler*innen mich – zumindest in der Mehrzahl – respektieren und ernst nehmen (eventuell auch, da ich es strikt vermeide, Schüler*innen der Sekundarstufe mein Alter zu verraten…). Beispielsweise merke ich dies daran, dass ich sehr häufig mit „profe“ (Lehrer) angesprochen werde und ich auch außerhalb des Unterrichts von Schüler*innen gegrüßt oder auch angesprochen werde, was mich jedes Mal riesig freut. Obwohl natürlich – auch auf meiner Seite, da mein Spanisch noch alles andere als perfekt ist – eine Sprachbarriere vorhanden ist, finde ich es immer sehr interessant herauszufinden, was die Schüler*innen (nicht) über Deutschland wissen und welche Fragen sie mir stellen. Soweit es mir möglich ist, will ich die landeskundliche Arbeit in Zukunft auf jeden Fall ausbauen, z.B. durch einen Landeskundekurs oder längerfristige landeskundliche Projekte.
Einiges läuft an meiner Schule anders als in Deutschland – so etwa auch im Hinblick auf die Idealvorstellungen von Disziplin und Ordnung oder auch Nationalstolz. Für mich wurde dies in den ersten Wochen besonders während des Sportunterrichts sichtbar, da hier beispielsweise oftmals auch marschiert wird. Dies wurde auch bei der „Einweihung des neuen Sportjahres deutlich“. Ich denke, die Bilder sprechen fürs Erste für sich. Ebenjenes Thema will ich in einem meiner nächsten Blogeinträge eingehender behandeln.
Auch die bolivianische Protestkultur habe ich schon hautnah miterlebt. Typisch sind hierbei die sogenannten „bloqueos“ (Straßenblockaden) als Protestform, auf die in den allermeisten Fällen zurückgegriffen wird. Auch ich habe schon an mehreren Tagen bloqueos erlebt, an einem Tag waren so viele Straßen blockiert, dass meine Schule spontan auf Distanzunterricht umstellte. Einmal musste ich auch einen bloqueo zu Fuß passieren, da ich sonst keine Möglichkeit gehabt hätte, mein Zimmer zu erreichen.
Außerhalb der Schulzeit habe ich in den ersten Wochen noch nicht viel gemacht, außer meinen Alltag (und das Visum) zu organisieren. Wenn man gleichzeitig in ein neues Land zieht und darüber hinaus aus seinem Elternhaus, müssen sich offenkundig eine Vielzahl an Abläufen von Grund auf neu einspielen. So kam es, dass in den ersten Wochen nicht viel Zeit und Kraft für über den „Alltag“ hinausgehendes blieb, wobei es sich hier in den ersten Wochen vielmehr nach Ausnahmezustand als nach Alltag anfühlte. Darüber hinaus gilt es natürlich auch, intensiv den Kontakt zu Familie und Freunden in Deutschland zu halten, was ebenfalls durchaus zeitaufwändig, mir jedoch sehr wichtig ist.
Mittlerweile hat sich mein Alltag jedoch schon deutlich besser eingespielt und ich hatte bereits Zeit zum Reisen. Nun habe ich mir auch vorgenommen, mehr Kontakte in Cochabamba zu knüpfen und Menschen kennenzulernen, da mir dies bis jetzt außerhalb der Schule noch nicht gelungen ist. Idealerweise wären dies natürlich Bolivianer*innen, ich wäre jedoch fürs erste auch mit anderen Internationals sehr zufrieden, da ich mich nun, da man etwas mehr Zeit hat und der Alltag nicht mehr ganz so aufregend wie zu Beginn ist, manchmal auch etwas einsam fühle. Ich glaube, dies ist ein Gefühl, dass viele internationale Freiwillige sehr gut kennen.
Bereits an meinem dritten Wochenende in Cochabamba besuchte mich eine Freiwillige meiner Organisation aus La Paz, Julia, wobei auch ich das erste Mal intensiv die Stadt erkundete. Mit Stadt meine ich stets das Zentrum, da ich bis jetzt nur diese Facette Cochabambas kennengelernt habe. Mir ist wohl bewusst, dass es gerade am Stadtrand und außerhalb der Stadt Viertel gibt, in denen die Situation anders als im Zentrum ist. Vielleicht mag es hinsichtlich der Struktur meines Blogeintrags fragwürdig wirken, dass ich meine neue Heimatstadt erst gegen Ende desselben beschreibe, jedoch habe ich das Folgende (leider) erst nach einigen Wochen wirklich wahrgenommen:
Cochabamba ist eine sehr grüne Stadt mit vielen schönen Plätzen und Straßen, die von hohen Bergen umgeben ist. Das Wetter ist perfekt, nicht umsonst wird Cochabamba auch „die Stadt des ewigen Frühlings genannt“. Auch Bolivianer*innen haben mir schon erzählt, dass sie das Klima Cochabambas für das Beste in ganz Bolivien halten. Die Innenstadt hat durchaus einen großstädtischen Charme. Über Restaurants (auch mit internationaler Küche), Cafés und einer Vielzahl von Geschäften bis hin zu Einkaufszentren und großen Kinos findet sich nahezu alles, was das Herz begehrt. Interessant ist hierbei, dass sich in Cochabamba viele „thematische Straßen“ befinden, in denen lediglich Läden einer bestimmten Branche vertreten sind. Am Anfang war ich darüber sehr verwirrt, da sich in meiner Straße lediglich Läden für medizinische Gerätschaften und beispielsweise medizinische Kleidung befinden. Als ich jedoch andere Straßen entdeckte, in denen sich ausschließlich Geschäfte für Farben und Lacke, Friseure oder Reisebüros fanden, ergab das Gesamtbild plötzlich deutlich mehr Sinn.
Insgesamt kann ich nach einem Monat das Fazit ziehen, dass ich mich bisher nicht nur sehr wohl, sondern auch zu jedem Zeitpunkt sicher gefühlt habe. Auch in der Nacht ist es keinerlei Problem, sich in der Innenstadt auf der Straße zu bewegen, wobei ich die Atmosphäre hierbei zu jedem Zeitpunkt als sehr entspannt und angenehm wahrgenommen habe.
An jenem Wochenende, an dem mich Julia besuchen kam, war auch der „día del peatón“ (Tag des Fußgängers), an welchem in der Stadt weder Autos noch Busse fahren durften. Darüber hinaus fand anlässlich dieses Tags ein riesiges Straßenfest statt. Nicht nur jeder einzelne Laden Cochabambas hatte hier einen Stand, sondern darüber hinaus auch alle möglichen staatlichen oder politischen Organisationen wie Behörden, die Polizei oder die Universitäten. Darüber hinaus boten beispielsweise viele Tanz- und Sportschulen angeleitetes Tanzen an und die örtliche Wasserversorgung bot Groß und Klein die Möglichkeit, sich mit etwas Wasser abzukühlen. Gefühlt war die gesamte Stadt auf den Beinen und ich muss zugeben, dass mich die Atmosphäre an diesem Tag aufs Neue sehr positiv beeindruckt hat.
Gemeinsam mit Julia bin ich mit der Seilbahn auch auf den Berg gefahren, auf dem sich das Wahrzeichen Cochabambas, der „Cristo“, befindet. Die Christusstatue ist die zweithöchste der Welt und von ihr aus bietet sich ein spektakulärer Ausblick über die gesamte Stadt.
Ein weiteres sehr nervenaufreibendes und zeitintensives Thema, dass mich teilweise an den Rande des Wahnsinns gebracht hat, war in den ersten Wochen die Beantragung des Arbeitsvisums für ein Jahr, und das bleibt es auch weiterhin, denn das Visum wurde mir nach wie vor noch nicht erteilt. Über den gesamten Prozess werde ich ausführlicher berichten, nachdem mir das Visum hoffentlich im Laufe der nächsten Woche ausgestellt wurde.
Über das letzte, lange Wochenende habe ich Cochabamba auch erstmals verlassen und bin nach La Paz geflogen. Auch über meine Eindrücke während dieser Reise werde ich in einem kommenden Blogeintrag noch berichten.
Ich will ganz ehrlich sein. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, schon viel früher und ausführlicher nicht nur von meinen Erlebnissen und Erfahrungen in den ersten Woche in Bolivien, sondern auch von meinem Vorbereitungsseminar am Werbellinsee zu berichten. Im assoziativen Schreiben wollte ich mich üben und das Lesen meines Blogs so spannender machen. Am Ende ist es nun aber doch anders gekommen, denn die letzten vier Wochen waren vor allem eins: Absolut vollgepackt mit Neuem. Sich einige ruhige Stunden zu nehmen, um einen Blogeintrag zu schreiben, bleibt hier selbstverständlich schnell auf der Strecke. Ich will es nun jedoch endgültig versuchen und nun erstmals auf diesem Blog von einigen meiner Erfahrungen der letzten Wochen berichten.
Eine kleine Ankündigung schon vorweg: Yuqi, eine meiner Mitfreiwilligen aus La Paz, und ich werden bald unsere erste Podcastfolge veröffentlichen und hier an dieser Stelle in einem anderen Format über unsere Zeit in Bolivien berichten und reflektieren. Mehr hierzu folgt in Kürze (und dieses Mal wirklich!!).
Ich denke, ich kann jenen Moment, an dem Bolivien für mich vom Plan, vom Traum zur Realität wurde, relativ genau benennen: Während ich an jenem Freitagabend vor nun knapp drei Wochen am Berliner Hauptbahnhof stehe und auf meinen ICE nach München warte, wird es mir endgültig klar: Du fliegst jetzt nach Bolivien. Immer schien mir dieser Moment sehr weit entfernt, am Ende ließ es das zehntätige Vorbereitungsseminar noch so wirken, als würde er nie kommen. Doch nun gab es nichts mehr dergleichen. Next stop: Bolivia.
Die Jugendherberge am Werbellinsee (Der Eigenname „Seezeit-Resort“ weckt meiner Meinung nach Assoziationen, die mit der Realität wenig zu tun haben) befindet sich mitten in Brandenburg. Voller Energie, Vorfreude und Motivation, aber bestimmt auch mit ebenso vielen Fragen und einer gewissen Nervosität waren wir, die knapp 150 Freiwilligen der März-Ausreise 2023 von Kulturweit, zehn Tage zuvor an diesem Ort angekommen.
Das Seminar am Werbellinsee, das waren zehn sehr intensive Tage, die vom ersten bis letzten Atemzug mit Programm und Networking gefüllt waren. In etwa die Hälfte der Zeit verbrachten wir dabei in unseren Homezones. Meine bestand aus den Freiwilligen, die nun nach Costa Rica, Mexiko und natürlich Bolivien ausgereist sind. Ich muss sagen, dass dieser Aspekt des Seminars mir am besten gefallen hat. In unserer tollen Gruppe fühlte ich mich während des Seminars wirklich sehr gut aufgehoben und wohl.
Natürlich wurden wir während des Seminars erneut über alle möglichen organisatorischen, rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen unseres Freiwilligendiensts informiert. Hinzu kamen beispielsweise Sprechstunden mit unserer Versicherung sowie dem Kulturweit-Team. Der Schwerpunkt des Seminars lag jedoch auf Themen wie (Wahrnehmung von) Kultur,(Post-)Kolonialismus, globalen Machtdifferenzen, Diskriminierung, fairem Berichten, der eigenen Rolle als Freiwilliger oder beispielsweise auch Konfliktmanagement. Zumindest war dies der Anspruch des Seminars an sich selbst, den es, so zumindest meine Meinung, nur teilweise erfüllen konnte. Gerade hinsichtlich meiner Rolle als Freiwilliger im Gastland und Themengebieten wie dem fairen Berichten sind meinerseits bis zum Ende des Seminars Fragen offen geblieben, auf die ich keine hinreichende Antwort gefunden habe. Darüber hinaus fand in unserer Homezone kaum regionenspezifische Vorbereitung statt, beispielsweise hätte ich mich auf dem Seminar gerne noch deutlich intensiver mit der Geschichte des Kolonialismus in Lateinamerika auseinandergesetzt.
Inhaltlich waren für mich die Workshops und Reflexionsräume am wertvollsten, bei denen ich selbst aus einem zumeist breit gefächerten Angebot an Themen wählen konnte. So besuchte ich exemplarisch einen Reflexionsraum zu meinem eigenen Weißsein, ein für mich leider gänzlich neues Thema. Ebenfalls sehr bereichernd waren für mich die Workshops über globale Megatrends und Verschwörungstheorien.
An einem Tag galt es in den Homezones, innerhalb weniger Stunden ein eigenes Projekt durchzuführen. Hierbei haben Ida, Yuqi und ich uns zusammengetan und einen kurzen Podcast über Simon Bolívar produziert. Obwohl die Zeit sehr knapp bemessen war (15 Minuten vor Abgabefrist war das Schnittprogramm heruntergeladen…) kann sich das Ergebnis meines Erachtens dennoch sehen lassen. Den Podcast könnt ihr hier nachhören.
Die Aufbruchsstimmung unter uns 150 Freiwilligen habe ich in dieser Form noch nie erlebt. Jede*r reißt in ein anderes Land, in eine andere Einsatzstelle, und hatte während der Vorbereitung gänzlich verschiedene Herausforderungen zu bewältigen. Obwohl man sich vermutlich in Zukunft nicht mehr (und erst Recht nicht während des Freiwilligendienstes) begegnen wird, war es unglaublich bereichernd, sich mit all den Menschen auszutauschen, die nun beispielsweise nach Vietnam, in die Mongolei, nach Ägypten, nach Rumänien, in den Senegal oder nach Brasilien ausgereist sind.
Die zehn Tage am Werbellinsee sind meiner Wahrnehmung nach blitzschnell verflogen. Auf fast unheimliche Art und Weise blendete ich über zehn Tage fast alles aus, was sich außerhalb dieses Mikrokosmos‘ abspielte. Fast schien es mir, als sei ich schon ein Stück weit während dieser zehn Tage ausgereist. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge machten wir uns am Ende des Seminars auf den Heimweg. Einerseits war man nun endgültig in erwartungsvoller Vorfreude hinsichtlich der unmittelbar bevorstehenden Ausreise, andererseits musste man sich viel zu früh von so vielen großartigen Menschen verabschieden, die man doch gerade erst kennengelernt hatte.
Mit einem großen Schatz an neuen Erfahrungen, Erkenntnissen und neuen Kontakten machte ich mich nun auf den Rückweg nach München. Doch nicht nur dies, auch den sich über zehn Tage erheblich angestauten Schlafmangel und ein deutliches Krankheitsgefühl nahm ich mit nach Hause.
Spätabends in München angekommen, blieb mir nun noch ein Tag in meiner Heimatstadt. An diesem galt es, sehr schnell zu waschen und umzupacken, sodass ich rechtzeitig bereit für die große Reise war. Am Nachmittag verabschiedete ich mich von einer letzten Freundin, Nike, wobei wir noch einmal einen Spaziergang durch unser Stadtviertel unternahmen und ich mich von einigen prägenden Orten (beispielsweise meiner ehemaligen Schule) verabschiedete (ja, ich lege es schon auch darauf an, derlei Momente pathetisch aufzuladen…). Spätestens jetzt empfand ich ein krasses Gefühlschaos, die Situation war für mich mehr als surreal. Noch nie hatte ich länger als drei Wochen im Ausland verbracht, nun auf einmal sollte ich für ein Jahr in einem mir völlig unbekannten Land auf einem mir unbekannten Kontinent leben. Und so floss an diesem Tag endgültig auch die ein oder andere Träne. Nach einem letzten Abendessen mit meiner Familie ging ich früh schlafen (der Schlafmangel der letzten Tage machte es möglich), denn am nächsten Tag klingelte um 4 Uhr morgens der Wecker.
Ich rechne es meiner Familie sehr hoch an, dass sie es sich antaten, mich zu dieser Unzeit an den Flughafen zu begleiten. Fast etwas peinlich ist mir, dass ich an jenem morgen exzeptionell lang am Check-In warten musste, und für den eigentlichen Abschied nur noch wenige, eher hektische Minuten blieben. Aber so war es nunmal. Zeit für ein letztes Selfie blieb aber dennoch. Für mich war dieser Moment bei weitem am emotionalsten und schwierigsten, beim Schreiben dieser Zeilen habe ich wieder Tränen in den Augen. Aber es half alles nichts, ein Flugzeug nach Paris wartete auf mich. Passenderweise war ich noch nie so knapp bei einem Flug, noch während ich bei der Sicherheitskontrolle war, ertönte der Boardingcall. Schnell war auch ich im Flugzeug und noch schneller war ich auch schon am Flughafen Charles-de-Gaulle in Paris. Nachdem ich hier fast fünf Stunden verbracht hatte (wovon ich zwei Stunden in Schlangen der Ausreise wartete, merci, Paris Aéroport…) trat ich meinen längsten Flug an, der mich in 12 Stunden nach Panama-City führte.
Ich bin fast nie krank. Jedenfalls würde ich das von mir selbst behaupten. Doch irgendwie hat mein Körper ein Talent dafür, mich in den Situationen, in denen es darauf ankommt, dann doch im Stich zu lassen. Besonders bei Langstreckenflügen scheint dies der Fall zu sein, bei vier von fünf, die ich bis jetzt in meinem Leben absolviert habe, war ich mehr oder weniger krank. Selbstverständlich war dem nun auch bei meiner Anreise nach Bolivien so. Besonders auf dem Flug nach Panama-Stadt merkte ich nun wieder ein deutliches Krankheitsgefühl, was es mir (in Kombination mit vermutlich ungesunden Mengen an Melatonintabletten) ermöglichte, eine für mich rekordverdächtige Zeit des Flugs mit Schlafen zu verbringen. Ich hatte im Vorfeld große Sorge über die mit dieser 30-stündigen Reise einhergehende Belastung, doch am Ende war es dann doch weniger schlimm als gedacht. Spätestens ab Panama-City sorgte die Müdigkeit dafür, dass ich eigentlich gar nicht mehr so viel aktiv mitbekam.
Nun war der Moment gekommen: Ich bestieg ein Flugzeug nach Bolivien, nach Santa Cruz. Nach dem immerhin rund fünfstündigen Flug nach Santa Cruz de la Sierra setzte unser Flugzeug gegen vier Uhr morgens Ortszeit zur Landung in Bolivien an. Nun galt es seine letzten Kraftreserven zusammenzunehmen und sich in die Schlange zur Migración, der Einreise, einzureihen. Nach über 1,5 Stunden des Wartens war schließlich ich an der Reihe.
Tatsächlich verbrachte ich auch deutlich mehr als fünf Minuten am Einreiseschalter, da es aufgrund meines mehr als drei Monate alten Visums zu Konfusion kam und man mich zuerst zum erneuten Bezahlen des Visums aufforderte. Nachdem dies mit einem weiteren Beamten geklärt war, musste ich dem Grenzschützer noch einige Dokumente vorlegen, exemplarisch meine Verträge und meine Airbnb-Bestätigung. Ganz unschuldig am Ablauf meiner Einreise bin ich jedoch auch nicht, da ich in diesen Minuten realisierte, das bolivianische Adresssystem nicht richtig durchschaut zu haben (mittlerweile weiß ich, dass es irgendwie auch kein System gibt bzw. mehrere Systeme parallel zueinander existieren). Somit konnte ich, was wirklich ungünstig und für mich sehr untypisch ist, die Frage, wo ich denn nun wohnen würde, nur unzureichend beantworten, was den Beamten sichtlich störte. Vermutlich muss ich in diesem Moment jedoch einen sehr hilflosen Eindruck gemacht haben, weswegen der Beamte schließlich doch den Einreisestempel in meinen Reisepass haute.
Da war ich nun, in diesem Bolivien. Also fast. Zumindest war ich in der kleinen Ankunftshalle des Flughafens in Santa Cruz. Sofort besorgte ich mir erste Bolivianos (die bolivianische Währung) sowie eine Sim-Karte. Zufällig traf ich einen Mitfreiwilligen sowie später noch zwei andere Freiwillige meiner Organisation, die aus Madrid kamen und nach La Paz weiterreisten.
Nun galt es lediglich noch, einen letzten Flug hinter sich zu bringen. Wobei dies eigentlich der falsche Ausdruck ist, denn für mich war der Flug mit der staatlichen Fluggesellschaft Boliviens, der BoA (Boliviana de Aviación) und deren museumsreifem Flugzeug, ein ganz eigenes Erlebnis. Daneben konnte ich vom Himmel aus die atemberaubende bolivianische Landschaft beobachten. Nach etwas mehr als einer halben Stunde begab sich das Flugzeug bereits in seinen Landeanflug nach Cochabamba, wobei es sehr dicht an den hohen, diese Stadt umgebenden Bergen vorbeiflog.
Und nachdem wir über Cochabamba eingeschwebt waren, landete ich in meiner Heimat für das nächste Jahr…
Die Fortsetzung dieses Blogeintrags über meine ersten Wochen in Cochabamba veröffentliche ich sehr bald!
Simon Bolívar gilt heute als eine der wichtigsten historischen Personen Lateinamerikas. Doch das durchweg positive Bild des Namenspatrons Boliviens begann in den letzten Jahren zunehmend zu bröckeln – neben Bolívars großen Verdiensten für Unabhängigkeit und Demokratie in Lateinamerika werden nun auch seine autoritären Tendenzen sowie die von ihm zu veratwortenden Gräueltaten diskutiert. Doch wer war Simon Bolívar, was trieb ihn an und wie wird er heute in Lateinamerika wahrgenommen? Welche Spuren seines Wirkens finden sich noch heute in Bolivien? Mit diesen Fragen beschäftigen sich in unserer ersten Podcastfolge die Kulturweit-Freiwilligen Yuqi, Julius und Ida, die in wenigen Tagen Ihren Freiwilligendienst in Bolivien und Costa Rica beginnen werden.
Eigentlich war alles klar. Bereits Ende des Jahres 2021 hatte ich mich unter anderem bei Kulturweit für einen Freiwilligendienst im Ausland beworben. Nach einem langen Bewerbungsprozess wurde mir im April 2022 schließlich fest ein Platz für ein FSJ an der Deutschen Schule in Puerto Montt, Chile zugesagt. Hochmotiviert und voller Vorfreude stürzte ich mich in die Vorbereitungen: Verträge wurden unterschrieben, Versicherungen abgeschlossen, Flüge gebucht, ausführliche Untersuchungen und Impfungen durchgeführt, ein für Chile kompatibles Bankkonto eröffnet, Bücher über die Geschichte und Gesellschaft des Landes gelesen, eine WG organisiert und vieles mehr, das an dieser Stelle den Rahmen sprengen würde.
Und dann war da noch eine Sache: Das Visum. Bereits nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass dessen Beantragung eine besondere Herausforderung werden würde. Da Chile im Frühjahr 2022 sein System zur Visavergabe in Gänze und offensichtlich überhastet umgestellt hatte, gab es nunmehr lediglich die Möglichkeit, Visa für Chile auf einer neuen, zentralen Website zu beantragen. Dies klang zuerst nach einem einfachen und klar strukturierten Prozess, jedoch war die Bedienung der Website allein aufgrund ihrer hohen Anzahl an Fehlfunktionen eine nicht unbeträchtliche Herausforderung. Hinzu kam, dass auf den Regierungsseiten keinerlei Informationen zur Beantragung von Visa für Freiwillige zur Verfügung gestellt wurden und es darüber hinaus auch keine Möglichkeit gab, die zuständigen Stellen zu kontaktieren. Auch das chilenische Konsulat in München zeigte sich weder bereit noch fähig zur Hilfe oder Herausgabe von Informationen.
Nachdem ich den Unterschied zwischen Vorbeglaubigung, Beglaubigung, Überbeglaubigung, Endbeglaubigung, Legalisation und Apostille verstanden hatte, versuchte ich aller Widrigkeiten zum Trotz, mich durch den Prozess der Beantragung des Visums zu kämpfen. Nach 5 Wochen intensiver Arbeit, welche darüber hinaus mit meiner Abiturphase zusammenfiel, konnte ich den Antrag endlich abschicken.
Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: Auch Kulturweit war die Problematik bewusst, jedoch konnten auch durch die Organisation keinerlei gesicherte Informationen darüber erlangt werden, ob und wie Visa für Freiwillige vergeben werden. Auch das Auswärtige Amt sowie die Deutsche Botschaft in Santiago de Chile zeigten sich nach dem fehlgeschlagenen Versuch des Kontaktierens der zuständigen chilenischen Behörden ratlos.
Trotz der Unwägbarkeiten dachte ich nach Beantragung des Visums, dass es an dieser Formalie nicht scheitern würde. Immerhin hatte ich den Antrag bereits im Mai abgeschickt und die Ausreise sollte erst Mitte September stattfinden. Doch es sollte anders kommen: Während eines Ausflugs mit meinen Großeltern nach Limburg an der Lahn erreichte mich nichtsahnend eine E-Mail von Kulturweit. Die Ausreise nach Chile war aufgrund der unklaren Situation hinsichtlich der Visavergabe abgesagt.
Für mich war diese Nachricht nichts anderes als ein Schock, zumal sich meine eigentlich sicheren Pläne für die nahe Zukunft vom einen Moment auf den anderen in Luft auflösten. Hinzu kam die große Menge an Zeit, Geld und Kraft, die ich bereits in die Vorbereitungen für das FSJ in Chile investiert hatte. Kulturweit bot zwar Alternativstellen in einigen osteuropäischen Ländern an, jedoch wurde mir persönlich schnell bewusst, dass es sich hierbei für mich um keine adäquate Alternative handelt. Dies liegt nicht nur daran, dass es mir sehr wichtig ist, im Rahmen des Auslandsjahrs vorhandene Sprachkenntnisse im Spanischen oder Französischen zu verbessern, sondern auch daran, dass man an einem solchen Programm nur einmal in seinem Leben teilnehmen kann und ich diese großartige Möglichkeit gerne bestmöglich nutzen würde. Dies bedeutet für mich, dass ich in ein Land außerhalb von Europa gehe, da es beispielsweise während des Studiums eine Vielzahl von anderen Möglichkeiten gibt, Zeit im europäischen Ausland zu verbringen.
Somit begab ich mich auf die Suche nach Alternativen. Direkt zu studieren kam und kommt für mich nicht in Frage, da ich das Jahr im Ausland gerne auch dazu nutzen würde, über meinen weiteren Weg zu reflektieren. Auf meiner Suche stieß ich schnell auf einige Restplätze des Weltwärts-Programms, welche noch kurzfristig zu besetzen waren. Die Stelle in Puyo, Ecuador sprach mich aufgrund ihrer inhaltlichen Nähe zu meiner ursprünglichen Stelle in Chile besonders an, da ich hier nicht nur an einer Schule arbeiten kann, sondern darüber hinaus die Möglichkeit zum Verbessern meiner Kenntnisse im Spanischen besteht. Des Weiteren ist Ecuador sowohl geographisch als auch gesellschaftlich und kulturell ein äußerst diverses und spannendes Land.
Somit war für mich sehr schnell klar, dass ich mich auf diese Stelle bewerben würde und noch am selben Tag schickte ich eine erste Anfrage an die Organisation. Daraufhin folgte ein sehr kurzes und pragmatisches Bewerbungsverfahren. So kam es, dass zwischen der ersten Anfrage und der offiziellen Zusage nur etwas mehr als eine Woche lag. Trotz allem ließ ich mich – sozusagen als Backup – von Kulturweit in den Bewerbungsprozess der Ausreise im März 2023 aufnehmen. Dies sollte im weiteren Verlauf des Geschehens noch wichtig werden.
So machte ich mich erneut an alle Vorbereitungen und stürzte mich in die Organisation des neuen Auslandsjahrs. Hier erneut die erste Priorität: Die Beantragung des Visums.
Doch es sollte anders kommen – ich hatte ja noch eine letzte Option in der Hinterhand. Sechs Wochen später traf ich die Entscheidung, mein geplantes Auslandsjahr in Ecuador abzusagen und dafür ein Angebot für einen Platz für einen Freiwilligendienst mit Kulturweit in Bolivien ab März 2023 anzunehmen, welches mir Ende Juli 2022 unterbreitet wurde.
Nachdem mein eigentlich geplanter Freiwilligendienst in Chile abgesagt werden musste, war ich sehr verzweifelt und versuchte innerhalb kürzester Zeit – aus einem zu diesem Zeitpunkt bereits sehr beschränkten Angebot – eine Alternative zu finden. Auf den ersten Blick erschien mir die Stelle in Ecuador als nahezu perfekt. Aufgrund des Mangels an Alternativen sowie von ausreichend Zeit zur Reflexion bin ich jedoch über einige erhebliche Nachteile der Einsatzstelle in Puyo hinweggegangen, deren große Bedeutung mir erst in den folgenden Wochen der deutlich intensiveren Vorbereitung auf den Freiwilligendienst bewusst geworden ist.
Der krasse Kontrast zu meiner aktuellen Lebenswelt in Deutschland, welcher die Stadt Puyo mit ihren 30.000 Einwohnern dargestellt hätte, ist für mich prinzipiell kein Problem. Jedoch wurde mir während meiner Vorbereitungen sukzessive bewusst, dass besonders die abgeschiedene Lage Puyos im Amazonas für mich eine große Herausforderung dargestellt hätte, denn sie führt dazu, dass selbst Reisen in benachbarte, größere Städte sehr beschwerlich und zeitaufwändig sind, ganz zu schweigen von Reisen nach Quito oder in benachbarte Länder der Region. Darüber hinaus hätte aus der obligatorischen Unterbringung in einer Gastfamilie eine für mich erhebliche Einschränkung meiner persönlichen Freiheit resultiert. Natürlich kann man mit einer Gastfamilie sehr viel Glück haben – zusätzlich kann sie den Anschluss an die lokale Bevölkerung sehr erleichtern – jedoch kann sie einem auch bedingungslose Anpassung und die Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse abverlangen. Vor diesem Szenario hatte ich erhebliche Sorgen, insbesondere, da ich weder Einfluss auf die Auswahl meiner Gastfamilie noch die Garantie auf ein eigenes Zimmer hatte. Auch wurde mir deutlich gemacht, dass ein Wechsel der Gastfamilie nur im absoluten Ausnahmefall möglich ist.
Da ich mir von meiner Teilnahme an einem Freiwilligendienst im Ausland auch einen gewissen Grad an persönlicher Freiheit verspreche, konnte ich mich mit diesen Gegebenheiten nie wirklich abfinden. Insbesondere im Vergleich mit dem Programm von Kulturweit, im Rahmen dessen eine eigenständige Unterbringung – beispielsweise in einer WG – möglich und zumeist auch vorgesehen ist, erschien mir das Leben in einer Gastfamilie in Puyo zunehmend unattraktiv.
Darüber hinaus hätte ich in Puyo nicht etwa Deutsch, sondern Englisch unterrichtet, eine Tätigkeit, für die ich mich weder besonders motiviert noch qualifiziert fühle. Ich konnte den tieferen Sinn, einen Deutschen nach Ecuador zu fliegen, um Ihn dort Englisch unterrichten zu lassen, nie vollkommen verstehen, zumal der Fokus des Programms meiner Wahrnehmung nach somit nicht auf der interkulturellen Begegnung und Kommunikation lag.
Hier hat Kulturweit als Kulturfreiwilligendienst einen fundamental anderen Ansatz, da es sich um ein Bildungsprogramm handelt, bei dem der Fokus primär auf dem interkulturellen Lernen liegt.
Des Weiteren war ich zu keinem Zeitpunkt zufrieden mit der Kommunikation, Organisation und Unterstützung meiner entsendenden Organisation und fühlte mich z.T. schlecht informiert, auch und insbesondere auf Nachfrage. Auch verunsicherte mich erheblich, dass ich zu keinem Zeitpunkt ausführlichere Informationen zu meiner Einsatzstelle oder einer Kontaktperson an der Schule in Puyo erhalten habe. Ebenfalls problematisch und unübersichtlich war die Situation hinsichtlich der Beantragung des notwendigen Visums. Obwohl sich nicht ansatzweise abzeichnete, dass ich das Visum rechtzeitig erlangen könnte, verweigerte meine Organisation ein Verschieben des Starttermins offensichtlich und erwartete hinsichtlich der Beantragung des Visums von mir in dieser kurzen Zeit Unerwartbares und Unerreichbares, was mich unter großen Druck und Stress setze, insbesondere, da meine Ausreise in Chile bereits an ebenjener Herausforderung gescheitert war.
Zusätzlich zu diesen handfesten Argumenten für eine Absage des Auslandsjahrs kam ein äußerst schlechtes Bauchgefühl. Vor meiner Entscheidung habe ich zu keinem Zeitpunkt Vorfreude auf den Freiwilligendienst in Ecuador verspürt, ein Zustand, der für mich äußerst untypisch ist. Stets hatte ich gehofft, dass sich dies mit Voranschreiten der Organisation und Näherrücken des Termins der Ausreise noch verändern würde, jedoch wurde meine innere Ablehnung gegen das Jahr in Ecuador mit jedem Tag der Vorbereitung, mit jedem Tag, an dem meine Vorstellung des Aufenthalts in Ecuador konkreter wurde, größer. Insbesondere hinsichtlich der Anfangszeit eines Freiwilligendiensts auf einem anderen Kontinent ist es jedoch äußerst wichtig, hochmotiviert zu sein, um die notwendige Kraft für die Vielzahl der auftretenden Herausforderungen sozialer, beruflicher und sprachlicher Natur aufbringen zu können.
Bekanntlich sind ja aller guten Dinge drei, nun werde ich also im März 2023 mit Kulturweit nach Cochabamba in Bolivien auszureisen. Da Cochabamba eine große Universitätsstadt mit ca. 800.000 Einwohnern ist und ich dort an einer deutschen Schule die Fachschaft Deutsch unterstützen kann, hat mich das neue Angebot sofort überzeugt und in große Vorfreude versetzt. Darüber hinaus fühle ich mich mit der großen, sehr professionellen Organisation Kulturweit äußerst wohl, stets bis ins letzte Detail informiert und gut unterstützt, das kann ich sagen, da ich mit dieser Organisation bereits mehrere Monate lang mein nicht an Kulturweit, sondern an den Behörden gescheitertes Auslandsjahr in Chile vorbereitet habe. Hinzu kommt, dass Kulturweit der am stärksten staatlich geförderte Freiwilligendienst ist und das Programm somit auch hinsichtlich der (finanziellen) Leistungen für die Freiwilligen das attraktivste überhaupt ist. Auch die Kooperation Kulturweits mit seinen Partnerorganisationen, beispielsweise dem Auswärtigen Amt oder dem Pädagogischen Austauschdienst (PAD) ist für mich persönlich sehr attraktiv, ebenso wie die großartigen Seminare bei Berlin und in der Einsatzregion sowie die vielen Möglichkeiten, auch als Alumnus des Programm von einem Vielfältigen Angebot an Seminaren, Workshops und Möglichkeiten des Austauschs zu profitieren und sich weltweit zu vernetzen.
Es kommt wie es kommt, und garantiert anders als gedacht: Dies musste auch ich immer wieder aufs Neue während der fast 1,5 Jahre lernen, in denen ich mich auf mein FSJ in Bolivien vorbereitet habe. Eine kleine Sache muss ich jedoch noch erwähnen: Das Visum für Chile habe ich am 2. September, also pünktlich zu meiner eigentlich geplanten Ausreise erhalten. Das half mir dann aber auch nicht mehr…