Die Sache mit dem Visum

Das Lesen des folgenden Artikels mag für einige Lesende vermutlich anstrengend und ermüdend sein. Ich will es mir jedoch nicht nehmen lassen, über meine Erfahrungen bei der Beantragung des Visums zu berichten, da dies neben meiner Arbeit an der Schule wohl die für die ersten sechs Wochen in Bolivien prägendste Herausforderung war. Für mich, der mit dem großen Privileg aufgewachsen ist, im Besitz einer deutschen und europäischen Staatsbürgerschaft zu sein – und dies in Zeiten des Schengener Abkommens, der Freizügigkeit innerhalb Europas sowie der Möglichkeit, mit dem deutschen Pass in sehr viele Länder der Welt visumsfrei einzureisen, ist die Beantragung einer solchen Aufenthaltsgenehmigung außerdem eine vollkommen neue Erfahrung.

Bolivien ermöglicht es aus Deutschland heraus lediglich, ein Visum für die ersten 30 Tage zu beantragen. Vor Ort folgt nicht etwa die unkomplizierte Verlängerung desselben, sondern ein vollkommen neuer, alles in Deutschland übertreffender Prozess. Nicht nur aus diesem Grund, sondern noch vielmehr, da meine ursprünglich für September 2022 mit Kulturweit geplante Ausreise nach Chile ohne jegliche Mitschuld meinerseits aufgrund der Situation hinsichtlich des Visums abgesagt werden musste, war dieses Thema für mich von Beginn an besonders sensibel und mit großem Stress behaftet.

Somit machte ich mich schon im letzten Oktober an die Beantragung des „visa de objeto determinado – trabajo“ für die ersten 30 Tage, welches bei der bolivianischen Botschaft in Berlin zu beantragen ist. Hierbei war der Prozess recht unkompliziert, vier Wochen und drei Anrufe bei der Botschaft später hielt ich mein Visum in den Händen.

Fünf Monate später. Bereits am ersten vollen Tag in Bolivien traf ich mich mit meiner Tramitadora (kostenpflichtige Hilfe bei der Visumsbeantragung) und wir besprachen das Vorgehen in den nächsten fünf Wochen. Am Anfang war ich sehr froh über diese Hilfe und die Sicherheit, die M. mir gab, jedoch verkehrte sich dieses Gefühl mit allem, das im Folgenden schief gehen sollte, ins Gegenteil.

Bevor wir zur Migración – der Einwanderungsbehörde Boliviens – gehen konnten, mussten noch einige Dokumente organisiert werden. Der erste große „Behördengang“ stand in der zweiten Woche an: Der Besuch beim Amtsarzt im Polizeikrankenhaus. Mein Respekt vor diesem Termin war bereits sehr groß, jedoch steigerte er sich noch weiter, als ich die vielen Menschen in Uniform sah, die in diesem Krankenhaus arbeiteten. Zusätzlich merkte man an jeder Ecke, dass es dort an Geld und moderner Ausstattung fehlt. Eigentlich ist es unbegründet, aber die Tatsache, dass ich beim Warten zufällig dem Morgenapell der Belegschaft beiwohnte, vermochte es ebenfalls nicht, mir etwas meiner Nervosität zu nehmen. Ich empfinde es als fragwürdig, dass im Rahmen dieses Termins nicht nur eine Urinprobe durchgeführt, sondern darüber hinaus auch Blut abgenommen und eine verpflichtende Röntgenaufnahme des Thorax durchgeführt wurde, zumal ich die Relevanz für das Visumsverfahren nach wie vor nicht als gegeben ansehe. Nach einer eingehenden Untersuchung und einem Anamnesegespräch mit einem Amtsarzt hielt ich dann einen Tag später mein notwendiges medizinisches Zertifikat in den Händen.

Im weiteren Verlauf der Woche organisierte ich bei der Verwaltung meiner Schule die „certificación de voluntariado“ (Zertifikat für den Freiwilligendienst) sowie den „convenio privado de colaboración“ (privater Vertrag zwischen Schule und mir). Aber nicht nur dies, darüber hinaus wurde eine Kopie des Personalausweises des Schulleiters sowie sein „poder“ (ca. 17-Seitiges notarielles Dokument, welches bestätigt, dass der Schulleiter seine Position rechtmäßig innehat) sowie eine Registrierungsurkunde der Schule benötigt. Dies alles ist jedoch leichter gesagt als getan, denn die Verwaltung meiner Schule wusste zumeist nicht genau, was ich von ihr wollte. Infolgedessen taten sich immer wieder neue Fehler auf, die ich beheben musste.

Nachdem mein Führungszeugnis aus Deutschland aufs Neue übersetzt war (die Übersetzung aus Deutschland wurde aus mir unerfindlichen Gründen nicht akzeptiert; wieder einmal 75 Euro zum Fenster herausgeschmissen) musste es noch vom deutschen Honorarkonsul in Cochabamba legalisiert werden. Nun musste die Übersetzung nochmals von bolivianischer Seite legalisiert werden. Meine Tramitadora schrieb mir eine halbe Stunde vor einem unserer Treffen, dass die dafür zuständige „Cancillería“ für diesen Stempel nun auf einmal doch 100 Dollar statt der angekündigten 50 Dollar verlange. Es soll jeder seine eigenen Schlüsse ziehen, aber dies Geschah zu einem Zeitpunkt, an dem Dollar in Bolivien aus wirtschaftlichen Gründen de facto nicht bei einer Bank oder in einer Wechselstube zu bekommen waren. Somit blieb mir nichts anderes übrig, als zu einem grausamen Wechselkurs Dollar bei einem alles andere als vertrauenserweckenden Straßenstand mit der Aufschrift „Dolares“ zu kaufen. Zusätzlich fragwürdig erscheint es mir, dass man lediglich für die Zahlung in Bolivianos eine Rechnung erhält, nicht aber für die Gebühr in Dollar.

Darüber hinaus musste ich beim Notar eine Erklärung zu meinem Freiwilligendienst sowie der Quelle meiner Einkünfte abgeben und die Migración verlangt die Kontoauszüge der letzten drei Monate, was ebenfalls kein unerheblicher Eingriff in die Privatsphäre ist – immerhin kann man darüber de facto mein gesamtes Leben der letzten drei Monate nachvollziehen. Außerdem forderte die Migración eine Kopie meiner Kreditkarte sowie Kopien der Personalausweise meiner Eltern. Soweit zumindest der damalige Stand.

Nach erneuten gravierenden Problemen mit den Dokumenten meiner Schule stand am nächsten Tag der erste Besuch in der Migración an. Dorthin zu gelangen war jedoch bereits eine große Herausforderung, da ein Großteil des Verkehrs in Cochabamba aufgrund umfangreicher Straßenblockaden, den „bloqueos“, an diesem Tag stillgelegt war. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Wartens kamen wir an die Reihe. Mit höchster Akribie kontrollierte der Beamte jede einzelne Information der zahllosen Dokumente. Es schien fast zu gut um wahr zu sein: Der Beamte hatte nichts auszusetzen und forderte mich zur Zahlung des Visums (immerhin fast 175 Euro) auf.

Ich dachte in diesem Moment aufgrund der so genauen Kontrolle, dass ich es wirklich geschafft hätte. Nun stand jedoch eine zweite Kontrolle an. Nach wenigen Sekunden merkte ich hier, dass etwas nicht stimmte. Ich war in diesem abgetrennten Raum alleine und musste ohne meine Tramitadora dabei zusehen, wie mein Reisepass und mein Visum wild in privaten Whatsapp-Chats herumgeschickt wurde. Zuerst ging es generell um die Frage, ob mein Visum nicht schon bei der Einreise abgelaufen war. Als dies jedoch für mich positiv ausging, war die Beamtin unsicher darüber, ob ich denn nun mein Visum verlängern könnte. Nach kurzer Zeit war es klar: Ich konnte mein Visum erst an Tag 20 in Bolivien verlängern. An jenem Tag war Tag 18. Ich war über diese Aussage mehr als fassungslos, da ich noch nie von einer derartigen Regel gehört hatte und der Beamte in der ersten Kontrolle sowie meine Tramitadora nichts davon gesagt hatten ­– bezahlt hatte ich ja immerhin auch schon. Nach einer gefühlten Ewigkeit bekam ich immerhin mein Geld zurück und begab mich frustriert auf den Weg nach Hause.

Warten in der Migración

Einige Tage später ging ich mit einem entspannten Gefühl in die Migración, da meine Dokumente ja bereits überprüft wurden. Dieses verflüchtigte sich bereits, als meine Tramitadora ohne Vorankündigung nicht auftauchte und ich somit alleine mit den Beamten kommunizieren musste. Obwohl der Beamte der gleiche war, der bereits wenige Tage zuvor meine Dokumente überprüft hatte, war der Ausgang ebenjener Überprüfung ein anderer. Plötzlich meinte er nun zu mir, dass ich mein Visum erst ab Tag 30, also ab Ablauf des alten Visums verlängern könnte, obwohl ich vier Tage zuvor mit der Begründung abgewiesen wurde, ich könne dies erst ab Tag 20. Ich entgegnete, dass ich dann ja illegal sei und Strafen zahlen müsste. Leicht schnippisch stimmte der Beamte mir zu. Ich hatte den Versuch enttarnt, mich in die Illegalität und damit zum Zahlen einer Geldstrafe zu treiben. Leider ist es so, dass die Beamten in der Migración von den gezahlten Geldstrafen direkt profitieren und aufgrund ihrer sehr schlechten Bezahlung auch auf diese angewiesen sind.

Schließlich fand der Beamte doch noch einen Fehler, ein Datum einer Unterschrift in einem Dokument der Schule war mehr als drei Monate alt. Dies war nichts anderes als plausibel und sehr einfach nachvollziehbar. Während ich noch versuchte, dem Beamten ebendies zu verdeutlichen, packte er mit sichtlich gestiegenem Elan wieder alle meine Dokumente zusammen. Auch wenn es im Rückblick vielleicht lächerlich wirken mag, in diesem Moment war ich bereits so nervös und fühlte mich so ungerecht behandelt und machtlos, dass ich mich sehr anstrengen musste, nicht in Tränen auszubrechen.

Mit leichter Süffisanz meinerseits kam ich bereits etwas mehr als eine Stunde später in die Migración zurück und präsentierte dem Beamten das neue Dokument. Nun gab es für ihn nichts mehr auszusetzen, ich durfte aufs Neue bezahlen, wieder ewig warten und schließlich meinen Antrag in einer weiteren Kontrolle endgültig abgeben. Mein Reisepass wurde selbstverständlich für die kommenden Wochen einbehalten – ein Umstand, der mich abermals sehr nervös machte.

So weit so gut, nun sollte man eigentlich denken, dass mein Artikel mit der unkomplizierten Abholung des Visums endet. Ab jetzt wird es jedoch erst richtig lustig.

Zwei Tage später stehe ich am Flughafen und warte auf das Boarding für meinen Flug nach La Paz, wo ich ein verlängertes Wochenende verbracht habe. Auf einmal erreichte mich ein Anruf, in der Situation konnte ich jedoch nicht abnehmen und dachte mir nichts Böses dabei. Während ich ins Flugzeug einstieg, erreichte mich jedoch über WhatsApp eine von meiner Tramitadora weitergeleitete Sprachnachricht des Beamten der Migración, der bereits mehrmals meine Dokumente überprüft hatte. Nun wurde meine Geburtsurkunde benötigt, und das sofort. Während das Flugzeug bereits zum Start rollte, suchte ich auf meinem Handy noch einen Scan meiner Geburtsurkunde heraus.

In der nächsten Woche erreichte mich dann über meine Ansprechpartnerin in der Schule die Nachricht, dass noch weitere Dokumente fehlten. Meine Tramitadora hatte mich darüber jedoch nicht informiert und versuchte auf eigene Faust, die Steuernummer meiner Schule sowie die Schulverfassung zu organisieren. Dies führte jedoch dazu, dass im ganzen Prozess fast eine Woche Stillstand herrschte und sich erst etwas bewegte, als ich die Sache selbst in die Hand nahm. Die Kommunikation mit meiner Tramitadora war hierbei – wie während des gesamten Prozesses der Visumsbeantragung – extrem schwierig, da sie sprachlich wie inhaltlich nicht bemüht war, meine Fragen verständlich zu beantworten oder mir etwas meiner Angst zu nehmen. Im Gegenteil: Meistens führte ihre mangelhafte Kommunikation bei mir zu zusätzlichem Stress, Unklarheit und damit Angst. Es machte mich verrückt, dass sie mit den Migrationsbeamten über WhatsApp über meinen Antrag kommunizierte und mich nur auf Nachfrage meinerseits vage darüber in Kenntnis setze.  Nachdem die Dokumente eingereicht waren, musste ich erneut in die Migración, um dort eine Erklärung über die „Observaciones“ (Beobachtungen) während der Bearbeitung meines Antrags zu unterschreiben. Zuvor kam es wieder einmal zu Problemen hinsichtlich lächerlicher Details: Die Migración forderte das Deckblatt der Schulverfassung. Nach Rücksprache mit der Verwaltung meiner Schule sowie einem Notar war klar, dass ein solches jedoch nicht existierte. Mit viel Überredungskunst akzeptierte die Migración das dann auch. Meine Tramitadora hatte sich aus dem Prozess nun de facto herausgenommen und begleitete mich nicht mehr zu den Terminen – obwohl ich mir dies wünschte.

Warten in der Migración

Wenn man es erstmal in den ersten Stock der Migración geschafft hat, muss schon einiges schiefgegangen sein. Dies wurde mir klar, nachdem ich bei diesem Termin 2,5 Stunden in dem engen Gang dieses unangenehmen Orts verbracht hatte und mich hierbei mit meinen Mitwartenden unterhielt. Nicht nur bei den Lehrer*innen in der Schule, auch bei meinen Mitwartenden war der Frust über die Arbeitsweise der Migración riesig. Ich unterhielt mich hierbei eingehender mit einem Bolivianer, der mir ebenfalls erzählte, dass der Frust über diese Behörde nicht nur wegen der weitverbreiteten Willkür, sondern auch der Demütigung aufgrund vernachlässigbarer Details (z.B. Überschriften von Dokumenten oder einzelne Buchstaben in Bescheinigungen) einen äußerst schlechten Ruf hat – immerhin bietet die Migración nicht nur Dienstleistungen für Ausländer, sondern auch für Bolivianer*innen an. Darüber hinaus ändern sich die Anforderungen, soweit sie denn beachtet werden, ständig (in letzter Zeit wurden sie deutlich strenger) und der Ausgang von Verfahren hängt oftmals von der Tagesstimmung eines Beamten ab. Auch die Lehrer*innen meiner Schule können mit frustrierenden Geschichten über die Migración Stunden füllen. Zumindest in der Schule meinte man auch zu mir, dass es bei mir schon wirklich schlecht gelaufen war. Normalerweise war der Prozess mit der Abgabe des Antrags abgeschlossen, was bei mir offenkundig nicht der Fall war.

Nachdem ich endlich an der Reihe war und die Erklärung unterschreiben konnte, versprach der Beamte mir, dass mein Visum am nächsten Tag fertig sein würde. Ich war mittlerweile mit den Nerven am Ende, da es sich so anfühlte, als würde das alles nie enden und die Migración immer weitere Dokumente fordern. Besonders Angst hatte ich, dass dies beispielsweise auch schwer zu beschaffende Dokumente aus Deutschland hätten sein können.

Als ich am nächsten Tag in die Migración ging, wurde ich jedoch abermals bitter enttäuscht. Entgegen der Versprechung am Tag zuvor war mein Antrag noch immer nicht fertig bearbeitet. Aufs Neue wartete ich eine ganze Weile in dem Gang, in dem ich bereits am Tag zuvor einige Stunden verbracht hatte. Es half jedoch nichts, der Verantwortliche der Migración vertröstete mich wieder auf den nächsten Tag.

Nun war ich endgültig mit den Nerven am Ende. Ich erinnere mich, dass ich in der kommenden Nacht kaum schlief. Das Visum war für mich schon immer ein absolutes Stressthema und nun schien es schlimmer als je zuvor. Aus Sorge, dass sich auch am folgenden Tag nichts bewegen würde, begleitete mich eine Lehrerin aus der Schweiz zur Migración, die bereits seit 15 Jahren in Bolivien lebt und viele eigene Erfahrungen mit dieser Behörde gemacht hat. Wir dachten uns bereits Argumentationsstrategien für das erneute Diskutieren mit dem Verantwortlichen aus. Doch das Undenkbare geschah: Mein Reisepass mit dem Visum wurde mir ausgehändigt. Es war leider der schönste Moment bis jetzt in Bolivien.

Doch damit war der Bördenmarathon noch nicht beendet, denn nun galt es, einen bolivianischen Personalausweis bei SEGIP zu beantragen. Dies ging jedoch weitestgehend reibungslos. Und nachdem aufs Neue mehrmals alle meine Fingerabdrücke genommen, Fotos von mir gemacht und ich eine saftige Gebühr bezahlte, hielt ich eine Woche später meinen Personalausweis in den Händen.

Insgesamt hat mich der Erwerb der Aufenthaltsgenehmigung(en) je nach Rechnung 600 bis 800 Euro gekostet und war alleine in Bolivien mit elf Behördengängen (plus fünf meiner Tramitadora) verbunden.

Ich hoffe, dass ich in diesem Jahr keine bolivianische Behörde mehr von innen sehen werde.

¡Laphi! – der Bolivien Podcast – Ep01: „Erste Eindrücke“

Laphi, allillanchu, hola und herzlich Willkommen zu unserer ersten Podcastfolge aus Bolivien! Wir, Yuqi und Julius, sind Mitte März mit Kulturweit nach Bolivien ausgereist. Yuqi unterstützt für 6 Monate die „Fundación para el Periodismo“ in La Paz, Julius arbeitet für 12 Monate am „Colegio Alemán Federico Froebel” in Cochabamba. Was haben wir in unseren ersten Wochen in Bolivien erlebt? Wie ist die Arbeit als Freiwillige*r im Ausland? Und natürlich am wichtigsten: Wie oft und in welcher Intensität hatten wir in den ersten Wochen Durchfall oder Atemnot? Nicht nur über diese, sondern auch über viele weitere Fragen sprechen wir gemeinsam und nehmen euch so mit auf eine kleine Reise nach Bolivien. To be continued!

Hier könnte ihr den Podcast auf Youtube anhören! 

Mein erster Monat in Cochabamba

… und dann hat es doch mehr als zwei Wochen bis zu meinem nächsten Blogeintrag gedauert. Vermutlich für die wenigsten überraschend: Ich hatte mir schon viel früher vorgenommen, über meine ersten Wochen in Cochabamba zu berichten. Nun, beim Schreiben dieser Zeilen, bin ich fast auf den Tag genau einen Monat in Bolivien und habe schon so viel erlebt, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Deswegen mache ich es mir jetzt leicht – und fange einfach von vorne an.

Noch während ich aus Santa Cruz kommend mein Gepäck abholte, sah ich meine Ansprechpartnerin meiner Schule, Sandra, in der Ankunftshalle des kleinen Flughafens auf mich warten. Ich war zu diesem Zeitpunkt tatsächlich sehr aufgeregt, meine Müdigkeit hatte sich deswegen nahezu in Luft aufgelöst. Doch die Nervosität stellte sich sehr bald als unbegründet heraus, alles funktionierte nahezu reibungslos. Da der Flughafen Cochabamba noch fast in der Innenstadt liegt, waren wir schon nach wenigen Minuten bei meiner Unterkunft angelangt.

Ein erster Blick aus meinem Zimmer.

Nach einem Monat kann ich sagen, dass mein Zimmer – zumindest für die Anfangszeit – für mich perfekt ist. Die Lage im Zentrum ist ein riesiger Luxus und ich genieße es, das erste Mal in meinem Leben fast alles innerhalb weniger Minuten zu Fuß erreichen zu können. Auch mein Schulweg nimmt nur in etwa 20 Minuten mit dem Bus in Anspruch.

Den ersten Tag nutze ich dazu, mich in meinem neuen Zimmer einzurichten und das erste Mal einkaufen zu gehen. Ich versuche hierbei wann immer es geht, auf einen kleineren Supermarkt zurückzugreifen. Mittlerweile kennen mich die Kassiererinnen hier schon und fragen mich jedes Mal ein bisschen mehr darüber aus, was ich denn in Bolivien mache. Hieran aber auch an vielen anderen kleinen Dingen in meinem Alltag merke ich, dass ich sehr auffalle. Auf diese Wahrnehmung will ich aber in einem separaten Artikel eingehen, da ich diesem komplexen Thema an dieser Stelle nicht gerecht werden kann.

Mein erster Kulturschock war relativ profan, jedoch führt dies nicht dazu, dass ich weniger geschockt wäre: Milch, Joghurt und andere Flüssigkeiten in Plastikbeuteln. Bis heute frage ich mich, wer auf die Idee gekommen ist, dass es sich hierbei um eine gute Idee handelt. Noch drängender ist aber für mich die Frage, wie ich die Milch aus diesen Plastikbeuteln in eine Flasche bekommen soll, ohne dass zwei Drittel derselben in der Spüle verloren gehen. Ich denke, ich sollte mich an dieser Stelle jedoch nicht weiter in ebenjenen Überlegungen ergehen…

An meinen ersten Tagen in Bolivien merkte ich, wie ich von Minute zu Minute kränker wurde  – ein Gefühl, welches mich in den nächsten vier Wochen noch häufiger ereilen sollte. Trotzdem wollte ich am zweiten Tag unbedingt noch mit Luisa, der Freiwilligen von Kulturweit, die bereits an meiner Schule arbeitet, essen gehen und ein wenig die Stadt erkunden. Am Nachmittag fuhren wir auch in meine Schule, damit ich mir ein erstes Bild machen konnte.

Hierbei benutze ich auch das erste Mal den ÖPNV Cochabambas. Dieser besteht aus einer Vielzahl von Trufi-Linien. Hat man Glück, wird seine Linie von kleinen Vans mit verschließbarer Tür befahren, hat man Pech, sind dies lediglich ausgebaute Autos oder Vans mit einer Tür, die immer offen steht.

Im Inneren eines Trufis.

Im Generellen sind die Sicherheitsstandards der Verkehrsmittel hier andere, beispielsweise sind in den meisten Taxis die Anschnallgurte nach hinten gebunden, sodass man sie nicht benutzen kann, und/oder ich habe die Straße zwischen meinen Füßen an mir vorbeiziehen sehen. Ebenfalls soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass das reguläre Scheinwerferlicht vieler Taxis durch ein atemberaubendes Spektakel an in allen Farben blinkender Lichter ersetzt wurde.

Aber zurück zu den Trufis: Was alle Linien gemeinsam haben ist, dass es keine Haltestellen und keinen Fahrplan im Sinne eines festen Takts gibt. So stellt man sich an die Straße und wartet, bis man irgendwann einen Bus seiner Linie sieht – ist dieser in Sicht, macht man den Busfahrer auf sich aufmerksam, woraufhin dieser stoppt. Beim Einsteigen bezahlt man pauschal zwei Bolivianos, umgerechnet sind dies weniger als 30 Cent. Will man Aussteigen, ruft man das ebenfalls dem Fahrer zu und der Bus hält an. Auch wenn es sich vermutlich nicht danach anhört, funktioniert dieses System nahezu reibungslos, obwohl es natürlich immer ein gewisses Glücksspiel ist, ob der nächste Bus in einer oder in fünfzehn Minuten kommt.

Die Plaza Colón.

An meinem ersten vollen Tag in Cochabamba liefen Luisa und ich auch über die Plaza Colón (meiner Meinung nach einer der schönsten der vielen Plätze im Zentrum Cochabambas) und den Prado, die größte Straße, die auf dem Mittelstreifen durchgängig mit Bäumen und Palmen begrünt ist und großzügige Fußgängerwege bietet. Bereits an meinem ersten Abend kam ich in den Genuss (?), eines der typisch bolivianischen Gerichte ausprobieren zu können: Pique. Wie soll ich es beschreiben…nunja… Fleisch und Fleisch mit noch mehr Fleisch, Würstchen und Pommes. Irgendwie hatte ich mir da anderes vorgestellt. Aber auch wenn es nicht von Anfang an gefunkt hat, die bolivianische Küche sollte ich in den nächsten vier Wochen noch zu schätzen und zu lieben lernen.

Der Prado bei Nacht.

Bereits am zweiten vollen Tag in Bolivien begann ich mit der Arbeit an meiner Schule. Obwohl ich vermutlich von Anfang an hätte zuhause bleiben sollen, kam dies für mich an meinem ersten Arbeitstag nicht in Frage. Man kann nicht behaupten, dass ich nicht vom ersten Moment an eingebunden worden wäre – bereits fünf Minuten nach meiner Ankunft wurde ich in eine 12. Klasse geschickt und improvisierte dort eine kleine Vertretung, bis nach ca. 25 Minuten die eigentliche Lehrerin verspätet ankam. Darüber hinaus habe ich am ersten Tag bereits Vokabeltests korrigiert und in zwei weiteren Klassen der Sekundarstufe hospitiert. Sehr dankbar bin ich darüber, dass ich bereits am ersten Tag eine kleine Schulhaustour bekommen habe und sehr vielen Mitgliedern der Schulfamilie, unter anderem der Verwaltung und dem Schulleiter, vorgestellt wurde (vermutlich habe ich noch nie so viele Hände geschüttelt wie an diesem Tag).

Blick auf den Schulhof und die Sporthalle.

Das Colegio Alemán Federico Froebel ist eine Privatschule und liegt etwas außerhalb der Innenstadt in einer eher ruhigen, sehr grünen Umgebung. Obwohl es sich um eine deutsche Schule handelt, findet der Unterricht auf Spanisch statt. Natürlich liegt ein Schwerpunkt jedoch auf dem Deutschunterricht. Das Schulgelände besteht aus einigen Gebäuden, die durch einen sehr schönen, grünen Schulhof miteinander verbunden sind, wobei der zur Schule gehörende Kindergarten räumlich von den restlichen Gebäuden abgetrennt ist. Vieles befindet sich im Freien, beispielsweise ist die „Sporthalle“ eine Decke ohne Wände und die „Gänge“ sind ebenfalls im Freien.

Eindruck vom Schulgelände.

Dies ist aber kein Problem bzw. sogar von Vorteil, da in Cochabamba tagsüber ganzjährig mindestens 25 Grad erreicht werden. Die Schüler*innen werden in festen Klassenzimmern unterrichtet, wobei Deutsch eine Ausnahme darstellt: In einem Gebäude gibt es einen eigenen Deutschtrakt, in dem jede*r Deutschlehrer*in ein eigenes Klassenzimmer hat. Darüber hinaus gibt es ein für die Deutschlehrer*innen dediziertes Lehrerzimmer. Einerseits schätze ich das Deutschlehrerzimmer sehr, da man hier immer gut aufgehoben ist. Andererseits sind die Deutschlehrer*innen dadurch von den Lehrer*innen der anderen Fachschaften separiert, weswegen ich bis jetzt leider kaum Kontakt zu ihnen hatte. Etwa ein Drittel der Deutschlehrer*innen sind Muttersprachler*innen aus Deutschland oder der Schweiz.

Irgendwann kam an meinem ersten Arbeitstag leider der Punkt, an dem ich das Gefühl hatte, nicht mehr weiterarbeiten zu können. Da es mir gesundheitlich wirklich schlecht ging –vermutlich ein Zusammenspiel der aus Deutschland mitgebrachten Krankheit sowie der hohen Lage Cochabambas (immerhin ca. 2600 Meter) – wurde ich auf die Krankenstation geschickt, wo mir eine sehr nette Dame (die an der Schule ausschließlich auf der Krankenstation arbeitet) Schmerzmittel gab, Sauerstoffsättigung und Blutdruck maß und ich mich etwas hinlegen konnte. Aber es half alles nichts, im Anschluss fuhr ich mit dem Taxi nach Hause und ging auch am folgenden Tag nicht zur Arbeit. Am Freitag meiner ersten Woche in Cochabamba fühlte ich mich wieder etwas besser und meinte, in die Arbeit gehen zu müssen und, noch schlimmer, nach der Arbeit einen noch leicht rohen Burger essen zu müssen. Ein großer Fehler, den ich in den darauffolgenden fünf Tagen gesundheitlich bitter bezahlte.

Es war kein schöner Start ins Auslandsjahr, an seinem ersten Wochenende in Cochabamba krank im Bett zu liegen. Viel zu früh kam so Heimweh auf, immerhin war es für mich das erste Mal, ganz allein krank zu sein. Und trotzdem muss man sich ja irgendwie zum Supermarkt schleppen, denn auf Trinkwasser lässt sich schlecht verzichten. Außerdem führte dieser unschöne Start dazu, dass ich in den ersten zwei Wochen de facto nichts von meiner neuen Heimatstadt sah.

Im Laufe der zweiten Woche ging es mir jedoch immer besser und ich konnte in meiner neuen Arbeit vollends durchstarten. Nachdem mein Fokus in der ersten Zeit insbesondere darauf lag, möglichst viele Klassenstufen und Klassen kennenzulernen, habe ich mir nun bereits einen festen Stundenplan zusammengestellt. Ich genieße es, in meiner Arbeit sehr große Freiheit zu haben und wenige feste, regelmäßige Aufgaben zugewiesen zu bekommen. Jedoch ist genau dies natürlich nicht nur eine Freiheit, sondern darüber hinaus auch eine große Verantwortung, da man immer engagiert sein und Eigeninitiative zeigen muss.

Meine normale Arbeitswoche besteht nun darin, dass ich jeweils eine neunte bis zwölfte Klasse in allen ihren Unterrichtsstunden begleite. Hier ist der Bedarf in jedem Fall auch gegeben, da sich diese Klassenstufen aktuell intensiv auf die Prüfung für das Deutsche Sprachdiplom I bzw. II vorbereiten. Wenn ich zusammen mit der Lehrerin in einer Klasse bin, halte ich mich eher im Hintergrund und unterstütze die Schüler*innen z.B. bei Einzel- und Gruppenarbeiten. Teilweise arbeite ich im Sinne der Binnendifferenzierung auch allein mit kleineren Gruppen von Schüler*innen. Am Freitag bin ich etwas in der Grundschule. Ich würde nicht behaupten, dass ich der geborene Grundschullehrer bin, jedoch macht mir die Arbeit mit den Kleinsten – zumindest in dieser homöopathischen Dosis – durchaus Spaß. Wenn ich nicht mit Klassen arbeite, unterstütze ich die Lehrer*innen bei Korrekturen, führe Recherchearbeiten aus oder bastele hin und wieder auch etwas. Hier mache ich eigentlich immer das, was gerade anfällt, wobei sich der Arbeitsaufwand hier von Tag zu Tag sehr stark unterscheidet.

Da in meinen ersten Wochen an der Schule viele Prüfungen stattfanden, habe ich auch schon einige Vertretungsstunden in der Sekundarstufe allein gehalten. Selbstverständlich ist es zu Beginn sehr herausfordernd, eine ganze Klasse zu unterrichten, es macht mir jedoch auch mit Abstand am meisten Spaß. Hierbei gilt es nicht nur, eine Balance zwischen dem Sicherstellen der nötigen Disziplin und der eigentlich entspannteren und weniger distanzierten Rolle als Freiwilligem zu finden, sondern darüber hinaus auch, möglichst souverän auf Spanisch zu reden. Dies gelingt mir meist gut, machmal ist es jedoch auch desaströs. Notwendig ist es in jedem Fall, da die allermeiste Kommunikation in der Klasse auf Spanisch stattfindet, oftmals muss ich auf Deutsch Gesagtes auch noch einmal auf Spanisch wiederholen.

Zumeist habe ich beim Gestalten der Vertretungsstunden sehr viele Freiheiten und kann Themen vorbereiten, die mir wirklich wichtig sind. Beispielsweise haben wir ein Lied analysiert oder – was besonders von Bedeutung ist, da es im Deutschunterricht deutlich zu kurz kommt – eine landeskundliche Recherche durchgeführt.

Fast immer hat dies bis jetzt auch sehr gut funktioniert und ich habe das Gefühl, dass die Schüler*innen mich – zumindest in der Mehrzahl – respektieren und ernst nehmen (eventuell auch, da ich es strikt vermeide, Schüler*innen der Sekundarstufe mein Alter zu verraten…). Beispielsweise merke ich dies daran, dass ich sehr häufig mit „profe“ (Lehrer) angesprochen werde und ich auch außerhalb des Unterrichts von Schüler*innen gegrüßt oder auch angesprochen werde, was mich jedes Mal riesig freut. Obwohl natürlich – auch auf meiner Seite, da mein Spanisch noch alles andere als perfekt ist – eine Sprachbarriere vorhanden ist, finde ich es immer sehr interessant herauszufinden, was die Schüler*innen (nicht) über Deutschland wissen und welche Fragen sie mir stellen. Soweit es mir möglich ist, will ich die landeskundliche Arbeit in Zukunft auf jeden Fall ausbauen, z.B. durch einen Landeskundekurs oder längerfristige landeskundliche Projekte.

Einiges läuft an meiner Schule anders als in Deutschland – so etwa auch im Hinblick auf die Idealvorstellungen von Disziplin und Ordnung oder auch Nationalstolz. Für mich wurde dies in den ersten Wochen besonders während des Sportunterrichts sichtbar, da hier beispielsweise oftmals auch marschiert wird. Dies wurde auch bei der „Einweihung des neuen Sportjahres deutlich“. Ich denke, die Bilder sprechen fürs Erste für sich. Ebenjenes Thema will ich in einem meiner nächsten Blogeinträge eingehender behandeln.

Einweihung des neuen Sportjahres.

Auch die bolivianische Protestkultur habe ich schon hautnah miterlebt. Typisch sind hierbei die sogenannten „bloqueos“ (Straßenblockaden) als Protestform, auf die in den allermeisten Fällen zurückgegriffen wird. Auch ich habe schon an mehreren Tagen bloqueos erlebt, an einem Tag waren so viele Straßen blockiert, dass meine Schule spontan auf Distanzunterricht umstellte. Einmal musste ich auch einen bloqueo zu Fuß passieren, da ich sonst keine Möglichkeit gehabt hätte, mein Zimmer zu erreichen.

Außerhalb der Schulzeit habe ich in den ersten Wochen noch nicht viel gemacht, außer meinen Alltag (und das Visum) zu organisieren. Wenn man gleichzeitig in ein neues Land zieht und darüber hinaus aus seinem Elternhaus, müssen sich offenkundig eine Vielzahl an Abläufen von Grund auf neu einspielen. So kam es, dass in den ersten Wochen nicht viel Zeit und Kraft für über den „Alltag“ hinausgehendes blieb, wobei es sich hier in den ersten Wochen vielmehr nach Ausnahmezustand als nach Alltag anfühlte. Darüber hinaus gilt es natürlich auch, intensiv den Kontakt zu Familie und Freunden in Deutschland zu halten, was ebenfalls durchaus zeitaufwändig, mir jedoch sehr wichtig ist.

Mittlerweile hat sich mein Alltag jedoch schon deutlich besser eingespielt und ich hatte bereits Zeit zum Reisen. Nun habe ich mir auch vorgenommen, mehr Kontakte in Cochabamba zu knüpfen und Menschen kennenzulernen, da mir dies bis jetzt außerhalb der Schule noch nicht gelungen ist. Idealerweise wären dies natürlich Bolivianer*innen, ich wäre jedoch fürs erste auch mit anderen Internationals sehr zufrieden, da ich mich nun, da man etwas mehr Zeit hat und der Alltag nicht mehr ganz so aufregend wie zu Beginn ist, manchmal auch etwas einsam fühle. Ich glaube, dies ist ein Gefühl, dass viele internationale Freiwillige sehr gut kennen.

Bereits an meinem dritten Wochenende in Cochabamba besuchte mich eine Freiwillige meiner Organisation aus La Paz, Julia, wobei auch ich das erste Mal intensiv die Stadt erkundete. Mit Stadt meine ich stets das Zentrum, da ich bis jetzt nur diese Facette Cochabambas kennengelernt habe. Mir ist wohl bewusst, dass es gerade am Stadtrand und außerhalb der Stadt Viertel gibt, in denen die Situation anders als im Zentrum ist. Vielleicht mag es hinsichtlich der Struktur meines Blogeintrags fragwürdig wirken, dass ich meine neue Heimatstadt erst gegen Ende desselben beschreibe, jedoch habe ich das Folgende (leider) erst nach einigen Wochen wirklich wahrgenommen:

Plaza 14 de septiembre.

Cochabamba ist eine sehr grüne Stadt mit vielen schönen Plätzen und Straßen, die von hohen Bergen umgeben ist. Das Wetter ist perfekt, nicht umsonst wird Cochabamba auch „die Stadt des ewigen Frühlings genannt“. Auch Bolivianer*innen haben mir schon erzählt, dass sie das Klima Cochabambas für das Beste in ganz Bolivien halten. Die Innenstadt hat durchaus einen großstädtischen Charme. Über Restaurants (auch mit internationaler Küche), Cafés und einer Vielzahl von Geschäften bis hin zu Einkaufszentren und großen Kinos findet sich nahezu alles, was das Herz begehrt. Interessant ist hierbei, dass sich in Cochabamba viele „thematische Straßen“ befinden, in denen lediglich Läden einer bestimmten Branche vertreten sind. Am Anfang war ich darüber sehr verwirrt, da sich in meiner Straße lediglich Läden für medizinische Gerätschaften und beispielsweise medizinische Kleidung befinden. Als ich jedoch andere Straßen entdeckte, in denen sich ausschließlich Geschäfte für Farben und Lacke, Friseure oder Reisebüros fanden, ergab das Gesamtbild plötzlich deutlich mehr Sinn.

Blick vom Cristo auf Cochabamba.

Insgesamt kann ich nach einem Monat das Fazit ziehen, dass ich mich bisher nicht nur sehr wohl, sondern auch zu jedem Zeitpunkt sicher gefühlt habe. Auch in der Nacht ist es keinerlei Problem, sich in der Innenstadt auf der Straße zu bewegen, wobei ich die Atmosphäre hierbei zu jedem Zeitpunkt als sehr entspannt und angenehm wahrgenommen habe.

Día del peatón.

An jenem Wochenende, an dem mich Julia besuchen kam, war auch der „día del peatón“ (Tag des Fußgängers), an welchem in der Stadt weder Autos noch Busse fahren durften. Darüber hinaus fand anlässlich dieses Tags ein riesiges Straßenfest statt. Nicht nur jeder einzelne Laden Cochabambas hatte hier einen Stand, sondern darüber hinaus auch alle möglichen staatlichen oder politischen Organisationen wie Behörden, die Polizei oder die Universitäten. Darüber hinaus boten beispielsweise viele Tanz- und Sportschulen angeleitetes Tanzen an und die örtliche Wasserversorgung bot Groß und Klein die Möglichkeit, sich mit etwas Wasser abzukühlen. Gefühlt war die gesamte Stadt auf den Beinen und ich muss zugeben, dass mich die Atmosphäre an diesem Tag aufs Neue sehr positiv beeindruckt hat.

Gemeinsam mit Julia bin ich mit der Seilbahn auch auf den Berg gefahren, auf dem sich das Wahrzeichen Cochabambas, der „Cristo“, befindet. Die Christusstatue ist die zweithöchste der Welt und von ihr aus bietet sich ein spektakulärer Ausblick über die gesamte Stadt.

Ein weiteres sehr nervenaufreibendes und zeitintensives Thema, dass mich teilweise an den Rande des Wahnsinns gebracht hat, war in den ersten Wochen die Beantragung des Arbeitsvisums für ein Jahr, und das bleibt es auch weiterhin, denn das Visum wurde mir nach wie vor noch nicht erteilt. Über den gesamten Prozess werde ich ausführlicher berichten, nachdem mir das Visum hoffentlich im Laufe der nächsten Woche ausgestellt wurde.

Über das letzte, lange Wochenende habe ich Cochabamba auch erstmals verlassen und bin nach La Paz geflogen. Auch über meine Eindrücke während dieser Reise werde ich in einem kommenden Blogeintrag noch berichten.

Das Abenteuer beginnt! Meine Erfahrungen auf dem Vorbereitungsseminar und bei der Ausreise nach Bolivien.

Ich will ganz ehrlich sein. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, schon viel früher und ausführlicher nicht nur von meinen Erlebnissen und Erfahrungen in den ersten Woche in Bolivien, sondern auch von meinem Vorbereitungsseminar am Werbellinsee zu berichten. Im assoziativen Schreiben wollte ich mich üben und das Lesen meines Blogs so spannender machen. Am Ende ist es nun aber doch anders gekommen, denn die letzten vier Wochen waren vor allem eins: Absolut vollgepackt mit Neuem. Sich einige ruhige Stunden zu nehmen, um einen Blogeintrag zu schreiben, bleibt hier selbstverständlich schnell auf der Strecke. Ich will es nun jedoch endgültig versuchen und nun erstmals auf diesem Blog von einigen meiner Erfahrungen der letzten Wochen berichten.

Eine kleine Ankündigung schon vorweg: Yuqi, eine meiner Mitfreiwilligen aus La Paz, und ich werden bald unsere erste Podcastfolge veröffentlichen und hier an dieser Stelle in einem anderen Format über unsere Zeit in Bolivien berichten und reflektieren. Mehr hierzu folgt in Kürze (und dieses Mal wirklich!!).

Ich denke, ich kann jenen Moment, an dem Bolivien für mich vom Plan, vom Traum zur Realität wurde, relativ genau benennen: Während ich an jenem Freitagabend vor nun knapp drei Wochen am Berliner Hauptbahnhof stehe und auf meinen ICE nach München warte, wird es mir endgültig klar: Du fliegst jetzt nach Bolivien. Immer schien mir dieser Moment sehr weit entfernt, am Ende ließ es das zehntätige Vorbereitungsseminar noch so wirken, als würde er nie kommen. Doch nun gab es nichts mehr dergleichen. Next stop: Bolivia.

Diese schöne Flasche und das Namensschild haben wir am Anfang des Seminars bekommen.

Die Jugendherberge am Werbellinsee (Der Eigenname „Seezeit-Resort“ weckt meiner Meinung nach Assoziationen, die mit der Realität wenig zu tun haben) befindet sich mitten in Brandenburg. Voller Energie, Vorfreude und Motivation, aber bestimmt auch mit ebenso vielen Fragen und einer gewissen Nervosität waren wir, die knapp 150 Freiwilligen der März-Ausreise 2023 von Kulturweit, zehn Tage zuvor an diesem Ort angekommen.

Das Seminar am Werbellinsee, das waren zehn sehr intensive Tage, die vom ersten bis letzten Atemzug mit Programm und Networking gefüllt waren. In etwa die Hälfte der Zeit verbrachten wir dabei in unseren Homezones. Meine bestand aus den Freiwilligen, die nun nach Costa Rica, Mexiko und natürlich Bolivien ausgereist sind. Ich muss sagen, dass dieser Aspekt des Seminars mir am besten gefallen hat. In unserer tollen Gruppe fühlte ich mich während des Seminars wirklich sehr gut aufgehoben und wohl.

Tiefster Winter am Werbellinsee.

Natürlich wurden wir während des Seminars erneut über alle möglichen organisatorischen, rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen unseres Freiwilligendiensts informiert. Hinzu kamen beispielsweise Sprechstunden mit unserer Versicherung sowie dem Kulturweit-Team. Der Schwerpunkt des Seminars lag jedoch auf Themen wie (Wahrnehmung von) Kultur,(Post-)Kolonialismus, globalen Machtdifferenzen, Diskriminierung, fairem Berichten, der eigenen Rolle als Freiwilliger oder beispielsweise auch Konfliktmanagement. Zumindest war dies der Anspruch des Seminars an sich selbst, den es, so zumindest meine Meinung, nur teilweise erfüllen konnte. Gerade hinsichtlich meiner Rolle als Freiwilliger im Gastland und Themengebieten wie dem fairen Berichten sind meinerseits bis zum Ende des Seminars Fragen offen geblieben, auf die ich keine hinreichende Antwort gefunden habe. Darüber hinaus fand in unserer Homezone kaum regionenspezifische Vorbereitung statt, beispielsweise hätte ich mich auf dem Seminar gerne noch deutlich intensiver mit der Geschichte des Kolonialismus in Lateinamerika auseinandergesetzt.

Inhaltlich waren für mich die Workshops und Reflexionsräume am wertvollsten, bei denen ich selbst aus einem zumeist breit gefächerten Angebot an Themen wählen konnte. So besuchte ich exemplarisch einen Reflexionsraum zu meinem eigenen Weißsein, ein für mich leider gänzlich neues Thema. Ebenfalls sehr bereichernd waren für mich die Workshops über globale Megatrends und Verschwörungstheorien.

An einem Tag galt es in den Homezones, innerhalb weniger Stunden ein eigenes Projekt durchzuführen. Hierbei haben Ida, Yuqi und ich uns zusammengetan und einen kurzen Podcast über Simon Bolívar produziert. Obwohl die Zeit sehr knapp bemessen war (15 Minuten vor Abgabefrist war das Schnittprogramm heruntergeladen…) kann sich das Ergebnis meines Erachtens dennoch sehen lassen. Den Podcast könnt ihr hier nachhören. 

Die Aufbruchsstimmung unter uns 150 Freiwilligen habe ich in dieser Form noch nie erlebt. Jede*r reißt in ein anderes Land, in eine andere Einsatzstelle, und hatte während der Vorbereitung gänzlich verschiedene Herausforderungen zu bewältigen. Obwohl man sich vermutlich in Zukunft nicht mehr (und erst Recht nicht während des Freiwilligendienstes) begegnen wird, war es unglaublich bereichernd, sich mit all den Menschen auszutauschen, die nun beispielsweise nach Vietnam, in die Mongolei, nach Ägypten, nach Rumänien, in den Senegal oder nach Brasilien ausgereist sind.

An einem Abend feierten wir in unserer Homezone zusammen den Geburtstag von Julia.

Die zehn Tage am Werbellinsee sind meiner Wahrnehmung nach blitzschnell verflogen. Auf fast unheimliche Art und Weise blendete ich über zehn Tage fast alles aus, was sich außerhalb dieses Mikrokosmos‘ abspielte. Fast schien es mir, als sei ich schon ein Stück weit während dieser zehn Tage ausgereist. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge machten wir uns am Ende des Seminars auf den Heimweg. Einerseits war man nun endgültig in erwartungsvoller Vorfreude hinsichtlich der unmittelbar bevorstehenden Ausreise, andererseits musste man sich viel zu früh von so vielen großartigen Menschen verabschieden, die man doch gerade erst kennengelernt hatte.

Mit einem großen Schatz an neuen Erfahrungen, Erkenntnissen und neuen Kontakten machte ich mich nun auf den Rückweg nach München. Doch nicht nur dies, auch den sich über zehn Tage erheblich angestauten Schlafmangel und ein deutliches Krankheitsgefühl nahm ich mit nach Hause.

Spätabends in München angekommen, blieb mir nun noch ein Tag in meiner Heimatstadt. An diesem galt es, sehr schnell zu waschen und umzupacken, sodass ich rechtzeitig bereit für die große Reise war. Am Nachmittag verabschiedete ich mich von einer letzten Freundin, Nike, wobei wir noch einmal einen Spaziergang durch unser Stadtviertel unternahmen und ich mich von einigen prägenden Orten (beispielsweise meiner ehemaligen Schule) verabschiedete (ja, ich lege es schon auch darauf an, derlei Momente pathetisch aufzuladen…). Spätestens jetzt empfand ich ein krasses Gefühlschaos, die Situation war für mich mehr als surreal. Noch nie hatte ich länger als drei Wochen im Ausland verbracht, nun auf einmal sollte ich für ein Jahr in einem mir völlig unbekannten Land auf einem mir unbekannten Kontinent leben. Und so floss an diesem Tag endgültig auch die ein oder andere Träne. Nach einem letzten Abendessen mit meiner Familie ging ich früh schlafen (der Schlafmangel der letzten Tage machte es möglich), denn am nächsten Tag klingelte um 4 Uhr morgens der Wecker.

Das letzte Selfie mit meiner Familie am Flughafen München.

Ich rechne es meiner Familie sehr hoch an, dass sie es sich antaten, mich zu dieser Unzeit an den Flughafen zu begleiten. Fast etwas peinlich ist mir, dass ich an jenem morgen exzeptionell lang am Check-In warten musste, und für den eigentlichen Abschied nur noch wenige, eher hektische Minuten blieben. Aber so war es nunmal. Zeit für ein letztes Selfie blieb aber dennoch. Für mich war dieser Moment bei weitem am emotionalsten und schwierigsten, beim Schreiben dieser Zeilen habe ich wieder Tränen in den Augen. Aber es half alles nichts, ein Flugzeug nach Paris wartete auf mich. Passenderweise war ich noch nie so knapp bei einem Flug, noch während ich bei der Sicherheitskontrolle war, ertönte der Boardingcall. Schnell war auch ich im Flugzeug und noch schneller war ich auch schon am Flughafen Charles-de-Gaulle in Paris. Nachdem ich hier fast fünf Stunden verbracht hatte (wovon ich zwei Stunden in Schlangen der Ausreise wartete, merci, Paris Aéroport…) trat ich meinen längsten Flug an, der mich in 12 Stunden nach Panama-City führte.

Air France brachte mich sicher von Paris nach Panama-Stadt.
Ich bin fast nie krank. Jedenfalls würde ich das von mir selbst behaupten. Doch irgendwie hat mein Körper ein Talent dafür, mich in den Situationen, in denen es darauf ankommt, dann doch im Stich zu lassen. Besonders bei Langstreckenflügen scheint dies der Fall zu sein, bei vier von fünf, die ich bis jetzt in meinem Leben absolviert habe, war ich mehr oder weniger krank. Selbstverständlich war dem nun auch bei meiner Anreise nach Bolivien so. Besonders auf dem Flug nach Panama-Stadt merkte ich nun wieder ein deutliches Krankheitsgefühl, was es mir (in Kombination mit vermutlich ungesunden Mengen an Melatonintabletten) ermöglichte, eine für mich rekordverdächtige Zeit des Flugs mit Schlafen zu verbringen. Ich hatte im Vorfeld große Sorge über die mit dieser 30-stündigen Reise einhergehende Belastung, doch am Ende war es dann doch weniger schlimm als gedacht. Spätestens ab Panama-City sorgte die Müdigkeit dafür, dass ich eigentlich gar nicht mehr so viel aktiv mitbekam.
Einschweben über die vor dem Panamakanal wartenden Schiffe.
Nun war der Moment gekommen: Ich bestieg ein Flugzeug nach Bolivien, nach Santa Cruz. Nach dem immerhin rund fünfstündigen Flug nach Santa Cruz de la Sierra setzte unser Flugzeug gegen vier Uhr morgens Ortszeit zur Landung in Bolivien an. Nun galt es seine letzten Kraftreserven zusammenzunehmen und sich in die Schlange zur Migración, der Einreise, einzureihen. Nach über 1,5 Stunden des Wartens war schließlich ich an der Reihe.

Tatsächlich verbrachte ich auch deutlich mehr als fünf Minuten am Einreiseschalter, da es aufgrund meines mehr als drei Monate alten Visums zu Konfusion kam und man mich zuerst zum erneuten Bezahlen des Visums aufforderte. Nachdem dies mit einem weiteren Beamten geklärt war, musste ich dem Grenzschützer noch einige Dokumente vorlegen, exemplarisch meine Verträge und meine Airbnb-Bestätigung. Ganz unschuldig am Ablauf meiner Einreise bin ich jedoch auch nicht, da ich in diesen Minuten realisierte, das bolivianische Adresssystem nicht richtig durchschaut zu haben (mittlerweile weiß ich, dass es irgendwie auch kein System gibt bzw. mehrere Systeme parallel zueinander existieren). Somit konnte ich, was wirklich ungünstig und für mich sehr untypisch ist, die Frage, wo ich denn nun wohnen würde, nur unzureichend beantworten, was den Beamten sichtlich störte. Vermutlich muss ich in diesem Moment jedoch einen sehr hilflosen Eindruck gemacht haben, weswegen der Beamte schließlich doch den Einreisestempel in meinen Reisepass haute.

Da war ich nun, in diesem Bolivien. Also fast. Zumindest war ich in der kleinen Ankunftshalle des Flughafens in Santa Cruz. Sofort besorgte ich mir erste Bolivianos (die bolivianische Währung) sowie eine Sim-Karte. Zufällig traf ich einen Mitfreiwilligen sowie später noch zwei andere Freiwillige meiner Organisation, die aus Madrid kamen und nach La Paz weiterreisten.

Die Boeing der BoA, die mich von Santa Cruz nach Cochabamba brachte

Nun galt es lediglich noch, einen letzten Flug hinter sich zu bringen. Wobei dies eigentlich der falsche Ausdruck ist, denn für mich war der Flug mit der staatlichen Fluggesellschaft Boliviens, der BoA (Boliviana de Aviación) und deren museumsreifem Flugzeug, ein ganz eigenes Erlebnis. Daneben konnte ich vom Himmel aus die atemberaubende bolivianische Landschaft beobachten. Nach etwas mehr als einer halben Stunde begab sich das Flugzeug bereits in seinen Landeanflug nach Cochabamba, wobei es sehr dicht an den hohen, diese Stadt umgebenden Bergen vorbeiflog.

Und nachdem wir über Cochabamba eingeschwebt waren, landete ich in meiner Heimat für das nächste Jahr…

Die Fortsetzung dieses Blogeintrags über meine ersten Wochen in Cochabamba veröffentliche ich sehr bald!

Pilotfolge: “Simon Bolivar: Volksheld oder grausamer Diktator?”

 

Simon Bolívar gilt heute als eine der wichtigsten historischen Personen Lateinamerikas. Doch das durchweg positive Bild des Namenspatrons Boliviens begann in den letzten Jahren zunehmend zu bröckeln – neben Bolívars großen Verdiensten für Unabhängigkeit und Demokratie in Lateinamerika werden nun auch seine autoritären Tendenzen sowie die von ihm zu veratwortenden Gräueltaten diskutiert. Doch wer war Simon Bolívar, was trieb ihn an und wie wird er heute in Lateinamerika wahrgenommen? Welche Spuren seines Wirkens finden sich noch heute in Bolivien? Mit diesen Fragen beschäftigen sich in unserer ersten Podcastfolge die Kulturweit-Freiwilligen Yuqi, Julius und Ida, die in wenigen Tagen Ihren Freiwilligendienst in Bolivien und Costa Rica beginnen werden.

Ausreise mit Hindernissen – Mein Weg von Chile über Ecuador nach Bolivien

Eigentlich war alles klar. Bereits Ende des Jahres 2021 hatte ich mich unter anderem bei Kulturweit für einen Freiwilligendienst im Ausland beworben. Nach einem langen Bewerbungsprozess wurde mir im April 2022 schließlich fest ein Platz für ein FSJ an der Deutschen Schule in Puerto Montt, Chile zugesagt. Hochmotiviert und voller Vorfreude stürzte ich mich in die Vorbereitungen: Verträge wurden unterschrieben, Versicherungen abgeschlossen, Flüge gebucht, ausführliche Untersuchungen und Impfungen durchgeführt, ein für Chile kompatibles Bankkonto eröffnet, Bücher über die Geschichte und Gesellschaft des Landes gelesen, eine WG organisiert und vieles mehr, das an dieser Stelle den Rahmen sprengen würde.

Und dann war da noch eine Sache: Das Visum. Bereits nach kurzer Zeit stellte sich heraus, dass dessen Beantragung eine besondere Herausforderung werden würde. Da Chile im Frühjahr 2022 sein System zur Visavergabe in Gänze und offensichtlich überhastet umgestellt hatte, gab es nunmehr lediglich die Möglichkeit, Visa für Chile auf einer neuen, zentralen Website zu beantragen. Dies klang zuerst nach einem einfachen und klar strukturierten Prozess, jedoch war die Bedienung der Website allein aufgrund ihrer hohen Anzahl an Fehlfunktionen eine nicht unbeträchtliche Herausforderung. Hinzu kam, dass auf den Regierungsseiten keinerlei Informationen zur Beantragung von Visa für Freiwillige zur Verfügung gestellt wurden und es darüber hinaus auch keine Möglichkeit gab, die zuständigen Stellen zu kontaktieren. Auch das chilenische Konsulat in München zeigte sich weder bereit noch fähig zur Hilfe oder Herausgabe von Informationen.

Nachdem ich den Unterschied zwischen Vorbeglaubigung, Beglaubigung, Überbeglaubigung, Endbeglaubigung, Legalisation und Apostille verstanden hatte, versuchte ich aller Widrigkeiten zum Trotz, mich durch den Prozess der Beantragung des Visums zu kämpfen. Nach 5 Wochen intensiver Arbeit, welche darüber hinaus mit meiner Abiturphase zusammenfiel, konnte ich den Antrag endlich abschicken.

Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste: Auch Kulturweit war die Problematik bewusst, jedoch konnten auch durch die Organisation keinerlei gesicherte Informationen darüber erlangt werden, ob und wie Visa für Freiwillige vergeben werden. Auch das Auswärtige Amt sowie die Deutsche Botschaft in Santiago de Chile zeigten sich nach dem fehlgeschlagenen Versuch des Kontaktierens der zuständigen chilenischen Behörden ratlos.

Trotz der Unwägbarkeiten dachte ich nach Beantragung des Visums, dass es an dieser Formalie nicht scheitern würde. Immerhin hatte ich den Antrag bereits im Mai abgeschickt und die Ausreise sollte erst Mitte September stattfinden. Doch es sollte anders kommen: Während eines Ausflugs mit meinen Großeltern nach Limburg an der Lahn erreichte mich nichtsahnend eine E-Mail von Kulturweit. Die Ausreise nach Chile war aufgrund der unklaren Situation hinsichtlich der Visavergabe abgesagt.

Für mich war diese Nachricht nichts anderes als ein Schock, zumal sich meine eigentlich sicheren Pläne für die nahe Zukunft vom einen Moment auf den anderen in Luft auflösten. Hinzu kam die große Menge an Zeit, Geld und Kraft, die ich bereits in die Vorbereitungen für das FSJ in Chile investiert hatte. Kulturweit bot zwar Alternativstellen in einigen osteuropäischen Ländern an, jedoch wurde mir persönlich schnell bewusst, dass es sich hierbei für mich um keine adäquate Alternative handelt. Dies liegt nicht nur daran, dass es mir sehr wichtig ist, im Rahmen des Auslandsjahrs vorhandene Sprachkenntnisse im Spanischen oder Französischen zu verbessern, sondern auch daran, dass man an einem solchen Programm nur einmal in seinem Leben teilnehmen kann und ich diese großartige Möglichkeit gerne bestmöglich nutzen würde. Dies bedeutet für mich, dass ich in ein Land außerhalb von Europa gehe, da es beispielsweise während des Studiums eine Vielzahl von anderen Möglichkeiten gibt, Zeit im europäischen Ausland zu verbringen.

Somit begab ich mich auf die Suche nach Alternativen. Direkt zu studieren kam und kommt für mich nicht in Frage, da ich das Jahr im Ausland gerne auch dazu nutzen würde, über meinen weiteren Weg zu reflektieren. Auf meiner Suche stieß ich schnell auf einige Restplätze des Weltwärts-Programms, welche noch kurzfristig zu besetzen waren. Die Stelle in Puyo, Ecuador sprach mich aufgrund ihrer inhaltlichen Nähe zu meiner ursprünglichen Stelle in Chile besonders an, da ich hier nicht nur an einer Schule arbeiten kann, sondern darüber hinaus die Möglichkeit zum Verbessern meiner Kenntnisse im Spanischen besteht. Des Weiteren ist Ecuador sowohl geographisch als auch gesellschaftlich und kulturell ein äußerst diverses und spannendes Land.

Somit war für mich sehr schnell klar, dass ich mich auf diese Stelle bewerben würde und noch am selben Tag schickte ich eine erste Anfrage an die Organisation. Daraufhin folgte ein sehr kurzes und pragmatisches Bewerbungsverfahren. So kam es, dass zwischen der ersten Anfrage und der offiziellen Zusage nur etwas mehr als eine Woche lag. Trotz allem ließ ich mich – sozusagen als Backup – von Kulturweit in den Bewerbungsprozess der Ausreise im März 2023 aufnehmen. Dies sollte im weiteren Verlauf des Geschehens noch wichtig werden.

So machte ich mich erneut an alle Vorbereitungen und stürzte mich in die Organisation des neuen Auslandsjahrs. Hier erneut die erste Priorität: Die Beantragung des Visums.

Doch es sollte anders kommen – ich hatte ja noch eine letzte Option in der Hinterhand. Sechs Wochen später traf ich die Entscheidung, mein geplantes Auslandsjahr in Ecuador abzusagen und dafür ein Angebot für einen Platz für einen Freiwilligendienst mit Kulturweit in Bolivien ab März 2023 anzunehmen, welches mir Ende Juli 2022 unterbreitet wurde. 

Nachdem mein eigentlich geplanter Freiwilligendienst in Chile abgesagt werden musste, war ich sehr verzweifelt und versuchte innerhalb kürzester Zeit – aus einem zu diesem Zeitpunkt bereits sehr beschränkten Angebot – eine Alternative zu finden. Auf den ersten Blick erschien mir die Stelle in Ecuador als nahezu perfekt. Aufgrund des Mangels an Alternativen sowie von ausreichend Zeit zur Reflexion bin ich jedoch über einige erhebliche Nachteile der Einsatzstelle in Puyo hinweggegangen, deren große Bedeutung mir erst in den folgenden Wochen der deutlich intensiveren Vorbereitung auf den Freiwilligendienst bewusst geworden ist.

Der krasse Kontrast zu meiner aktuellen Lebenswelt in Deutschland, welcher die Stadt Puyo mit ihren 30.000 Einwohnern dargestellt hätte, ist für mich prinzipiell kein Problem. Jedoch wurde mir während meiner Vorbereitungen sukzessive bewusst, dass besonders die abgeschiedene Lage Puyos im Amazonas für mich eine große Herausforderung dargestellt hätte, denn sie führt dazu, dass selbst Reisen in benachbarte, größere Städte sehr beschwerlich und zeitaufwändig sind, ganz zu schweigen von Reisen nach Quito oder in benachbarte Länder der Region. Darüber hinaus hätte aus der obligatorischen Unterbringung in einer Gastfamilie eine für mich erhebliche Einschränkung meiner persönlichen Freiheit resultiert. Natürlich kann man mit einer Gastfamilie sehr viel Glück haben – zusätzlich kann sie den Anschluss an die lokale Bevölkerung sehr erleichtern – jedoch kann sie einem auch bedingungslose Anpassung und die Unterdrückung der eigenen Bedürfnisse abverlangen. Vor diesem Szenario hatte ich erhebliche Sorgen, insbesondere, da ich weder Einfluss auf die Auswahl meiner Gastfamilie noch die Garantie auf ein eigenes Zimmer hatte. Auch wurde mir deutlich gemacht, dass ein Wechsel der Gastfamilie nur im absoluten Ausnahmefall möglich ist.

Da ich mir von meiner Teilnahme an einem Freiwilligendienst im Ausland auch einen gewissen Grad an persönlicher Freiheit verspreche, konnte ich mich mit diesen Gegebenheiten nie wirklich abfinden. Insbesondere im Vergleich mit dem Programm von Kulturweit, im Rahmen dessen eine eigenständige Unterbringung – beispielsweise in einer WG – möglich und zumeist auch vorgesehen ist, erschien mir das Leben in einer Gastfamilie in Puyo zunehmend unattraktiv.

Darüber hinaus hätte ich in Puyo nicht etwa Deutsch, sondern Englisch unterrichtet, eine Tätigkeit, für die ich mich weder besonders motiviert noch qualifiziert fühle. Ich konnte den tieferen Sinn, einen Deutschen nach Ecuador zu fliegen, um Ihn dort Englisch unterrichten zu lassen, nie vollkommen verstehen, zumal der Fokus des Programms meiner Wahrnehmung nach somit nicht auf der interkulturellen Begegnung und Kommunikation lag.

Hier hat Kulturweit als Kulturfreiwilligendienst einen fundamental anderen Ansatz, da es sich um ein Bildungsprogramm handelt, bei dem der Fokus primär auf dem interkulturellen Lernen liegt. 

Des Weiteren war ich zu keinem Zeitpunkt zufrieden mit der Kommunikation, Organisation und Unterstützung meiner entsendenden Organisation und fühlte mich z.T. schlecht informiert, auch und insbesondere auf Nachfrage. Auch verunsicherte mich erheblich, dass ich zu keinem Zeitpunkt ausführlichere Informationen zu meiner Einsatzstelle oder einer Kontaktperson an der Schule in Puyo erhalten habe. Ebenfalls problematisch und unübersichtlich war die Situation hinsichtlich der Beantragung des notwendigen Visums. Obwohl sich nicht ansatzweise abzeichnete, dass ich das Visum rechtzeitig erlangen könnte, verweigerte meine Organisation ein Verschieben des Starttermins offensichtlich und erwartete hinsichtlich der Beantragung des Visums von mir in dieser kurzen Zeit Unerwartbares und Unerreichbares, was mich unter großen Druck und Stress setze, insbesondere, da meine Ausreise in Chile bereits an ebenjener Herausforderung gescheitert war.

Zusätzlich zu diesen handfesten Argumenten für eine Absage des Auslandsjahrs kam ein äußerst schlechtes Bauchgefühl. Vor meiner Entscheidung habe ich zu keinem Zeitpunkt Vorfreude auf den Freiwilligendienst in Ecuador verspürt, ein Zustand, der für mich äußerst untypisch ist. Stets hatte ich gehofft, dass sich dies mit Voranschreiten der Organisation und Näherrücken des Termins der Ausreise noch verändern würde, jedoch wurde meine innere Ablehnung gegen das Jahr in Ecuador mit jedem Tag der Vorbereitung, mit jedem Tag, an dem meine Vorstellung des Aufenthalts in Ecuador konkreter wurde, größer. Insbesondere hinsichtlich der Anfangszeit eines Freiwilligendiensts auf einem anderen Kontinent ist es jedoch äußerst wichtig, hochmotiviert zu sein, um die notwendige Kraft für die Vielzahl der auftretenden Herausforderungen sozialer, beruflicher und sprachlicher Natur aufbringen zu können.

Bekanntlich sind ja aller guten Dinge drei, nun werde ich also im März 2023 mit Kulturweit nach Cochabamba in Bolivien auszureisen. Da Cochabamba eine große Universitätsstadt mit ca. 800.000 Einwohnern ist und ich dort an einer deutschen Schule die Fachschaft Deutsch unterstützen kann, hat mich das neue Angebot sofort überzeugt und in große Vorfreude versetzt. Darüber hinaus fühle ich mich mit der großen, sehr professionellen Organisation Kulturweit äußerst wohl, stets bis ins letzte Detail informiert und gut unterstützt, das kann ich sagen, da ich mit dieser Organisation bereits mehrere Monate lang mein nicht an Kulturweit, sondern an den Behörden gescheitertes Auslandsjahr in Chile vorbereitet habe. Hinzu kommt, dass Kulturweit der am stärksten staatlich geförderte Freiwilligendienst ist und das Programm somit auch hinsichtlich der (finanziellen) Leistungen für die Freiwilligen das attraktivste überhaupt ist. Auch die Kooperation Kulturweits mit seinen Partnerorganisationen, beispielsweise dem Auswärtigen Amt oder dem Pädagogischen Austauschdienst (PAD) ist für mich persönlich sehr attraktiv, ebenso wie die großartigen Seminare bei Berlin und in der Einsatzregion sowie die vielen Möglichkeiten, auch als Alumnus des Programm von einem Vielfältigen Angebot an Seminaren, Workshops und Möglichkeiten des Austauschs zu profitieren und sich weltweit zu vernetzen.

Es kommt wie es kommt, und garantiert anders als gedacht: Dies musste auch ich immer wieder aufs Neue während der fast 1,5 Jahre  lernen, in denen ich mich auf mein FSJ in Bolivien vorbereitet habe. Eine kleine Sache muss ich jedoch noch erwähnen: Das Visum für Chile habe ich am 2. September, also pünktlich zu meiner eigentlich geplanten Ausreise erhalten. Das half mir dann aber auch nicht mehr…