Die Sache mit dem Visum

Das Lesen des folgenden Artikels mag für einige Lesende vermutlich anstrengend und ermüdend sein. Ich will es mir jedoch nicht nehmen lassen, über meine Erfahrungen bei der Beantragung des Visums zu berichten, da dies neben meiner Arbeit an der Schule wohl die für die ersten sechs Wochen in Bolivien prägendste Herausforderung war. Für mich, der mit dem großen Privileg aufgewachsen ist, im Besitz einer deutschen und europäischen Staatsbürgerschaft zu sein – und dies in Zeiten des Schengener Abkommens, der Freizügigkeit innerhalb Europas sowie der Möglichkeit, mit dem deutschen Pass in sehr viele Länder der Welt visumsfrei einzureisen, ist die Beantragung einer solchen Aufenthaltsgenehmigung außerdem eine vollkommen neue Erfahrung.

Bolivien ermöglicht es aus Deutschland heraus lediglich, ein Visum für die ersten 30 Tage zu beantragen. Vor Ort folgt nicht etwa die unkomplizierte Verlängerung desselben, sondern ein vollkommen neuer, alles in Deutschland übertreffender Prozess. Nicht nur aus diesem Grund, sondern noch vielmehr, da meine ursprünglich für September 2022 mit Kulturweit geplante Ausreise nach Chile ohne jegliche Mitschuld meinerseits aufgrund der Situation hinsichtlich des Visums abgesagt werden musste, war dieses Thema für mich von Beginn an besonders sensibel und mit großem Stress behaftet.

Somit machte ich mich schon im letzten Oktober an die Beantragung des „visa de objeto determinado – trabajo“ für die ersten 30 Tage, welches bei der bolivianischen Botschaft in Berlin zu beantragen ist. Hierbei war der Prozess recht unkompliziert, vier Wochen und drei Anrufe bei der Botschaft später hielt ich mein Visum in den Händen.

Fünf Monate später. Bereits am ersten vollen Tag in Bolivien traf ich mich mit meiner Tramitadora (kostenpflichtige Hilfe bei der Visumsbeantragung) und wir besprachen das Vorgehen in den nächsten fünf Wochen. Am Anfang war ich sehr froh über diese Hilfe und die Sicherheit, die M. mir gab, jedoch verkehrte sich dieses Gefühl mit allem, das im Folgenden schief gehen sollte, ins Gegenteil.

Bevor wir zur Migración – der Einwanderungsbehörde Boliviens – gehen konnten, mussten noch einige Dokumente organisiert werden. Der erste große „Behördengang“ stand in der zweiten Woche an: Der Besuch beim Amtsarzt im Polizeikrankenhaus. Mein Respekt vor diesem Termin war bereits sehr groß, jedoch steigerte er sich noch weiter, als ich die vielen Menschen in Uniform sah, die in diesem Krankenhaus arbeiteten. Zusätzlich merkte man an jeder Ecke, dass es dort an Geld und moderner Ausstattung fehlt. Eigentlich ist es unbegründet, aber die Tatsache, dass ich beim Warten zufällig dem Morgenapell der Belegschaft beiwohnte, vermochte es ebenfalls nicht, mir etwas meiner Nervosität zu nehmen. Ich empfinde es als fragwürdig, dass im Rahmen dieses Termins nicht nur eine Urinprobe durchgeführt, sondern darüber hinaus auch Blut abgenommen und eine verpflichtende Röntgenaufnahme des Thorax durchgeführt wurde, zumal ich die Relevanz für das Visumsverfahren nach wie vor nicht als gegeben ansehe. Nach einer eingehenden Untersuchung und einem Anamnesegespräch mit einem Amtsarzt hielt ich dann einen Tag später mein notwendiges medizinisches Zertifikat in den Händen.

Im weiteren Verlauf der Woche organisierte ich bei der Verwaltung meiner Schule die „certificación de voluntariado“ (Zertifikat für den Freiwilligendienst) sowie den „convenio privado de colaboración“ (privater Vertrag zwischen Schule und mir). Aber nicht nur dies, darüber hinaus wurde eine Kopie des Personalausweises des Schulleiters sowie sein „poder“ (ca. 17-Seitiges notarielles Dokument, welches bestätigt, dass der Schulleiter seine Position rechtmäßig innehat) sowie eine Registrierungsurkunde der Schule benötigt. Dies alles ist jedoch leichter gesagt als getan, denn die Verwaltung meiner Schule wusste zumeist nicht genau, was ich von ihr wollte. Infolgedessen taten sich immer wieder neue Fehler auf, die ich beheben musste.

Nachdem mein Führungszeugnis aus Deutschland aufs Neue übersetzt war (die Übersetzung aus Deutschland wurde aus mir unerfindlichen Gründen nicht akzeptiert; wieder einmal 75 Euro zum Fenster herausgeschmissen) musste es noch vom deutschen Honorarkonsul in Cochabamba legalisiert werden. Nun musste die Übersetzung nochmals von bolivianischer Seite legalisiert werden. Meine Tramitadora schrieb mir eine halbe Stunde vor einem unserer Treffen, dass die dafür zuständige „Cancillería“ für diesen Stempel nun auf einmal doch 100 Dollar statt der angekündigten 50 Dollar verlange. Es soll jeder seine eigenen Schlüsse ziehen, aber dies Geschah zu einem Zeitpunkt, an dem Dollar in Bolivien aus wirtschaftlichen Gründen de facto nicht bei einer Bank oder in einer Wechselstube zu bekommen waren. Somit blieb mir nichts anderes übrig, als zu einem grausamen Wechselkurs Dollar bei einem alles andere als vertrauenserweckenden Straßenstand mit der Aufschrift „Dolares“ zu kaufen. Zusätzlich fragwürdig erscheint es mir, dass man lediglich für die Zahlung in Bolivianos eine Rechnung erhält, nicht aber für die Gebühr in Dollar.

Darüber hinaus musste ich beim Notar eine Erklärung zu meinem Freiwilligendienst sowie der Quelle meiner Einkünfte abgeben und die Migración verlangt die Kontoauszüge der letzten drei Monate, was ebenfalls kein unerheblicher Eingriff in die Privatsphäre ist – immerhin kann man darüber de facto mein gesamtes Leben der letzten drei Monate nachvollziehen. Außerdem forderte die Migración eine Kopie meiner Kreditkarte sowie Kopien der Personalausweise meiner Eltern. Soweit zumindest der damalige Stand.

Nach erneuten gravierenden Problemen mit den Dokumenten meiner Schule stand am nächsten Tag der erste Besuch in der Migración an. Dorthin zu gelangen war jedoch bereits eine große Herausforderung, da ein Großteil des Verkehrs in Cochabamba aufgrund umfangreicher Straßenblockaden, den „bloqueos“, an diesem Tag stillgelegt war. Nach einer gefühlten Ewigkeit des Wartens kamen wir an die Reihe. Mit höchster Akribie kontrollierte der Beamte jede einzelne Information der zahllosen Dokumente. Es schien fast zu gut um wahr zu sein: Der Beamte hatte nichts auszusetzen und forderte mich zur Zahlung des Visums (immerhin fast 175 Euro) auf.

Ich dachte in diesem Moment aufgrund der so genauen Kontrolle, dass ich es wirklich geschafft hätte. Nun stand jedoch eine zweite Kontrolle an. Nach wenigen Sekunden merkte ich hier, dass etwas nicht stimmte. Ich war in diesem abgetrennten Raum alleine und musste ohne meine Tramitadora dabei zusehen, wie mein Reisepass und mein Visum wild in privaten Whatsapp-Chats herumgeschickt wurde. Zuerst ging es generell um die Frage, ob mein Visum nicht schon bei der Einreise abgelaufen war. Als dies jedoch für mich positiv ausging, war die Beamtin unsicher darüber, ob ich denn nun mein Visum verlängern könnte. Nach kurzer Zeit war es klar: Ich konnte mein Visum erst an Tag 20 in Bolivien verlängern. An jenem Tag war Tag 18. Ich war über diese Aussage mehr als fassungslos, da ich noch nie von einer derartigen Regel gehört hatte und der Beamte in der ersten Kontrolle sowie meine Tramitadora nichts davon gesagt hatten ­– bezahlt hatte ich ja immerhin auch schon. Nach einer gefühlten Ewigkeit bekam ich immerhin mein Geld zurück und begab mich frustriert auf den Weg nach Hause.

Einige Tage später ging ich mit einem entspannten Gefühl in die Migración, da meine Dokumente ja bereits überprüft wurden. Dieses verflüchtigte sich bereits, als meine Tramitadora ohne Vorankündigung nicht auftauchte und ich somit alleine mit den Beamten kommunizieren musste. Obwohl der Beamte der gleiche war, der bereits wenige Tage zuvor meine Dokumente überprüft hatte, war der Ausgang ebenjener Überprüfung ein anderer. Plötzlich meinte er nun zu mir, dass ich mein Visum erst ab Tag 30, also ab Ablauf des alten Visums verlängern könnte, obwohl ich vier Tage zuvor mit der Begründung abgewiesen wurde, ich könne dies erst ab Tag 20. Ich entgegnete, dass ich dann ja illegal sei und Strafen zahlen müsste. Leicht schnippisch stimmte der Beamte mir zu. Ich hatte den Versuch enttarnt, mich in die Illegalität und damit zum Zahlen einer Geldstrafe zu treiben. Leider ist es so, dass die Beamten in der Migración von den gezahlten Geldstrafen direkt profitieren und aufgrund ihrer sehr schlechten Bezahlung auch auf diese angewiesen sind.

Schließlich fand der Beamte doch noch einen Fehler, ein Datum einer Unterschrift in einem Dokument der Schule war mehr als drei Monate alt. Dies war nichts anderes als plausibel und sehr einfach nachvollziehbar. Während ich noch versuchte, dem Beamten ebendies zu verdeutlichen, packte er mit sichtlich gestiegenem Elan wieder alle meine Dokumente zusammen. Auch wenn es im Rückblick vielleicht lächerlich wirken mag, in diesem Moment war ich bereits so nervös und fühlte mich so ungerecht behandelt und machtlos, dass ich mich sehr anstrengen musste, nicht in Tränen auszubrechen.

Mit leichter Süffisanz meinerseits kam ich bereits etwas mehr als eine Stunde später in die Migración zurück und präsentierte dem Beamten das neue Dokument. Nun gab es für ihn nichts mehr auszusetzen, ich durfte aufs Neue bezahlen, wieder ewig warten und schließlich meinen Antrag in einer weiteren Kontrolle endgültig abgeben. Mein Reisepass wurde selbstverständlich für die kommenden Wochen einbehalten – ein Umstand, der mich abermals sehr nervös machte.

So weit so gut, nun sollte man eigentlich denken, dass mein Artikel mit der unkomplizierten Abholung des Visums endet. Ab jetzt wird es jedoch erst richtig lustig.

Zwei Tage später stehe ich am Flughafen und warte auf das Boarding für meinen Flug nach La Paz, wo ich ein verlängertes Wochenende verbracht habe. Auf einmal erreichte mich ein Anruf, in der Situation konnte ich jedoch nicht abnehmen und dachte mir nichts Böses dabei. Während ich ins Flugzeug einstieg, erreichte mich jedoch über WhatsApp eine von meiner Tramitadora weitergeleitete Sprachnachricht des Beamten der Migración, der bereits mehrmals meine Dokumente überprüft hatte. Nun wurde meine Geburtsurkunde benötigt, und das sofort. Während das Flugzeug bereits zum Start rollte, suchte ich auf meinem Handy noch einen Scan meiner Geburtsurkunde heraus.

In der nächsten Woche erreichte mich dann über meine Ansprechpartnerin in der Schule die Nachricht, dass noch weitere Dokumente fehlten. Meine Tramitadora hatte mich darüber jedoch nicht informiert und versuchte auf eigene Faust, die Steuernummer meiner Schule sowie die Schulverfassung zu organisieren. Dies führte jedoch dazu, dass im ganzen Prozess fast eine Woche Stillstand herrschte und sich erst etwas bewegte, als ich die Sache selbst in die Hand nahm. Die Kommunikation mit meiner Tramitadora war hierbei – wie während des gesamten Prozesses der Visumsbeantragung – extrem schwierig, da sie sprachlich wie inhaltlich nicht bemüht war, meine Fragen verständlich zu beantworten oder mir etwas meiner Angst zu nehmen. Im Gegenteil: Meistens führte ihre mangelhafte Kommunikation bei mir zu zusätzlichem Stress, Unklarheit und damit Angst. Es machte mich verrückt, dass sie mit den Migrationsbeamten über WhatsApp über meinen Antrag kommunizierte und mich nur auf Nachfrage meinerseits vage darüber in Kenntnis setze.  Nachdem die Dokumente eingereicht waren, musste ich erneut in die Migración, um dort eine Erklärung über die „Observaciones“ (Beobachtungen) während der Bearbeitung meines Antrags zu unterschreiben. Zuvor kam es wieder einmal zu Problemen hinsichtlich lächerlicher Details: Die Migración forderte das Deckblatt der Schulverfassung. Nach Rücksprache mit der Verwaltung meiner Schule sowie einem Notar war klar, dass ein solches jedoch nicht existierte. Mit viel Überredungskunst akzeptierte die Migración das dann auch. Meine Tramitadora hatte sich aus dem Prozess nun de facto herausgenommen und begleitete mich nicht mehr zu den Terminen – obwohl ich mir dies wünschte.

Wenn man es erstmal in den ersten Stock der Migración geschafft hat, muss schon einiges schiefgegangen sein. Dies wurde mir klar, nachdem ich bei diesem Termin 2,5 Stunden in dem engen Gang dieses unangenehmen Orts verbracht hatte und mich hierbei mit meinen Mitwartenden unterhielt. Nicht nur bei den Lehrer*innen in der Schule, auch bei meinen Mitwartenden war der Frust über die Arbeitsweise der Migración riesig. Ich unterhielt mich hierbei eingehender mit einem Bolivianer, der mir ebenfalls erzählte, dass der Frust über diese Behörde nicht nur wegen der weitverbreiteten Willkür, sondern auch der Demütigung aufgrund vernachlässigbarer Details (z.B. Überschriften von Dokumenten oder einzelne Buchstaben in Bescheinigungen) einen äußerst schlechten Ruf hat – immerhin bietet die Migración nicht nur Dienstleistungen für Ausländer, sondern auch für Bolivianer*innen an. Darüber hinaus ändern sich die Anforderungen, soweit sie denn beachtet werden, ständig (in letzter Zeit wurden sie deutlich strenger) und der Ausgang von Verfahren hängt oftmals von der Tagesstimmung eines Beamten ab. Auch die Lehrer*innen meiner Schule können mit frustrierenden Geschichten über die Migración Stunden füllen. Zumindest in der Schule meinte man auch zu mir, dass es bei mir schon wirklich schlecht gelaufen war. Normalerweise war der Prozess mit der Abgabe des Antrags abgeschlossen, was bei mir offenkundig nicht der Fall war.

Nachdem ich endlich an der Reihe war und die Erklärung unterschreiben konnte, versprach der Beamte mir, dass mein Visum am nächsten Tag fertig sein würde. Ich war mittlerweile mit den Nerven am Ende, da es sich so anfühlte, als würde das alles nie enden und die Migración immer weitere Dokumente fordern. Besonders Angst hatte ich, dass dies beispielsweise auch schwer zu beschaffende Dokumente aus Deutschland hätten sein können.

Als ich am nächsten Tag in die Migración ging, wurde ich jedoch abermals bitter enttäuscht. Entgegen der Versprechung am Tag zuvor war mein Antrag noch immer nicht fertig bearbeitet. Aufs Neue wartete ich eine ganze Weile in dem Gang, in dem ich bereits am Tag zuvor einige Stunden verbracht hatte. Es half jedoch nichts, der Verantwortliche der Migración vertröstete mich wieder auf den nächsten Tag.

Nun war ich endgültig mit den Nerven am Ende. Ich erinnere mich, dass ich in der kommenden Nacht kaum schlief. Das Visum war für mich schon immer ein absolutes Stressthema und nun schien es schlimmer als je zuvor. Aus Sorge, dass sich auch am folgenden Tag nichts bewegen würde, begleitete mich eine Lehrerin aus der Schweiz zur Migración, die bereits seit 15 Jahren in Bolivien lebt und viele eigene Erfahrungen mit dieser Behörde gemacht hat. Wir dachten uns bereits Argumentationsstrategien für das erneute Diskutieren mit dem Verantwortlichen aus. Doch das Undenkbare geschah: Mein Reisepass mit dem Visum wurde mir ausgehändigt. Es war leider der schönste Moment bis jetzt in Bolivien.

Doch damit war der Bördenmarathon noch nicht beendet, denn nun galt es, einen bolivianischen Personalausweis bei SEGIP zu beantragen. Dies ging jedoch weitestgehend reibungslos. Und nachdem aufs Neue mehrmals alle meine Fingerabdrücke genommen, Fotos von mir gemacht und ich eine saftige Gebühr bezahlte, hielt ich eine Woche später meinen Personalausweis in den Händen.

Insgesamt hat mich der Erwerb der Aufenthaltsgenehmigung(en) je nach Rechnung 600 bis 800 Euro gekostet und war alleine in Bolivien mit elf Behördengängen (plus fünf meiner Tramitadora) verbunden.

Ich hoffe, dass ich in diesem Jahr keine bolivianische Behörde mehr von innen sehen werde.