Von guten Mächten wunderbar geborgen

Von guten Mächten wunderbar geborgen

…erwarten wir getrost, was kommen mag… Deutschsprachiger Gesang erfüllt das Kirchenschiff. Wir befinden und einmal mehr in Südamerika, in Uruguay, und hören doch die deutsche Sprache. In der Nähe[1] meiner Einsatzstelle Nueva Helvecia befindet sich eine deutschsprachige Mennonitenkolonie, deren Kinder auch gerne in der Colonia Suiza zur Schule gehen. Höchste Zeit also, kurz vor Schluss dem Heimatort einiger meiner Schüler zusammen mit zwei Bekannten aus „meiner“ Kirchengemeinde einen Besuch abzustatten.

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Der Gottesdienst findet an einem Sonntagmorgen natürlich auf Deutsch statt und beginnt pünktlich. Meine beiden Begleiter sind dieser Sprache nicht mächtig und bekommen zwei Kopfhörer aufgesetzt, mit denen sie die spanische Simultanübersetzung des (wie für Frei-Kirchen üblich) frei gehaltenen Gottesdienstes verfolgen können. Ich komme mir vor wie bei der United Nations World Heritage Sustainable Development Conference[2] in New York und bin doch nur im Departamento San José.
Der Gottesdienst tut mir unglaublich gut. Erstens hatte ich schon länger keinen Gottesdienst mehr besucht, erst recht nicht auf Deutsch, zweitens erkenne ich viele der Lieder aus meiner alten Gemeinde in Deutschland wieder[3], drittens beeindruckt mich die Predigt sehr stark und viertens ist „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ mein Lieblingskirchenlied, und die Gemeinde exerziert alle sechs Strophen durch. Sie nehmen, einen Monat vor Schluss, für mich ein Stück Rückkehr nach Hause vorweg, und mir kommen fast die Tränen. Ich weiß jetzt immer noch nicht, was genau eigentlich Mennoniten sind, aber ich kann auf Anhieb keinen großen Unterschied zu jeder beliebigen anderen Freikirche erkennen.[4] Ich war aber auch nicht lange dort.

Der Pastor selbst ist erst kürzlich von einer längeren Reise zu den Verwandten nach Deutschland zurückgekehrt. Was hat ihn dort am meisten beeindruckt? Interessanterweise stellt er die Flüchtlinge in den Mittelpunkt seiner Predigt. Deutschland habe, getreu dem Merkel’schen Motto „Wir schaffen das!“, einfach mit angepackt, als Not am Mann war. Als Menschen mit „kaputtem Herzen“ kamen, gezeichnet vom Krieg und hungrig nicht nur nach Brot, sondern nach Liebe. Diesen Menschen beizustehen sei die allerchristlichste aller Aufgaben, denn Jesus ist wie der Arzt für die Kranken gekommen, nicht für die Gesunden, und in Deutschland engagierten sich zu seiner Überraschung nicht nur die Kirchen, sondern der gesamte deutsche Staat. Er stand daneben und staunte. Uruguay könne sich davon eine Scheibe abschneiden.

Doch wo kommen denn die ca. 100 Menschen genau her, die den Kirchenraum füllen, und die ca. 100 restlichen Einwohner der „Colonia Delta“, wie sich der Ort selber nennt? Es handelt sich ebenfalls um Flüchtlinge, und bedenkt man das, wird die Predigt des Pastors vor diesem Hintergrund vielleicht etwas verständlicher. Es sind Deutsche aus Danzig und Westpreußen, dem heutigen Polen, die nach dem zweiten Weltkrieg vor den Sowjets flohen und von ihrer Kirche eingeladen wurden, nach Uruguay zu kommen. Die genaue Antwort steht in einem Buch, das man mir auf meine interessierten Fragen hin gleich geschenkt hat, und dessen ich mir sicher spätestens auf dem 14-Stunden-Rückflug nach Deutschland annehmen werde. Die meisten Kolonisten sprechen auch noch Deutsch, fließend und im Alltag, denn die Kolonie ist sehr abgelegen. An der kolonieeigenen Privatschule gibt es sogar ein Austauschprogramm mit deutschen Freiwilligen. Doch es gibt Ehen mit Uruguayos, die Jungen ziehen in die Stadt, das Spanische gewinnt immer mehr an Dominanz, wie das eben so ist überall auf der Welt. Nach dem Gottesdienst sprechen wir ein wildes Durcheinander aus Deutsch und Spanisch, denn fast alle sind Zweisprachler, und noch konnte sich keine Sprache durchsetzen. Ich war ursprünglich davon ausgegangen, auf einen mir unverständlichen altdeutschen Dialekt zu treffen, musste dann aber feststellen, dass man in Colonia Delta ein relativ reines Hochdeutsch zu sprechen scheint, mit einem leichten ostdeutschen Einschlag, der mich an meine Großtante erinnert. Einzig und allein die zahlreichen Anglizismen, die das Deutsche in Deutschland in den letzten Jahren geflutet haben[5], konnten sich hier wohl nicht durchsetzen. Was auch kein Schaden ist.

Die deutschen Mennoniten, die auch spanisch sprechen, sie haben in Uruguay eine „neue Heimat“ gefunden (so der Titel ihres Buches), wo sie sich von guten Mächten wunderbar geborgen fühlen können. Und einen Teil dieser „neuen Heimat“ nehme wohl auch ich wieder mit nach Deutschland.


[1] nach uruguayischem Entfernungsmaß, also eine Autostunde entfernt

[2]oder wie auch immer deren hochdiplomatische Konferenzen immer heißen. P.S.: Word streicht „Nations“, „Heritage“ und „Sustainable“ als Fehler an, „United“, „World“ und „Development Conference“ dagegen nicht. Muss ich das verstehen?
[3] Später erfahre ich, dass einige sogar aus dem gleichen Liederbuch wie bei meiner deutschen Gemeinde stammen, „Feiert Jesus!“
[4] Wikipedia lehrt mich später, dass für die mennonitische Theologie unter anderem die Bergpredigt zentral ist und „Die Verbindung von Ethik und Ekklesiologie […] charakteristisch für die mennonitische Theologie“ ist. Auch unter diesem Licht sehe ich die Predigt noch mal neu. (https://de.wikipedia.org/wiki/Mennoniten, zuletzt abgerufen am 24.07.2016)
[5] Bei PEGIDA sollten sie lieber gegen Anglizismen protestieren als gegen Flüchtlinge.

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