Oh, wie schön ist Iguazú
Ich könnte ein Stempelmuseum aufmachen. Jedes Mal, wenn ich den Río de la Plata überquere und nach Argentinien reise, erhält mein Reisepass gefühlt ein Dutzend neuer Ein-, Aus- und Umreisestempel eingestempelt. Am Ende dieses Jahres werde ich wohl einen neuen Reisepass beantragen würde. Ich male mir schon aus, wie ich in meinem kleinen bayerischen Kaff (für dessen Einwohner Baden-Württemberg schon als „Ausland“ gilt) zum Bürgerbüro gehe:
„Guten Tag, ich brauche einen neuen Reisepass.“
„Hm, lassen’s mal sehen… Wieso, der ist doch noch bis 2019 gültig…?“
„Ja, aber der is voll…“
„Wie, der is voll… den kriegen’S doch gar net voll, im ganzen Leben net…?“
„Ja, da müssen Sie halt auch mal wo anders hinreisen als in den nächsten Landkreis, dann kriegen Sie den schon voll!“
Ja mei. Dann braucht der junge Mann halt einen neuen Reisepass. Ha noi! Sachen gibt’s.
So, genug gelästert. Das Reiseziel diesmal ist das argentinische Departamento Misiones. Dort findet nicht nur ein Feriencamp statt, zu welchem das Goethe-Institut nicht nur mich und fünf weitere Freiwillige als Betreuer beorderte, sondern auch der kommerzielle Ausverkauf eines der größten Naturwunder des Landes, vielleicht gar der ganzen Welt: der Wasserfälle von Iguazú.
Die Stadt der Diebe
Doch erst mal muss ich da natürlich irgendwie hinkommen, so hoch in den Norden. Da ich keine Lust auf eine zwanzig Stunden lange Busfahrt hatte, hatte ich mich für einen Flug entschieden und fuhr also eines Tages (nach erfolgter Río-de-la-Plata-Überquerung natürlich; wie immer) mit dem Taxi zum nationalen Flughafen von Buenos Aires. Bisher habe ich mit den Taxis dieser Stadt eigentlich nur gute Erfahrungen gemacht: ich kam überall dort an, wo ich hinwollte, schnell, unkompliziert und zu einem immer noch akzeptablem Preis. Der Taxifahrer, den ich diesmal erwischt hatte, war ein etwas älterer Herr mit Hut. Zuerst hatte ich mich gefreut, dass er – im Gegensatz zu allen anderen Taxifahrern bisher – sehr gesprächig war, mich fragte, woher ich käme und wohin ich ginge. Die anderen hatten mich alle nur angeschwiegen. Zuverlässig, aber anonym. Dann fing er an zu singen. Tango. Er fragte mich, ob ich Tango tanzen oder wenigstens singen könne, was ich beides verneinte, und da ich ja offensichtlich diese argentinische Kunstform noch nicht kennengelernt hatte, gab er mir gleich die entsprechende Gelegenheit. Ich lachte mich innerlich halb tot und dachte, ist okay, du hast dir dein Trinkgeld ja schon verdient.
Dann der Höhepunkt der Vorführung: wir müssten noch schnell tanken fahren. Ob mir das etwas ausmachen würde? Ja klar. Auf meine Kosten. Damit du bei laufendem Taxameter dem Tankwart La Cumparsita vorsingen kannst. Und außerdem wartet mein Flieger nicht.
Der Herr ließ sich am Ende leider nicht von seinem Vorhaben abbringen und gab mir immerhin einen Rabatt von sage und schreibe sieben Pesos. Das Trinkgeld war damit natürlich erst mal gestrichen. Buenos Aires, Stadt der Diebe.
El famoso PASCH-Camp
Das langfristige Ziel der Reise, das kleine Örtchen Eldorado, liegt auf halber Strecke zwischen der Wasserfall- und Regionalflughafenstadt Puerto Iguazú im Norden und der Departamentohauptstadt Posadas im Süden von Misiones. Das Departamento heißt wohl so nach den zahlreichen Jesuitenreduktionen, die sich hier und im benachbarten Paraguay finden und für deren Besuch ich leider keine Zeit mehr gefunden habe. Wer mehr darüber wissen möchte, sei auf meinen Beitrag zur Calera de las Huérfanas in Carmelo, Uruguay, verwiesen.
Dieser Flecken eisenerzroter Erde sollte also für die kommende Woche erst sechs, dann fünf Freiwilligen aus ganz Argentinien Heimat bieten. Wir waren gemeinsam in einem kleinen Häuschen mitten im Urwald untergebracht, das die örtliche Fundación Wachnitz an PASCH vermietet hatte, und in dem es seit Dezember weder Internet- noch Handysignal gab. técnica argentina halt. Dafür aber jede Menge tropische und subtropische Früchte:
Man kann sich vorstellen, dass dort auch das entsprechende Klima herrschte. Die wichtigsten Utensilien in dieser Subtropenregion waren für uns: Sonnencreme Lichtschutzfaktor 50, dosenweise Mückenspray und Wasser, bis zu sechs Liter am Tag. Die Tatsache, dass die Mücken einige von uns bevorzugt stachen und andere eher weniger, war dauerhaftes Gesprächsthema bis zum letzten Tag meines Aufenthaltes.
So ausgerüstet waren wir also bereit für das sogenannte PASCH-Camp, das sich im Wesentlichen vormittags im örtlichen Tennisclub und nachmittags in einem von der evangelischen Kirche getragenen Kinderheim namens „Betania“ abspielte. Beide Programmpunkte wurden hauptsächlich von Kindern aus Armenvierteln besucht, im Alter von fünf bis 19 Jahren. In der konkreten Ausgestaltung des Camp-Programms waren wir recht frei, um nicht zu sagen: planlos. Im Tennisclub hatten wir nicht viel weiteres zu tun, als den Kindern beim wahlweisen Fußball-, Volleyball- oder Tennisspiel zuzuschauen oder „aktiv mitzuwirken“, sprich einfach mitzuspielen, weswegen wir diesen Programmpunkt eigenmächtig zu Beginn der zweiten Woche schwänzten und die Tennisclubber ihr eigenes Ding machen ließen. Im Betania waren wir wesentlich flexibler und gestalteten unser eigenes Programm, das im Wesentlichen aus Malen, Masken- und Papierfliegerbasteln sowie UNO spielen bestand.
Oh, wie schön ist die EU
Der größte Programmpunkt jedoch waren für mich sicherlich die Wasserfälle von Iguazú. Wobei „Programmpunkt“ deutlich übertrieben ist, schließlich ging ich da nicht mit den Kindern hin, sondern allein, an meinem einzigen freien Wochenende. Die anderen hatten beschlossen, sich zuerst die Ruinen von San Ignacio Mini anzusehen, weil zwei Freiwillige an diesem Wochenende bereits wieder abreisten und genau in diese Richtung mussten. Sie alle hatten noch ein zweites Wochenende übrig und waren deshalb flexibel in der Reihenfolge, in der sie die beiden größten Touristenattraktionen Misiones‘ anschauen würden. Ich hingegen hatte nur ein freies Wochenende, und das wollte ich für Iguazú nutzen.
Man muss auch tatsächlich zwei Tage für Iguazú einplanen, denn die Wasserfälle liegen mitten auf der Staatsgrenze zwischen Argentinien und Brasilien. Es gibt folglich eine brasilianische und eine argentinische Seite zu besichtigen, wobei man für die brasilianische Seite deutlich weniger Zeit braucht, da die Fälle hauptsächlich in Argentinien liegen. Also zuerst einmal, direkt nach meiner Ankunft am Samstagnachmittag, nach Brasilien. Das geht erstaunlich unkompliziert, ein bisschen Nachschub für mein Stempelmuseum und schon bin ich drüben. Das ganze wäre sogar noch viel unkomplizierter, wenn Argentinien und Brasilien ein besseres Verhältnis hätten, wenn das südamerikanische Freihandelsabkommen MERCOSUR mehr der EU ähneln würde als einem leeren Blatt Papier. Hier in Lateinamerika, mit den ständigen Grenzkontrollen, werde ich noch mehr zum Europäer, als ich es sowieso schon war. Zuhause in Europa gilt Brüssel mittlerweile als Synonym für Bürokratie und Zentralismus. Hier in Südamerika blicken sie neidisch auf die „alte Welt“, wo man frei herumreisen kann, ohne auch nur ein einziges Mal seinen Pass vorzeigen zu müssen.
Exkurs: kulturweit als globale Elite
Überhaupt, mein Reisepass. Ich habe mit einem deutschen Pass das Glück, 173 Staaten dieser Erde visumfrei bereisen zu dürfen. Das ist weltweite Spitzenposition zusammen mit dem Vereinigten Königreich. Ich habe vor kurzem einen Blogbeitrag eines Freiwilligen in Äthiopien gelesen, der in seinen Ferien Somaliland bereist hat. Das ist der kleine Zipfel im Norden Somalias, der im Gegensatz zum Rest des Landes einen halbwegs funktionsfähigen Staat aufweist, gerne unabhängig sein würde, aber vom Rest der internationalen Staatengemeinschaft ignoriert wird. Man muss sich das einmal vorstellen: hier bereist ein Deutscher das Land, aus dem de jure die Flüchtlinge zu uns kommen. Als Tourist, für den aufgrund seines Vermögens und seines Losglücks in der weltweiten Geburtenlotterie Grenzen ihre Bedeutung verloren haben. kulturweit ist Teil einer globalen Elite, für die die Idee eines Nationalstaats keinen Sinn mehr ergibt und die mit drei SIM-Karten und vier Währungen im Geldbeutel herumhantieren. Was passiert, wenn man sechs Einserabiturienten zwei Wochen lang auf engstem Raum einsperrt? Welche Gesprächsthemen ergeben sich da, wenn man bis nachts um halb drei noch Er ist wieder da als Hörbuch anhört?
Bilder Iguazú – Brasilianische Seite
Besser als in Dubai
Auch Puerto Iguazú liegt im Grenzgebiet zwischen Paraguay, Brasilien und Argentinien, weswegen man sich auf argentinischer Seite gemüßigt sah, an exponierter Stelle einen „Obelisco Tres Fronteras“ in den Nationalfarben samt Springbrunnen hinzupflanzen. Auf Empfehlung der Hotelrezeption sehe ich mir die Anlage bei Sonnenuntergang an. Ich mache meine Fotos und will eigentlich schon gehen, da beginnt der Springbrunnen ein Fontänenschauspiel, von dem sich sogar der Scheich von Dubai noch eine Scheibe abschneiden könnte. Falls Sie das weltgrößte Fontänenspiel dort schon mal gesehen haben (Stichwort: keine Grenzen, globale Elite). Die Technik nutzt den Sprühnebel des Wassers als Projektionsfläche, um dort scheinbar lebendige Figuren aus allen drei Ländern tanzen zu lassen. Mit einem Wisch ist das Spiel schon wieder vorbei; es wirkt gespenstisch, wie die Wasserfrauen- und Männer in sich zusammenfallen – und wieder auferstehen. Das ist der Kreislauf des Lebens, und Wasser ist das Element des Lebens.
Iguazú auf argentinisch
Das darf ich am zweiten Tag meines Iguazú-Besuchs auch erfahren, auf der wesentlich größeren Seite dieser natürlichen Wasserfontäne. Die Wälder von Iguazú, so informiert ein Besucherzentrum und zahlreiche Schautafeln auf dem Weg, sind nicht tot, sondern voller Leben: Schmetterlinge in allen Farben und Formen, die unvermeidlichen Stechmücken natürlich und: die Quatis. Diese kleinen affenartigen Wesen entfalten einen besonderen Reiz, wenn sie versuchen, dem Besucher – also mir – die Mittagspause aus der Hand zu klauen. Äußerst angenehm.
Doch nicht nur Affen, auch Wasser kann eine zerstörerische Kraft entfalten. Insbesondere auf dem Weg zum Höhepunkt der Wasserfälle, der garganta del diablo (Teufelsrachen) kann man die Ruinen des alten Besucherstegs beobachten, der bei der letzten großen Flut zerstört und dann an anderer Stelle wieder aufgebaut wurde. Als ich dann wirklich an der garganta stehe und das Wasser von oben herabbrausen sehe, metertief in die Schlucht fallen, stelle ich fest: etwas Derartiges habe ich noch nie gesehen.
Bilder Iguazú – Argentinien
Einfach nur Pech
So könnten die Wasserfälle noch fallen, wenn sie nicht ausgetrocknet sind, wenn es nicht noch einen Nachtrag hinzuzufügen gäbe. Das Pech, das ich auf der Hinreise hatte, ich noch gar nichts im Vergleich mit dem Pech, das ich jetzt hatte. Aber von Anfang an.
Der Ursprung allen Unglücks ist mal wieder das Taxi am Flughafen in Buenos Aires, diesmal in die andere Richtung, zurück zum Fährhafen. Ich fahre wieder ColoniaExpress (was sich später noch als Fehler herausstellen sollte). Diese Firma hat eine eigene Ablegestelle abseits der repräsentativ im modernen Puerto Madero gelegenen Ablegestelle der Konkurrenz. Bisher hatten alle Taxifahrer diesen etwas versteckten Ort meiner Sehnsüchte 🙂 immer auf Anhieb gefunden, indem ich einfach nur al Puerto Madero, donde salen los barcos de ColoniaExpress sagte. Bisher, denn zum ersten Mal seit fast einem halben Jahr nun behauptet mein Taxifahrer, diesen Ort gebe es nicht. Ich weiß es besser, aber leider die genaue Adresse nicht. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als alle paar Meter anzuhalten und die Beamten der Hafenpolizei nach dem Weg zu fragen, auf meine Kosten, selbstredend. Dass sie nicht uns beide wegen Fahrens ohne Anschnallgurt auf der Stelle verhaftet haben, ist in Argentinien noch die kleinste Überraschung.
Die größte Überraschung ist nämlich der Blick auf den Río de la Plata, als wir dann endlich doch noch unser Ziel finden. Zuerst denke ich, sie hätten das Wasser abgelassen und Fußballrasen angepflanzt. Dann sehe ich: Algen. Lauter grüne Algen, die in der Folge das gesamte Team von ColoniaExpress eineinhalbstunden lang beschäftigen, weil unter diesen Umständen die Fähre nicht anlegen kann.
Wir fahren also viel zu spät los und müssen, so scheint es mir, noch dazu langsamer fahren, weil auf dem Río zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, ein Unwetter aufkommt. Nicht vergessen: wir reden vom breitesten Fluss der Welt, bis auf das mangelnde Salzwasser sprechen wir hier eher von einem Meer und nicht von einem Flüsslein, das in zehn Minuten überquert ist. Schon vor dem Boarding checke ich verzweifelt die Homepages der Busfirmen auf der anderen Seite für die späteste Busverbindung nach Nueva Helvecia und stelle fest: spätestens um 22 Uhr ist Schluss. Ich betrete um 22:05 uruguayischen Boden und brauche bis 22:15, bis ich durch die Gepäckkontrolle am Terminal bin. Da Colonia Endstation ist und der Bus von hier losfährt, ist er ausnahmsweise pünktlich. Nichts zu machen. Kein Bus mehr für Jan Doria.
Ich muss also ein Mal in Colonia übernachten und spiele die Reise nach Betlehem: Und sie legten sich auf die Parkbank, weil im Hostel kein Platz mehr für sie war. Beim dritten Hostel nehmen sie mich auf. Jetzt sitze ich um elf Uhr in der Hostellobby, genieße kostenfreies W-LAN und überlege, ob ich mich morgen wegen 450 (uruguayischen) Pesos Übernachtungspreis (ca. 13 Euro) mit der Servicehotline von ColoniaExpress streiten soll, ob sie mir die Übernachtung zahlen. Na dann gute Nacht.
Ich habe gerade zufällig deine Frage zu den Touren in San Pedro de Atacama in Madlen’s Blog entdeckt. Ich werde beim Hostal Desert unterkommen, die vermitteln auch viele Touren. Hier ist das PDF mit dem Angebot dazu: http://www.directupload.net/file/d/4255/2rdhccue_pdf.htm
Und hier auch noch das Video von eurem Interview in Betania: https://www.youtube.com/watch?v=viaFd74V63Y
Wer eine Reise unternimmt hat immer was zu erzählen. Das war der bisher beste Blogbeitrag. Ich bin mir sicher, den wirst Du mit Deiner Chile Reise noch toppen können.
Bevor Dein Reisepass voll ist, bringe ich Dir nächste Woche noch einen Neuen mit 🙂