Yo nací con memoria

Yo nací con memoria

Silvester in Buenos Aires. Das war die Idee. Bereits kurz nach dem Zwischenseminar hatten Rebecca, die Freiwillige aus Buenos Aires, und Josephine, meine Nachbarin aus Colonia del Sacramento, die jetzt nach Montevideo gewechselt ist, beschlossen, Silvester in Buenos Aires zu verbringen. Da sich die einstündige Fährfahrt für einen einzigen Tag nicht lohnen würde, nahm ich mir ein wenig mehr Zeit, um diese Stadt, in der ich nun schon drei Mal war und doch kaum etwas von ihr gesehen habe, näher zu erkunden. Diesmal mit dem Fokus auf der argentinischen Geschichte. Yo nací con memoria, ich bin mit einem Gedächtnis zur Welt gekommen, und an diesen Jahreswechsel werde ich mich sicher noch lange erinnern.

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Ich mache mir langsam Sorgen um ColoniaExpress. Das ist der Fähranbieter, mit dem ich immer über den Río de la Plata nach Buenos Aires fahre. Dieser verfügt über eine moderne Hochgeschwindigkeitsfähre, welche die 50 Kilometer einfache Strecke in für Schiffe sehr schneller einer Stunde schafft. Nur leider verfügen sie, wie mir scheint, eben nur über eine Hochgeschwindigkeitsfähre, die drei Mal am Tag zwischen Buenos Aires und Colonia del Sacramento pendelt. Wenn da einmal eine Verspätung aufkommt, schleppt die Fähre die Verspätung mit – und kommt Stunden zu spät an meinem Ziel Buenos Aires an.

La Recoleta

Deswegen musste ich meinen ursprünglichen Plan aufgeben. Ich wollte eigentlich gleich an meinem ersten Tag mir den Friedhof La Recoleta anschauen, musste dann aber feststellen, dass dieser bereits geschlossen hatte. Macht nichts, ich war ja länger da, also komme ich eben einen Tag später wieder zurück. La Recoleta ist der Friedhof von Buenos Aires. Jeder, der in Argentiniens Geschichte wichtig war oder sich für wichtig hielt, ließ sich dort bestatten. Anwälte, Generäle, Staatspräsidenten. Das Besondere an dem Friedhof ist, dass die Gräber dort nicht einfach in die Erde eingelassen sind wie in Deutschland, auch nicht in Schrankwänden eingemauert wie in Italien, sondern in ewig langen Aufreihungen von Mausoleen stehen, eines protziger als das andere. Das macht den Friedhof zum Touristenziel, die unvermeidlichen Japaner inbegriffen. Ich fühle mich etwas unwohl dabei: darf man das? Einen Friedhof anschauen wie ein Museum oder eine Stadt, mit der Kamera in der Hand? Wenn noch dazu die Mausoleen fast alle Glastüren haben und man folglich die Särge sehen kann, die dort teilweise schon seit Jahrhunderten „ruhen“? Ich beschließe, ausnahmsweise auf Fotos zu verzichten, genauso, wie ich von den Gaskammern in Dachau keine Fotos gemacht habe, als ich dort war. Ich finde, an dieser Stelle muss man einfach ein bisschen Respekt zeigen vor Dingen, die sich nicht in Euros und Pesos messen lassen.

Für das Grab von Evita gilt das natürlich nicht. María Eva Duarte Perón war zuerst Radiomoderatorin, dann Schauspielerin und schließlich als Frau des Präsidenten Juan Domingo Perón und Mitbegründerin des linkspopulistischen Peronismus, der Argentiniens Politik bis heute prägt, eine der schillerndsten Persönlichkeiten des Landes. Von ihren Anhängern wird sie als Heilige verehrt. Immortal Evita. Das ist vielleicht ein wenig übertrieben, denn ihr Mann führte das Land autoritär, verbot freie Zeitungen und verhaftete haufenweise Oppositionelle. Aber wie die Geschichte wirklich war, das muss ja heutzutage keiner mehr so genau wissen.


Die mechanische Blume ist ein weiteres Wahrzeichen von Buenos Aires:

Eine Geschichtsstunde mit den Madres de la Plaza de Mayo

Es gibt jedoch Menschen, denen diese Geschichtsvergessenheit, ja gar Geschichtsfälschung fast so gar nicht in den Kram passt. Jeden Donnerstag zum Beispiel findet um 15:30 Uhr auf Buenos Aires’ zentraler Plaza de Mayo eine Demonstration statt, die in den dreißig Jahren ihres Bestehens schon fast zum Ritual geworden ist. Dennoch spielt sie eine wichtige Rolle in der Geschichte dieses Landes. Es ist die Geschichte der Madres de la Plaza de Mayo, und es ist eine traurige Geschichte. Auch Argentinien ging, wie Uruguay, durch eine Phase der Militärdiktatur, mit desaparecidos und allem, was dazugehört. Menschen wurden auf offener Strasse vom Militär verhaftet und verschwanden in Konzentrationslagern, wo sie gefoltert und ermordert wurden. War eine desaparecida schwanger, so konnte es gut sein, dass ihr das Kind weggenommen wurde, zur Zwangsadoption durch kinderlose Angehörige der Militärjunta. Noch heute bleiben Tausende Menschen spurlos verschwunden, und hunderte Kinder ahnen nicht einmal, wer ihre wahren Eltern sind.

Das alles rief die Madres de la Plaza de Mayo auf den Plan. Einer Gruppe von verzweifelten Müttern, die endlich Aufklärung über ihre verschwundenen Söhne und Töchter von der Militärjunta verlangte – und dafür auf die Strasse ging. Jeden Donnerstag umrundeten sie schweigend die Plaza de Mayo, immer gehend, denn öffentlich stehenzubleiben und zu sprechen hatten die Militärs verboten. Das weiße Kopftuch, das sie dabei trugen, wurde ihr Markenzeichen. Nach dem Ende der Diktatur in Argentinien wollte von dieser Geschichte, wie so oft, keiner mehr wissen. Deswegen marschieren die madres weiter, bis heute, im hohen Alter, in der Hoffnung, dass ihre verschwundenen Kinder noch leben.

Ich mache mich also am letzten Tag des Jahres 2015 auf, um Zeuge zu werden dieser Demonstration. Als ich mit der Kamera in der Hand den Platz erreiche, frage ich mich, in welcher Rolle ich wohl bei diesem Protest stecke. Bin ich nur ein klassischer Tourist, der ein paar Fotos macht, um sie danach vorzuzeigen und zu sagen, guck mal, da war ich, wie geil? Oder bin ich, weil ich einen Blog schreibe und später über das Geschehene berichten werde, ein Journalist, der neutral bleiben muss und sich mit keiner Sache gemein macht, auch nicht mit einer Guten? Oder will ich mich tatsächlich ganz bewusst diesen Müttern anschliessen, ebenfalls anschreien gegen dieses Unrecht, das mich als unbeteiligten Ausländer dann doch nichts angeht?

Zu Beginn der Demonstration mache ich tatsächlich nur ein paar harmlose Fotos. Dann aber beginnen die madres zu singen. Yo nací con memoria, yo sé lo que pasó, conozco la historía. „Ich kam mit einem Gedächtnis zur Welt, ich weiß, was passiert ist, ich kenne die Geschichte.“ Diesen Frauen, denen man ihr Liebstes auf der Welt genommen hat, ihre Kinder, man kann ihnen nichts vormachen. Man kann ihnen nicht erzählen, „das ist doch schon dreißig Jahre her und wen interessiert das noch“. Nein, der Schmerz des Verlusts ist immer noch da, und ihre Verzweiflung ob der immer noch unaufgeklärten Fälle ist noch größer. Sie steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Man darf nicht vergessen. Und auf einmal, in diesem Moment, wird mir bewusst, dass diese Frauen auch etwas mit mir zu tun haben, mit uns Deutschen. Hatten wir nicht auch eine Diktatur, die nach dem Krieg unter den Teppich gekehrt wurde und von der keiner mehr wissen wollte? Die „Stunde Null“, der „Schlussstrich“, und natürlich waren Herr Meier und Frau Schmid nie Nazis. Es konnte ja keiner was dafür, es haben alle nur ihre Befehle verfolgt, und sowieso sind „die da oben“ Schuld. Was niemanden daran hinderte, nach dem Krieg ehemalige Nazis in Top-Positionen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zuzulassen. Erst in den 60er Jahren kam die nächste Generation, die fragte, „Mama, Papa, yo nací con memoria. Was hast du damals bloß getan?“

Wir dürfen nicht vergessen, und diese Frauen kämpfen an gegen das Vergessen. Das ist die Gemeinsamkeit, die ich, der ihnen fremde deutsche Tourist, mit den mir fremden Müttern habe. The story must be told. Ganz langsam, in den letzten Metern, reihe ich mich ein hinter die transparenttragtenden madres – und laufe die letzten Schritte mit.

Nach der halbstündigen Umrundung des Obelisken auf der Plaza de Mayo dann noch eine kleine Ansprache einer der madres. Sie spricht lautstarkt und energisch, engagiert, wie ich es in ihrem Altern gar nicht mehr zugetraut hätte. Neben dem eigentlichen Anliegen der madres kritisiert sie auch die aktuelle Innenpolitik und den neuen argentinischen Präsidenten Macri, weil er, da ohne Parlamentsmehrheit, genauso wie US-Präsident Barack Obama mit Dekreten regiert. Für sie ist das undemokratisch, ein Rückfall in diktatorische Zeiten droht, und Macri habe schlicht nicht genug Eier, um sich Parlamentsmehrheiten zu suchen. Das hat sie wirklich so gesagt.

Fragen über Fragen

Während ich auf dem Rückweg in der Subte (der U-Bahn von Buenos Aires) noch über das eben erlebte nachdenke, begegnet mir gleich die nächste moralische Herausforderung. Ich habe schon einmal ausführlicher über die Frage gesprochen, ob Uruguay (und Argentinien) nun „arm“ sind oder nicht. Für meine Gastmutter ist das fast ein Lieblingsthema, ob Uruguay ein Entwicklungsland ist oder nicht. Sie sagt ja, ich sage nein. In der Subte also wird die vorhandene Armut sichtbar, denn dort wird gebettelt. In den fahrenden Zügen, nicht nur auf dem Gang. Es gibt verschiedene Möglichkeiten und anscheinend auch verschiedene Gruppen von Personen, die betteln. Zum einen ist da der Klassiker: Gitarre auspacken, Musik an und los geht’s. Wahlweise kommen auch Posaunen, Gesang oder gleich ein ganzes Keyboard zum Einsatz, inklusive selbst mitgebrachtem Verstärker. Einige Bettler spielen richtig gut, das gibt dann ein kleines Konzert in der U-Bahn, das bloß leider ständig von den Haltestellenansagen unterbrochen wird. Ich habe außerdem das Gefühl, dass einige „Musiker“ von der Kleidung, ihrem Können und ihrem Equipment her eher der Gruppe der Studenten zuzuordnen sind, die versuchen, sich so etwas dazuzuverdienen. Die andere Möglichkeit ist, etwas zu verkaufen, und eine solche habe ich beobachtet: ein Bettler steigt mit seiner Ware, mehr oder weniger nützliche Dinge wie Kaugummi, Haarbänder oder Stickerhefte in den Händen zu und versucht, das Zeug loszuwerden. Dabei teilt der fahrende Händler seine Ware auf dem Schoß der Fahrgäste aus, egal, ob man sie kaufen will oder nicht. Auf ihr ist ein Preis ausgeschrieben. Danach sammelt er die ganze Ware wieder ein. Wer etwas kaufen will, streckt ihm den entsprechenden Geldschein einfach entgegen, und darf seinen Kaugummi oder was-auch-immer dann behalten. Ich finde persönlich dieses System etwas aufwändig und verstehe nicht, warum man das Zeug vorher erst austeilen muss, um es dann wieder einzusammeln, aber gut.

In meinem Fall war es also ein Haargummi, ausgeteilt von einem kleinen Mädchen, das eigentlich in die Grundschule gehört. Neben dem üblichen Preisschild teilte sie auch noch einen kleinen weißen Zettel aus (den sie auch wieder einsammelte), auf dem ungefähr stand: ich bin ein armes kleines Kind, dass sich sein weniges Essen mit seinen kleinen Brüderlein (hermanitos chiquitos, stand da wirklich so) teilen muss. Bitte geben Sie mir doch ein paar Münzen und helfen Sie mir, damit wir nicht Hunger haben und ein bisschen Brot kaufen können. Das noch jüngere Brüderlein kam gleich im Schlepptau hinterher. Von den Eltern keine Spur, nur die große Schwester war noch dabei. So wird natürlich ganz bewusst moralischer Druck aufgebaut: „Die süßen kleinen Kinderlein, den muss man doch helfen…!“ Die Situation des kleinen Mädchens bleibt für den Fahrgast jedoch völlig undurchschaubar, und die kleine Spende ist wohl das, was ihr am wenigsten hilft. Eher bräuchte sie substantielle Unterstützung – vor allem müsste sie in der Schule. Warum geht sie denn zum Betteln? Wird sie dazu gezwungen? Wer kassiert das Geld, und wofür wird es wirklich ausgegeben? Warum sind die Eltern arm – selbstverschuldet, weil sie alkohol- oder drogenabhängig sind und abends ihre Tochter verprügeln, wenn sie nicht genug Geld für die nächste Flasche Bier mit heimbringt? Oder fremdverschuldet, weil schwer krank, arbeitslos oder weil ihnen das Leben eben schlecht mitgespielt hat? Und warum erhalten sie offensichtlich von niemandem Hilfe, vom Staat nicht, von den Kirchen nicht, von den NGOs nicht? Gibt es keine Hilfe hier in Argentinien – oder nehmen sie diese bloß nicht an? Fragen über Fragen, und am Ende bleibt nur die ausgestreckte Hand des kleinen Kindes. Spenden oder nicht spenden. Ich spende nichts, denn wenn ich jedem Bettler in Buenos Aires etwas geben würde, könnte ich eine eigene Hilfsorganisation aufmachen. Papst Franziskus hätte das wohl getan.

Besondere Diskussionen in einem besonderen Restaurant – Silvester in Buenos Aires

Es gibt Menschen, die Leute wie Mauricio Macri für steigende Armut verantwortlich machen. Der neue argentinische Präsident bleibt das beherrschende Thema dieses Silvesterabends. Am 18. Dezember 2015 gelang es ihm, eines seiner Wahlversprechen in die Tat umzusetzen: die massive Abwertung des argentinischen Pesos. Über Nacht schnellte ohne Vorwarnung der Kurs der Landeswährung von 1:10,6 auf 1:14,2 im Vergleich zum Euro hoch. Außerdem scheint die neue Regierung endlich Geld gedruckt zu haben, denn früher bekam ich immer nur alte, zerknitterte, mit Tesastreifen (!) geflickte Scheine. Jetzt gibt es auf einmal bankfrische Scheine im Umlauf. Argentinien ist durch die Abwertung natürlich deutlich billiger für mich geworden – und die überschlagsmäßige Umrechnung im Alltag deutlich schwieriger. Es steht aber nun zu erwarten, dass die Inflation noch weiter anzieht und die Preise steigen. In dem Restaurant, in dem wir den Jahreswechsel verbrachten, wurde Macri dafür auch von meinem Gesprächspartner, einem eingefleischten Kirchneristen, der lieber Scioli an der Macht gesehen hätte, deutlich kritisiert. Macri würde die Steuern für Reiche senken und den Armen das Leben schwerer machen, als es so schon ist. Ich hielt dagegen, dass die protektionistische Wirtschaftspolitik der beiden Kirchners doch wohl eindeutig gescheitert sei und es Zeit für einen Regierungswechsel wäre. Irgendwann waren ihm wohl entweder meine Argumente zu gut oder aber das Gespräch zu blöd, jedenfalls ist er dann gegangen.

Das Restaurant, in dem dieses Gespräch stattfand, war dabei ein ganz besonderes. Eine brasilianische Bar in Palermo, das reichhaltige Neujahrsmenü für 200 Pesos pro Person und nach Mitternacht dann noch Livemusik, so wurde uns auf Nachfrage beschieden. Das erschien uns als ein guter Preis. Ursprünglich wollten wir dann ja eigentlich vor Mitternacht zur Puente de la Mujer am Puerto Madero aufbrechen und dort das Feuerwerk anschauen, aber dafür hatten wir zu spät zu essen begonnen. So rutschten wir also bei brasilianischem Essen und vergleichsweise wenig Feuerwerk ins neue Jahr hinüber. Nach dem Essen, der versprochenen Musik und ein wenig Tanz dann die gesalzene Rechnung: das Menü kostete nicht 200 Pesos wie versprochen, sondern glatt das Vierfache. Also 800 Pesos. Pro Person. Immer noch mehr als 55 Euro nach dem neuen Kurs. Das Essen war zwar sehr gut, so viel aber bei Weitem nicht wert. Seltsamerweise wurde auf der Rechnung jedoch as Menü nur zwei Mal berechnet, was einen immer noch stolzen Preis von 400 Pesos (28 Euro) pro Person ergab. Als zusätzliche Dreingabe des Restaurants noch ein Bier im Wert von 60 Pesos, das wir gar nicht bestellt hatten. Nach längerer Diskussion zahlten wir diesen seltsamen Preis dann doch. Es wäre aber auch sinnlos gewesen, zu diskutieren. In diesem Land werden Gesetze nicht so streng gehandhabt, da sind dann eben wir die Dummen. Wir beschlossen aber, auf das eigentlich fällige dicke Trinkgeld zu verzichten (die Bedienung war sehr gut, fast genauso gut wie das Essen). Keinen Peso mehr für diesen Laden. In Buenos Aires, scheint es, gibt es Diebe also nicht nur auf der Straße, sondern auch in den Häusern innendrin.

Der Papst in La Boca

Die meisten Diebe gibt es aber laut Reiseführer nicht im sichersten aller Viertel, Palermo, sondern in La Boca. Dummerweise befindet sich aber in diesem Stadtviertel im Süden der Stadt die kleine Straße El Caminito („das Weglein“), ein Haupttouristenziel, weil die Häuser dort so schön bunt angemalt sind wie sonst nirgendwo auf der Welt. Auf die Idee kam ein Künstler, der 1955 übriggebliebene Lackierfarbe der Schiffe im nahen Hafen verwendete, um die Wellblechhäuser seines Viertels bunt anzusprühen. So kann man eben auch Touristen anlocken. Der Reiseführer jedenfalls empfiehlt entgegen seiner Gewohnheit (es handelt sich um einen Lonely Planet), auf jeden Fall auf den ausgelatschten Touristenwegen zu bleiben, um keine Raubüberfälle zu riskieren. Außerdem solle man mit dem Bus möglichst nahe ran an den Caminito fahren und dann auch möglichst direkt wieder abfahren. Gott sei Dank ist das Bussystem in Buenos Aires nicht einmal halb so kompliziert wie das in Montevideo. Ich fühle mich in der Tat etwas unwohl dabei, als ich den Bus betrete. Sind das nur Vorurteile gegenüber einer Gesellschaft abseits der Touristenrouten, mit denen wir sonst nicht in Berührung kommen – in die aber Papst Franziskus seinerzeit als Erzbischof genauso gegangen ist wie sein Vorbild, Jesus Christus selbst, vor 2000 Jahren? Das sind wohl so die Gedanken, die man sich in der Weihnachtszeit und zum Jahreswechsel macht. Am Ende passiert mir natürlich nichts, auch wenn ich recht schnell wieder zurückfahre. Der Papst der Armen als Plastikstatue in einem konsumorientierten Touristen-Einkaufszentrum, das hat mir dann doch nicht gefallen.

Der Papst der Armen im Einkaufszentrum der Reichen: ob das zusammenpasst...?

Der Papst der Armen im Einkaufszentrum der Reichen: ob das zusammenpasst…?

Zwei Versionen derselben Geschichte

Zurück zur Geschichte, denn die ist eine eindeutige Sache. Wer tot ist, kann sich nicht im Grab umdrehen, und wenn es irgendwo ein Dokument gibt, das eindeutig belegt, das 18dannundwann dieses und jenes geschah, dann ist die Sache ja wohl klar. So dachte ich anfangs als kleiner Sechstklässler, als mein Geschichtsunterricht begann. Ich wurde natürlich schnell eines Besseren belehrt. Alles ist Interpretationssache, und grundsätzlich schreiben die Sieger die Geschichte.

Oder sie bauen ein Museum. Anlässlich des 200-jährigen Staatsjubiläums (wem das jung erscheint, der sei noch mal daran erinnert: die BRD in der heutigen Form gibt es auch erst seit etwas über 25 Jahren!) pflanzte die Kirchner-Regierung ein Museo del Bicentenario direkt hinter die Casa Rosada, Eintritt frei. Dort wird in vielen Videos und wenigen Ausstellungsstücken die Geschichte Argentiniens seit der Unabhängigkeit erläutert. Nach dem Besuch dachte ich, ich verstünde dieses Land nun ein wenig besser – bis ich dann noch mal meinen Reiseführer las. In den Videos im Museum wurden die Amtszeiten von Cristina und ihrem Vorgänger und Ehemann Nestór Kirchner, die eine klassisch links-peronistische Politik verfolgten, äußert positiv bewertet. Jobs wurden geschaffen, es ging aufwärts, und zum 200. Geburtstag präsentierte sich das Land so gut dastehend wie nie zu vor. Die Männer der Vorgängerregierung Menem seien dagegen böse, US-finanzierte Neoliberalisten gewesen, die das Land an den Rand des Abgrunds und schließlich in den Bankrott geführt hätten. In Wirklichkeit ist die wirtschaftliche Lage immer noch schwierig, das Land de jure zahlungsunfähig und die Ursachen des Staatsbankrotts 2002 deutlich vielschichtiger. Es kommt halt auf die Perspektive an. Ob der neue, konservative Präsident Macri jetzt ein paar neue Filme drehen lässt?

Im Kopierviertel

Zum Abschluss bleiben noch zwei Sehenswürdigkeiten der Stadt übrig. Zum einen der Palacio Barolo, einst höchster Turm der Stadt und nach dem Vorbild des Palacio Salvo in Montevideo erbaut, in der Nähe des Parlaments. Die Ähnlichkeit ist augenfällig:

José Artigas, heute mal von hinten: Artigas-Mausoleum und Palacio SalvoIMG_7811

Original in Montevideo… (Palacio Salvo)

…und Kopie in Buenos Aires (Palacio Barolo)

Auch das Parlamentsgebäude wurde nach einem Vorbild gestaltet – dem Kapitol in Washington. Ausgerechnet.

So ist das also. Alles nur geklaut. Hundert Prozent Original ist dagegen das Museumsschiff, das im Puerto Madero vor Anker liegt. Ich habe dann doch noch einmal kurz dort vorbeigeschaut, vor allem, um die Puente de la Mujer zu fotografieren. Mit einem Schiff hätte ich gar nicht gerechnet. Zuerst hat es mich gestört beim Fotografieren der Brücke. Dann war es ein interessantes Motiv. Und dann, als ich näher kam, entfuhr es mir erneut: Hoi, da kann man ja rein. Die Fregatte Presidente Sarmiento ist ein Museumsschiff, Eintritt fünf Pesos. Das kann man ja mal riskieren, vor allem, wenn man als Süddeutscher sonst sowieso nicht allzu viele Schiffe zu sehen bekommt. So erhalte ich einen spannenden Einblick in das Innere eines ehemaligen Ausbildungsschiffes, das mit argentinischen Offiziersanwärtern um die halbe Welt gesegelt ist, von dort unter anderem einen japanischen Samurai-Helm mitgebracht hat und nun im Puerto Madero seinen letzten Ankerplatz gefunden hat. So schließt sich der Kreis zum Friedhof Recoleta und seinen Japanern, und Silvester in Buenos Aires endet ohne Feuerwerk aber mit ganz, ganz vielen Eindrücken. Im Kopf und auf der SD-Karte meiner Kamera.

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