Ein Weihnachtswunder

Ein Weihnachtswunder

Eigentlich wollte ich auf diesem Blog gar nichts zum Thema Weihnachten schreiben. Erstens machen das die anderen Freiwilligen schon zu genüge und zweitens passt es nicht zum Konzept meines Blogs. Ja, alle die meinen Blog in letzter Zeit etwas aufmerksamer verfolgt haben: ich habe hier etwas aufgeräumt; dieser Blog hat tatsächlich ein Konzept. Nachdem nun aber seit Tagen sich mein E-Mail-Konto massenhaft mit der gleichen Frage („Wie feiert man in Uruguay denn Weihnachten?“) füllt, muss ich mich, um die Daheimgebliebenen zu beruhigen, wohl doch noch dazu äußern. Ich verspreche: einen Open-Air-Gottesdienst, ein Plastikhühnchen, Feuerwerk an Weihnachten und ein kleines Weihnachtswunder.

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Doch zuerst einmal erfolgt gerade bei diesem Thema, Weihnachten, noch mal der Hinweis auf die Single-Story-Thematik: die Frage, wie „man“ „hier“ denn Weihnachten feiere, ist natürlich falsch gestellt. Ich kann nur berichten, wie ich in meiner Gastfamilie Weihnachten gefeiert habe. Schon ein Haus weiter kann das ganz anders sein.

23. Dezember

Ich hatte es bisher nicht für notwendig gehalten, das zu erwähnen, aber ich gehe hier vor Ort in eine baptistische Gemeinde. In Deutschland ging ich in eine Freievangelische Gemeinde (FeG), hier vor Ort hatte mich meine allererste Kontaktperson in diese eingeladen. Nun hängt dem gesamten evangelikal-freikirchlichen Spektrum ja leider das Schlagwort „Sekte“ an, auch meine Gastmutter beging diesen Fehler, aber wie so oft handelt es sich dabei um ein Vorurteil. Freikirchen sind einfach Kirchen, die sich weder dem Primat des Bischofs von Rom unterordnen möchten noch sich in den landeskirchlichen Strukturen der lutherischen Kirchen zu Hause fühlen. Sie sind einfach frei, wie der Name schon sagt, zu tun, was sie wollen. In diesem Falle, um am Vorabend des Heiligen Abends einen Open-Air-Gottesdienst auf der zentralen Plaza de los Fundadores zu veranstalten.

Als mehr oder weniger offizielles Mitglied der Jugendgruppe dieser Gemeinde war ich natürlich auch eingeladen, an diesem besonderen Gottesdienst aktiv teilzunehmen. Dieser Jugendgruppe verdanke ich sehr viel, denn sie hat mich, den fremden Deutschen, mit offenen Armen aufgenommen und mir eine gleiche neue Heimat geboten, wie ich sie aus meiner Jugendgruppe in Deutschland kannte – schöne Grüße an beide an dieser Stelle, auch wenn erstere diesen Text mangels Deutschkenntnissen nie wird lesen können. Meine Mitarbeit bestand also aus dem Jugendchor, der Angeles cantando están, also „Gloria in excelsis deo“ auf Spanisch sang und Entrego Todo, ein modernes Kirchenlied des mir nicht näher bekannten Evan Craft. Den Text von Angeles cantando están kann ich mittlerweile nach all den Proben auswendig, das habe ich mit dem deutschen Text nie geschafft. Dazu hatte mich der Pastor noch gefragt, ob ich einen Bibelvers, Johannes 3,16, auf Deutsch und auf Französisch lesen wolle. Seine Idee war eigentlich ganz nett: Nueva Helvecia als eine Kolonie, die von europäischen Einwanderern gegründet wurde, die mehrere europäische Sprachen sprachen und auf dessen großen Platz an der Reloj de Flores die Flaggen von Deutschland, Frankreich, der Schweiz und Österreichs hängen, sollte die Weihnachtsbotschaft auch in den Sprachen der Vorfahren verkündet bekommen. Neben Deutsch und Französisch taten sich noch weitere Gemeindemitglieder auf, die mit ihren Englisch-, Italienisch- und Portugiesischkenntnissen zu einer wirklich internationalen Weihnacht beitrugen. Zur Krönung dann natürlich noch das obligatorische Krippenspiel der Kinder, wobei hier der Traum Josefs (Mt 1,19-25) interessanterweise ebenfalls mit dabei war, den ich sonst aus deutschen Krippenspielen nicht kenne.

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, deswegen hier ein Paar farbige Eindrücke unseres Gottesdienstes unter der Überschrift dieses multilingualen Bibelverses:

Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.

Joh 3,16 (Einheitsübersetzung)

Am Ende der Veranstaltung kam ich noch mit einer Jugendlichen ins Gespräch. Wir kamen irgendwie auf die Idee, sie, die kein Deutsch konnte, einen Text auf Deutsch vorlesen zu lassen, um zu sehen, wie sie ihn aussprechen würde. Der einzige Text, der auf die Schnelle zur Verfügung stand, war meine Bibel, und so las sie Gen 1,1: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde…“. Nun sind sich Deutsch und Spanisch in der Aussprache eigentlich bis auf wenige Ausnahmen recht ähnlich, der größere Unterschied liegt in der Sprachmelodie und in der unterschiedlichen Betonung der Silben. Tatsächlich schaffte sie es, die Wörter recht gut auszusprechen – meinte jedoch aus einem recht nationalen Klischee heraus, diesen Worten eine besondere Betonung mitzugeben: militärisch, abgehakt, wie zu Hitlers Zeiten: „Am!-Anfang!-Schuf!-Gott!-Himmel!-Und!-Erde!“. Ich fragte sie, was das solle, und sie meinte, die Deutschen sprächen doch alle so? Das sei doch die normale deutsche Aussprache? Ich klärte sie auf: nein, mitnichten, wenn ich deutsch spreche, spreche ich auch ganz normal – mit einer anderen Sprachmelodie als im Spanischen zwar, aber ganz normal.

24. Dezember

Als ich am 24. morgens meine Gastmutter nach dem Aufstehen mit einem fröhlichen ¡Feliz Navidad! begrüßte, schlug mir Verwunderung entgegen. Warum das denn? Es ist doch noch gar nicht Weihnachten! In Uruguay spielt tatsächlich der 25. Dezember die größere Rolle. Im Wandkalender an der Küche ist auch nur dieser Tag als Feiertag rot markiert. Dementsprechend begannen die eigentlichen Feierlichkeiten erst spät abends, als die zahlreichen Verwandten und Bekannten zum traditionellen asado, also zum Grillen, eintrudelten.

Vorher...

Vorher…

...währenddessen...

…währenddessen…

...und danach.

…und danach.

Hier ist es also, das in Deutschland lang erhoffte Foto meines Heiligabendessens: Schweinebraten mit Frankfurtern und Paprika gefüllt, dazu Reissalat und als Nachtisch Eis mit Obstsalat. Die Plastiktüte neben dem Hähnchen auf dem ersten Foto wurde vor Anzünden des Grills übrigens nicht entfernt. Warum denn auch. Plastik brennt doch so gut. Im Laufe des Abends wurden im selben Feuer auch noch Chipstüten und alle weiteren Plastikabfälle fachgerecht entsorgt. In meiner Gastfamilie ist das so üblich. Als ich meine Gastmutter einmal darauf ansprach und nach dem Grund fragte, antwortete sie mir, dass es, da es in Uruguay kein Recyclingsystem gebe, doch egal sei, ob sie ihren Plastikabfall zu Hause verbrennen oder für teures Geld in eine Müllverbrennungsanlage transportieren lasse. So einfach ist das. Das Plastikhühnchen war dementsprechend vielleicht nicht ganz so gesundheitlich unbedenklich, aber ich hab’s trotzdem gegessen.

Ein uruguayisches Asado zuzubereiten kann sehr, sehr lange dauern. Während wir also warteten, genossen wir – das Feuerwerk. Tatsächlich, in Uruguay gibt’s an Heiligabend schon Feuerwerk. Der Höhepunkt war wie an Sylvester um null Uhr Mitternacht, als sich alle unter den üblichen Knallgeräuschen in die Arme fielen und nun, endlich, sich Frohe Weihnachten wünschten. Um Mitternacht und nicht kurz nach dem Aufstehen am 24. morgens.

25. Dezember

Der 25. Dezember ist, wie gesagt, der wichtigere Tag. Vor allem, weil es dann Geschenke gibt. Zuerst natürlich noch mal zum Weihnachtsmahl zur Großmutter, kaltes Buffet aus diversen landestypischen Köstlichkeiten, deren Aufzählung ich mir jetzt spare, und dann Bescherung. Ich hatte lange überlegt, was ich meinem elf Jahre alten Gastbruder schenken soll. Erwartet wurde von mir eigentlich nichts, denn er sei, wie mir mitgeteilt wurde, aus dem Geschenkealter bereits heraus (Geschenke bekommen nur kleine Kinder) und mit seiner bereits eine Woche zuvor ohne jede Überraschung angelieferten Playstation 4 bestens versorgt. Diese Playstation beziehungsweise ihr Vorgängermodell ist aber auch der Grund dafür, warum ich bisher keinen Zugang zu meinem Gastbruder gefunden habe, aufgrund seiner Angewohnheit, beinahe rund um die Uhr Playstation zu zocken. Dafür hat er sogar ein paar Mal die Schule geschwänzt, mit allen damit einhergehenden interfamiliären Problemen. Damit kann ich natürlich wenig anfangen. Ich erinnere mich aber an die spielverrückte Familie meines Patenonkels, in denen Dinge wie UNO und Monopoly zum Alltag gehörten. Da ich weiß, dass mein Bog auch im Schwarzwald gelesen wird, schöne Grüße an dieser Stelle. Kurz entschlossen kaufte ich also ein Spiel namens deuda eterna, „ewige Verschuldung“ in der papelería nebenan, die sowieso schon genug Geld mit mir verdient hat, weil ich dort den ganzen kulturweit-Kostenerstattungspapierkram und haufenweise Fährtickets (die sind leider in doppelter Ausführung, einmal für den Reisenden und einmal für die Grenzbeamten) ausdrucken musste. Das Spiel selbst funktioniert ähnlich wie Monopoly und ist, wie der Name schon sagt, eine Satire auf die weltweite Ungerechtigkeit zwischen den Industrieländern und dem globalen Süden, der wegen Dauerschulden bei den Erstgenannten nie vorwärtskommt. Klassische Dependenztheorie, eines kulturweiters würdig und auf dem Vorbereitungsseminar sicher heiß geliebt, man denke nur an unsere Werwolf-Eigenkreation.

Genug der Insiderscherze, ich habe schließlich noch mehr Leser als nur die kulturweit-Freiwilligen (hoffe ich). Ich verschenke also dieses Spiel, und siehe da: mein Gastbruder, er spielt. Und lächelt. Und lacht. Und will gar nicht mehr aufhören. Mein Plan, mein pädagogisches Geschenk (bin ja schließlich als Lehrer hier), ist auf ganzer Linie aufgegangen. Am Ende bringe ich den beiden, Gastbruder und –Mutter, noch UNO nach den verrückten Regeln meines Onkels bei. Wir spielen bis nach Mitternacht, bis wir müde sind. Ein Weihnachtswunder. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann spielen sie noch heute.

5 Kommentare

  1. Gottlieb Lehr · 30. Juli 2016

    Hallo Jan ,

    ich hoffe , dass es Dir gut geht und du weiterhin eine schöne Zeit hast. Wir kennen uns ja vom Spiele – Abend .
    Habe gerade die Bilder bzw. deine sehr interessanten Berichte von Buenos Aires angesehen und bin total begeistert.

    Wünsche Dir weiterhin alles erdenklich Gute

    und verbleibe mit freundlichen Grüssen

    Gottlieb Lehr

    • Jan Doria · 31. Juli 2016

      Hallo Gottlieb,

      nein, da stehe ich jetzt etwas auf dem Schlauch. Auf welchen Spieleabend beziehst du dich?

  2. Julia Doria · 1. Januar 2016

    So, nun weiss ich, wie man in Uruguay Weihnachten feiert. Ganz interessant und dass Du Deinen Gastbruder zu spielen ermutigt hast, finde ich gut. Weiterhin gutes Gelingen.
    Julia

    • Jan Doria · 1. Januar 2016

      Nun, ich kann nochmal darauf hinweisen, dass das so natürlich falsch formuliert ist: das ist nicht so, wie „man“ Weihnachten in Uruguay feriert. Das ist so, wie ich Weihnachten in Uruguaz gefeiert habe, ganz individuell. Das kann im nächsten Dorf schon ganz anders sein.

  3. Norbert · 27. Dezember 2015

    Vielleicht muss man den „elektronisch Spielsüchtigen“ nur öfters Alternativen zeigen. Egal ob Gastbruder oder Bruder. Viel Glück weiterhin. Meine Meinung ist weiterhin: Ob etwas giftig oder nicht gut für einen selber oder die anderen ist, entscheidet vor allem die Dosis.

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