Der Ötzi der Anden
Lassen wir Cuzco nun endlich hinter uns und fahren wir nach Arequipa. Ebenfalls UNESCO-Weltkulturerbe, aber rund 1000 Meter tiefer gelegen, trägt auch diese Stadt einen schönen Titel: Ciudad Blanca – weiße Stadt, nach dem weißen Gestein, aus dem die Altstadt erbaut ist. Dieser stammt von einem Vulkan, der unmittelbar an die Stadt grenzt, und das ist Grund genug, um in Arequipa ein Museum über einen gruseligen Fund zu errichten, den man auf einem anderen Vulkangipfel der Anden gemacht hat. Es geht um: Menschenopfer.
Die Universidad Católica de Santa María betreibt in unmittelbarer Nähe zur zentralen Plaza das kleine, aber bedeutende Museo Santuarios Andinos. Hier, in einer Art Tiefkühltruhe bei -19 °C aufbewahrt, liegt eine Mumie, die von einem Menschenopfer der Inkas noch übriggeblieben ist: Juanita, der Ötzi der Anden. Der Besuch des Museums beginnt mit einem kleinen Einführungsfilm über die Auffindung der Mumie in einem Vulkankrater auf knapp 6000 Meter Höhe. Unwirtliche Bedingungen, die eine archäologische Expedition erst möglich machten, als vor einigen Jahren ein Nachbarvulkan ausbrach – und seine Asche die vorher undurchdringliche Eiskappe schmolz. Aus genau dem gleichen Anlass haben die Inkas damals auch das Menschenopfer veranstaltet. Der Film versucht diese für uns unmenschliche Praxis rational zu erklären: für die Menschen damals war ein so hoher Berg der Sitz der Götter, ähnlich wie den alten Griechen ihr Olymp. Wenn dieser Berg raucht, so sind die Götter wütend, und das einzige, was man tun kann, um sie zu beruhigen, ist: ein Opfer darzubringen. Ein Mädchen wird ausgewählt, vollkommen, schön, jung. Juanita war ca. 14 Jahre alt, als sie starb. Und vermutlich glücklich.
Glücklich? Ja, richtig gelesen, denn die Ehre, den Göttern geopfert zu werden, galt damals als die höchste Ehre im Inkareich. Noch mehr, wer geopfert wurde, wurde danach selbst zum unsterblichen Gott. „Juanita“ (den Namen haben ihre moderne Forscher gegeben) begann deswegen ihre Reise auf dem Weg zur Göttin mit einer großen Rundreise durch das gesamte Inkareich, sogar mit dem Herrscher persönlich durfte sie sprechen. Überall wurde sie umjubelt und gefeiert, lagen auf ihr doch große Hoffnungen: die Bitte des gesamten Volkes um Regen, gutes Wetter und den Segen der Götter. Auf dem Gipfel angekommen, muss sie wohl allein vom Aufstieg schon völlig fertig gewesen sein – ein 14 Jahre altes Mädchen besteigt einen 5000er ohne moderne Ausrüstung (aber in Begleitung von erwachsenen Priestern, natürlich)! Dennoch geht man davon aus, dass sie vor dem finalen Schlag auf den Kopf noch Drogen eingeflößt bekommen hat, Coca vielleicht oder Chicha, das Maisbier, das es heute immer noch gibt – wenn auch zu anderen Zwecken.
Das Video entlässt den Besucher mit diesen Hintergrundinformationen und führt ihn weiter durch mehrere Räume mit den reichen Grabbeigaben dieser und anderer Menschenopfermumien, die man im ganzen Land gefunden hat. Und dann stehe ich vor ihr, in dieser Kühlkammer, frierend, und starre sie an. Sogar eine Art Tattoo lässt sich auf ihrer Haut noch erkennen.
Darf man das? Darf man das überhaupt, so eine Mumie, die ja nichts weiter ist als der sterbliche Überrest eines Menschen, in ein Museum stellen, sodass alle Welt kommt und draufglotzen kann? Juanita war nicht die erste Mumie, die ich in Perú angesehen habe, und bei weitem auch nicht die letzte, aber hier, im direkten Gegenüber, stellte ich mir die Frage erneut, die ich mir damals auf dem Friedhof Recoleta von Buenos Aires schon gestellt hatte: ist das nicht Voyeurismus? Der geneigte Leser möge selbst entscheiden, ich mag mich da nicht festlegen.
Vulkanismus und Erdbeben sind in Perú natürlich nicht nur Phänomene, die 500 Jahre alte Mumien unter Eiskappen konservieren, sondern ernsthafte Probleme. Erst recht, wenn eine Großstadt wie Arequipa, die zweitgrößte Stadt des Landes, direkt daneben liegt. Ein klarer Pluspunkt ist jedoch der weiße Gestein, den die Menschen aus dem Gebirge schlagen und aus dem sie rund um die Plaza so ziemlich alles erbaut haben:
Neben Kathedrale und Plaza sollte man in Arequipa zumindest auch noch das Monasterio Santa Catalina erwähnen. Es handelt sich um ein katholisches Nonnenkloster, das so groß ist, dass es eine Art „Stadt in der Stadt“ bildet. Viel mehr möchte ich dazu jetzt nicht mehr sagen, nur so viel: die farbigen Wände und die vielen verwinkelten Kreuzgänge ergeben einmalige Fotos. Wenn nicht gerade mal wieder der Kameraakku leer geht.
Der kleine Film im Mumienmuseum endet übrigens mit der Feststellung, dass das Versprechen, dass man damals der kleinen Juanita gab, unsterblich zu werden, in gewisser Weise in Erfüllung ging. Ich will Menschenopfer nicht rechtfertigen, aber „gottgleich und unsterblich“ – zumindest mit letzterem behielten die Inkapriester Recht. Wenn auch ganz anders, als sie es sich je hätten vorstellen können.