Die Stadt am Bosporus

Istanbul war ein Erlebnis. Gemeinsam mit vier anderen kulturweit-Freiwilligen war ich Ende November dort. Noch nie habe ich so viele verschiedene Geräusche, Gerüche, Menschen, Dinge, Aktivitäten an einem Ort erfahren. Es war überwältigend, beeindruckend, eng, laut, lecker, spannend. An jeder zweiten Ecke ins Restaurant oder Geschäft gequatscht werden. Nicht mal fünf Minuten in Ruhe auf der Straße gehen können, weil man vor Menschen, Mofas oder Autos ausweichen muss. Der Verkehr ist der Tod für die Stadt, ständig sind die Straßen verstopft, immer muss man aufpassen nicht überfahren zu werden. Gegensätze liegen hier sehr nah beieinander – nur zwei Ecken neben DER Touristenstraße Istanbuls vom Taximplatz zum Galaturm, voll mit teuren Geschäften, Essen und Menschen ist niemand mehr. Da treffe ich streunende Katzen im Gebüsch, es riecht nach Exkrementen, ist schlammig und voll Müll. Irgendwo schlafen zwei Kinder auf einem Treppenabsatz vor einem warmen Lüftungsschacht. Zwei Ecken weiter finde ich ein hippes Studierendencafe mit vielen Grünpflanzen aber leider ohne Essen, und ich habe Hunger. Also gehe ich weiter. Nach drei Straßen ist es wieder belebt, wird Kebab verkauft. Daneben übergibt sich eine Touristin an einen Baum, Passanten schlängeln sich an ihr vorbei. Vielleicht esse ich doch woanders was…

Wie lange man zu Fuß durch die Stadt bräuchte? Tage? Zu viel, und das macht sie für mich nicht fassbar. Denn ich kann sie nicht erlaufen. Kann noch nicht mal von einer der vielen Anhöhen der Stadt an ihre Ränder schauen. Mit dem Nachtbus, der mich in 12 Stunden von Ruse nach Istanbul und auch wieder zurück gebracht hat, fahre ich über eine Stunde lang auf der Schnellstraße vom Omnibusbahnhof aus Richtung Zentraleuropa – und bin immer noch nicht aus der Stadt raus. Dass in Istanbul ungefähr 62 mal so viele Menschen wohnen wie in Chemnitz leben (ich liebe diese Vergleiche), habe ich schon das letzte Mal festgestellt. Jetzt weiß ich auch, dass die Nord-Süd-Ausdehnung etwa 50 km beträgt, und Ost-West etwa 100 km – etwa so viel wie von Dresden nach Leipzig. Ist schon ’n Stück. Die Stadt hat in den letzten hundert Jahren ein immenses Bevölkerungswachstum hingelegt, weswegen unkontrolliertes Bauen, Wohnen und allgemeine Überlastung der Infrastruktur ein Problem ist, das aber hauptsächlich an den Stadträndern existiert, die ich nie gesehen habe. Stattdessen habe ich mich im Touristengewühl der Altstadt getümmelt. Ich konnte die Hagia Sophia (türkisch Ayasofya) besuchen, und eine unglaublich angenehme, murmelnde Ruhe fühlen. Ihre Architektur ist ohne Zweifel beeindruckend, zentraleuropäische Gotteshäuser standen ihr sehr lange Zeit nach. Sie wurde um 500 n. Chr. als Kirche gebaut, um 1500 zur Mosche

Hagia Sophia, jetzt wieder eine Moschee. (Foto: Friedrich)

e umfunktioniert, diente 1935 bis 2020 als Museum, und ist seitdem wieder eine Moschee. Dieses Gebäude hat viel gesehen. Ich stehe in Bewunderung vor ihrer Geschichte, so wie vor der Geschichte der gesamten Stadt. Mich fasziniert die Schnittstelle zwischen Europa und Asien und die Bedeutung dieses Ortes in den Geschicken der Weltgeschichte.

In der Moschee am Taximplatz habe ich still und heimlich einem Gebet beigewohnt. Auf Basaren habe ich mich mit Süßigkeiten, gezuckertem Tee und getrockneter Mango vollgestopft, in der Hoffnung, diesmal den besten Preis verhandeln zu können. Naja, dass ich abgezogen werde, damit musste ich rechnen. Für wenige Stunden war ich auf der asiatischen Seite, das erste Mal außerhalb von Europa. Auch ein türkisches Hammam habe ich besucht, und mich noch nie zuvor in meinem Leben so sauber gefühlt! Eine andere Freiwillige hat sich leider eine Lebensmittelvergiftung eingefangen und die ganze Nacht gekotzt. Es war wohl das Hähnchen auf dem Salat. Nebenbei hattet wir noch das Zwischenseminar von kulturweit online. Jeden Tag saßen wir einige Stunden in unserer Unterkunft vor den Laptops und haben pädagogisches Begleitprogramm genossen – und das meine ich ernst. Es ist zwar anstrengend, aber ich bin jedes Mal wieder überrascht, wie wohltuend und bereichernd es ist.

Eine Woche lang war ich im Herzen Istanbuls und habe dabei alle erdenklichen touristischen Dinge getan, kann aber nicht behaupten, die Stadt irgendwie zu kennen. Dafür ist sie einfach zu groß. Ich hätte vorher nicht gedacht, dass es mich so beeindrucken würde. Tatsächlich wäre ich überhaupt nicht auf die Idee gekommen, hier hin zu fahren, wenn es nicht eine andere Freiwillige vorgeschlagen hätte, aber ich bin sehr froh darüber. Eine kurze Zeit, dich mich nachhaltig beeindruckt hat. Auch Wochen später noch.

ще се видим

Das ist Kunst, das muss bleiben

Vom 01. bis 17. Oktober fand das 14. Internationale Literaturfestival der Internationalen Elias Canetti Gesellschaft unter dem Thema „Der Atem Europas“ statt (Bilder der Eröffnung hier). Es ist das größte seiner Art in Bulgarien. Fast jeden Tag wurden Lesungen gehalten oder Ausstellung eröffnet, auch eine szenische Lesung (die man hier anschauen kann) und ein Film waren dabei. Es kamen internationale Gäste aus Tschechien, Ungarn, Österreich und Deutschland. Da fast alle Veranstaltungen auf bulgarisch gehalten wurden konnte ich leider inhaltlich nicht viel mitnehmen. Dennoch habe ich die kreative und intellektuelle Atmosphäre genossen. Osteuropäische Literatur ist in Deutschland kaum bekannt und wird auch kaum übersetzt. Ein Gast meinte, es sei unmöglich osteuropäische Literatur gewinnbringend ins Deutsche übersetzen zu lassen – es kauft einfach niemand. Interessant, dass die „Weltliteratur“ eigentlich schon an der deutsch-polnischen Grenze aufhört.

Das Festival steht auch in Zusammenhang mit dem Nationalen Literaturpreis Elias Canetti, der jährlich verliehen wird. Alle sieben Nominierten waren eingeladen ihre Werke zu präsentieren, darunter zwei Frauen. Ich war während der bulgarischsprachigen Präsentationen geistig meist nicht anwesend, außer bei der von Rusana Bardarska („Опитът“, übersetzt Versuch, Experiment, Erfahrung). Sie hatte auf mich eine so interessante Ausstrahlung, dass ich ihr gern zugehörte, auch ohne ein Wort zu verstehen. Ich würde ihr Buch lesen, gäbe es das in einer mir verständlichen Sprache. Durchaus anwesend war ich bei den Präsentationen auf (teilweise) deutscher Sprache von Margret Kreidl, Amanda Lasker-Berlin, Max Czollek und Thomas Perle. In meinem Chemnitzer Alltag habe ich außerhalb der Arbeit im Weltecho nicht so oft kulturelle Veranstaltungen besucht. Dabei merke ich immer wieder, wie gut es mir eigentlich tut. Es bildet mich, konfrontiert mich mit Themen und Gedanken, die ich selbst nicht aufsuchen würde, und ich habe danach meist das Gefühl etwas gelernt zu haben, auch wenn ich es nicht immer benennen kann.

Meine Aufgaben während des Festivals bestanden in, wie es jemand mal zusammengefasst hat, „Eventmanagement“. Mit Kunstschaffenden kommunizieren und sie begleiten, Veranstaltungen vorbereiten und betreuen, Öffentlichkeitsarbeit im Web und vor Ort, Papierkram. Es waren drei anstrengende Wochen ohne Wochenende, und obwohl ich manchmal nur um die Veranstaltungen herum mit Arbeit beschäftigt war, habe ich immer den ganzen Tag für Arbeit blockiert und bin nicht wirklich raus gekommen. Die berühmten „last minute changes“ haben auch häufig meine Reaktionsschnelligkeit gefordert. Das ist aber nichts im Vergleich zu meinen Kollegen, die meist von früh bis spät verantwortlich und ansprechbar waren und auch während der Veranstaltungen auf der Bühne standen. Am Ende waren alle froh, dass es problemlos verlief und verhältnismäßig gut besucht war! Die Organisation im vornherein habe ich jedoch auch als sehr chaotisch und zu kurzfristig empfunden. Öffentlichkeitsarbeit konnte daher kaum bzw. viel zu spät stattfinden. Und alle waren sehr gestresst.

Die Veranstaltungen fanden im Дом Канети, dem Canetti-Haus statt, das eines der tollsten Orte der Stadt ist. Das Haus gehörte dem Großvater des Literatur-Nobelpreisträgers Elias Canetti (nachdem auch die Organisation benannt ist), wurde Ende des 19. Jhd. gebaut, und ist jetzt quasi entkernt. Es ist in einem desolaten Zustand – aber gerade das macht es so interessant. Es dient als Veranstaltungsort für kulturelle Ereignisse der Stadt und bietet in seiner Unperfektion unglaublich viel Raum für Möglichkeiten. Auf drei Etagen wurden zu Zeiten des Festivals Ausstellungen präsentiert, und auf der untersten fanden die Veranstaltungen statt. Im Keller hat eine Skate-Crew eine Halfpipe gebaut, mein persönliches Highlight dieses Hauses!

Seit dem Festival habe ich deutlich mehr Zeit. Also rein theoretisch. Praktisch bringe ich immer noch super viel Zeit damit zu mein tägliches Leben zu organisieren, Freizeitbeschäftigungen zu finden, Busfahrpläne zu verstehen (auf die ist wirklich kein Verlass), meine Zeit hier zu planen, die Sprache zu lernen. Ich konnte mittlerweile auch die ersten längeren Ausflüge ins Land machen und die anderen Freiwilligen kennen lernen und seitdem bin ich wieder sehr gut beschäftigt. Fast jedes Wochenende bin ich unterwegs, unter der Woche arbeiten, Kakao trinken und Sport machen (aus Ermangelung einer geöffneten Kletter- oder Schwimmhalle, und weil ich mich schon immer mal prügeln wollte, habe ich Thaiboxen angefangen… eine anstrengende und schmerzhafte Angelegenheit :D). Ich könnte sehr viel mehr Text schreiben, aber ich will erleben, und das tue ich gerade auch. Nächste Woche geht‘s nach Istanbul, da freue ich mich sehr drauf. Noch nie war ich so weit von Deutschland weg, und noch nie in einer solch riesigen Stadt. Istanbul ist zwei mal Bulgarien, zehn mal Estland und 62 mal Chemnitz. Wild.

Това е добре.

Alte Bekannte

Die Zeit, die ich hier in Bulgarien verbracht habe, mittlerweile schon über einen Monat, hat mich nahezu vergessen lassen, dass Corona immer noch ein Ding ist. Als gäbe es das hier nicht. Ich glaube, dass in geschlossenen öffentlichen Räumen eine Maskenpflicht gilt. Die interessiert 50% der Menschen nicht, und jene mit Maske tragen diese zumeist unter der Nase. Auch ich bin deutlich nachlässiger geworden in der Einhaltung der Regeln, auch in der Hoffnung, dass die Impfung mir schon helfen wird. Dass ich mich darauf nicht verlassen kann, und es auch Impfdurchbrüche gibt, ist mir bewusst. Ich ärgere mich über die laschen Regeln und deren Missachtung. Bulgarien ist ein Schlusslicht in der europäischen Impfquote, ungefähr 16% der Bevölkerung sind geimpft. Verantwortlich dafür wird mangelnde Aufklärungsarbeit gemacht, die auch sich verbreitende Verschwörungstheorien im Netz nicht eindämmen können. Öffentliche Behörden und Ärzt*innen trafen zudem unterschiedliche Aussagen bezüglich der Impfempfehlung, viele Fachleute lehnen diese selbst ab. Es herrscht wenig Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung und deren Versprechen, zudem befindet sich Bulgarien dieses Jahr in einer politischen Ausnahmesituation. Zwei Mal wurde ein neues Parlament gewählt und zwei Mal ist eine Regierungsbildung gescheitert, im November wird ein drittes Mal gewählt. Für Corona-Maßnahmen ist da kein Platz. Die machen sich nicht gut im Wahlkampf. Das alles ist in den letzten vier Wochen an mir vorbei gegangen. Es hat

Die bulgarische Corona-Politik empfinde ich als ungefähr so vertrauenserweckend wie diese Schachtabdeckung auf dem Gehweg.

mir ein Gefühl der Behaglichkeit gegeben, ein „ach wie schön, dass so viele Menschen unterwegs sind“, ein unbeschwertes Sitzen in Restaurants und Cafeś. Fremde treffen und Hände schütteln. Keiner der sich für Tests oder Impfungen interessiert. Jetzt kommt mir dieses Gefühl wie eine Lüge vor.

Das alles würde mich vielleicht weniger stören, wenn ich nicht die Erfahrung von mehreren Erkrankungswellen und zwei Lockdowns im Nacken hätte. Ich glaube nicht, dass Bulgarien einen Lockdown verhängen wird, da die Maßnahmen schon im letzten Winter weniger streng waren als in Deutschland. Trotzdem bin ich hier in einem fremden Land, in dem ich mich durchaus noch allein fühle, dessen Sprache ich gerade erst anfange zu lernen (was nebenbei gesagt aber sehr viel Spaß macht!) und ohne stabiles soziales Netz. Öffentliche Aktivitäten sind immer noch eingeschränkt, und so sind es die Möglichkeiten Kontakte vor Ort zu knüpfen. Gleichzeitig genieße ich das krasse Privileg überhaupt hier sein zu können, trotz einer immer noch andauernden weltweiten Pandemie. Während nebenan in Rumänien die Corona-Inzidenz explodiert und das Gesundheitssystem kollabiert. Aufgrund der geringen Impfquote und der bereits steigenden Zahlen halte ich das auch in Bulgarien für möglich.

Corona hat in den letzten vier Wochen kaum eine Rolle für mich gespielt. Ich fühle mich insgesamt sehr gut, stabil, ausgeglichen. Ich wollte heute eigentlich mit Thomas Perle, dem momentanen Artist in Residence bei der Canetti Gesellschaft, in die benachbarte rumänische Grenzstadt Giurgiu fahren. Jedoch brauchen wir lt. Aussage des Fahrers jetzt zu einer Impfung noch einen negativen aktuellen PCR-Test, wenn wir wieder nach Bulgarien einreisen wollen. Das war in der kurzen Zeit nicht machbar. Also sind wir nicht gefahren. Da sind sie wieder, die Grenzen.

Das nächste Mal geht‘s um was positiveres, dann werte ich endlich Mal das mittlerweile vergangene Festival meiner Organisation aus.

Бъдете здрави!

Anekdote. Idiot

Ab und zu bin ich nach Einbruch der Dunkelheit noch draußen unterwegs, genieße die milden Temperaturen, sehe streunende Katzen, erfreue mich an der Atmosphäre. Das ist Balsam für meine Seele. Als ich letztens, es war kurz nach 8, in der Innenstadt unterwegs bin spricht mich ein Mann an und läuft neben mir her. Ich bin sehr entspannt und mir ist nicht nach Reden, reagiere dennoch freundlich aber reserviert. Mir wird relativ schnell klar, dass das kein sinnvolles Gespräch wird. Ich gehe zielgerichtet weiter, wie ein Hund läuft er neben mir her. Aus fuckinggodknowswhy Nettigkeit unterhalte ich mich weiter. Nebenbei überlege ich mir, wie ich ihn wieder loswerde. Frage ihn, was er will, er sagt alles. Dann sage ich ihm ins Gesicht, dass ich nicht mehr mit ihm reden will und er gehen soll. Es interessiert ihn nicht. Er sagt, dass er laufen kann wo er will, was ich dagegen machen will, dass ich ja wegrennen kann. Der Gedanke scheint ihm zu gefallen. Ich denke nicht dran. Daraufhin ignoriere ich ihn, gehe aber weiter. Auch das ist ihm egal. Ugh. Mittlerweile bin ich an den Rand der Innenstadt gekommen und weiß, dass ich den belebten Bereich bald verlasse. Was ich noch weniger will, als mich mit diesem Menschen zu unterhalten ist ihn in eine Seitenstraße und zu meiner Wohnung zu führen. Ich habe aber nicht mehr viel Zeit. Das letzte, was mir in dem Moment noch einfällt, ist die Aufmerksamkeit anderer Menschen zu suchen. Also drehe ich bei und setze mich zu zwei wildfremden Frauen an einen Tisch im Freisitz. Die schauen irritiert, lassen mich aber gewähren. Er lungert an einer Hauswand rum und ich sitze mehrere Minuten da bis er verschwindet. Ich bin so wütend, dass der Idiot mir meine ausgezeichnete Stimmung versauen musste. Um runter zu kommen kaufe ich mir eine Packung Kekse, die mir nicht schmecken, und setze mich zu den benachbarten Katzen, die ausgerechnet heute mal nicht da sind. Ich überlege, was ich anders hätte machen können. Die Situation vermeiden und nicht im Dunkeln allein draußen unterwegs sein kommt nicht in Frage. Ich finde, dass ich die Situation gut gelöst habe – aber das hätte ich schon deutlich eher machen sollen. Nen Dreck auf Nettigkeit geben und die Person durch halbherzige Konversation nicht noch in ihrem Verhalten bestärken. Eine unsachgemäße Bewertung seiner Person oder seiner Mutter vornehmen. Eher die Aufmerksamkeit anderer Menschen suchen, ich hatte reichlich Möglichkeiten dazu. Meine Kontaktperson meinte daraufhin, dass ich ihn in einer solchen Situation jederzeit anrufen kann. Auf die Idee bin ich nicht gekommen, aber ich sollte es mir merken.

Ich sehe die Erfahrung nicht in Bulgarien oder Ruse begründet. Erfahrungen dieser Art, von einer fremden Person im öffentlichen Raum derart belästigt zu werden, habe ich zuvor noch nicht gemacht. Die Schlussfolgerung, dass das in Bulgarien daher regelmäßig und in Deutschland nie passiert, sehe ich aber als falsch an. Es ist ein strukturelles und gesellschaftliches Problem, das weltweit existiert.

Leben in und zwischen Häusern

Ich wohne in einer Stadt. Eine Stadt, die auch eine Uni hat, bis zu der ich es bisher aber noch nicht geschafft habe. Die Canetti Gesellschaft veranstaltet derzeit das 14. Internationale Literaturfestival Ruse, das vom 01. bis 17. Oktober stattfindet und jeden Abend Lesungen, Ausstellungen oder Darstellungen bereithält. Mit deren Vorbereitung und Durchführung sind wir jeden Tag beschäftigt, aber auch ganz spannend ist! Zu dem Festival aber das nächste Mal mehr. Was mich jeden Tag umgibt sind neben Menschen die Gebäude, und ich möchte sie beschreiben, weil sie ein großer Teil meiner momentanen Lebensrealität darstellen.

Die Wohnung ist eine willkommenes Aufatmen. Sie ist Licht und Raum. Sie ist ein Geräusch. Sie hat, so wie viele Wohnungen, die ich bisher aber nur von außen gesehen habe, riesige Fenster, meist drei oder vier nebeneinander, auch häufig über eine Hausecke. Türen haben gemusterte Glaseinsätze. Sie liegt in einem dreistöckigen Gebäude nahe des Stadtzentrums. Rauhfasertapete, die ewige Begleiterin deutscher Mietwohnungen, gibt es hier keine, und auch kein Laminat. Der Fußboden ist mit einem feingliedrigen Parkett im Fischgrätenmuster ausgelegt. Es knarzt und quietscht bei jedem Schritt ein bisschen, was ich sehr gern höre. Und es fühlt sich an, als würde es sich der Bewegung des Fußes anpassen, als wäre es weich gepolstert. Mein Reiseführer schreibt, dass 90% der Bulgar*innen in Eigentumswohnungen wohnen (ohne die ein finanzielles Auskommen wohl nahezu unmöglich ist). Ich beobachte eine große Individualität der Wohnungen, die ich auf diesen Umstand zurückführe: in einem Haus gibt es unterschiedlichste Fenster, bauliche Zustände, Wandfarben. Es gibt seeehr viele Balkone und viele haben diese verglast, manche haben darin ihre Küche. Wohnungen werden einzeln gedämmt, nicht komplette Häuser. So ist ein Block keineswegs so uniform, wie ich das aus meinen bisherigen Wohnorten kenne. Und vom äußeren Zustand eines Hauses lässt sich überhaupt nicht auf die Wohnung schließen. Es scheint keine gemeinsame oder diktierte Fürsorge für die gesamte äußere Erscheinung zu geben, jede*r kümmert sich um sein Eigentum. So wie es, zumindest in meinem Haus, auch keine zentrale Klimatisierung gibt. Viele Wohnungen sind zum großen Teil noch vom Heizen mit Holz abhängig, viele haben aber zusätzlich strombetriebene Heiz- und Klimaanlagen. Die Ventilatoren sieht man auf jeder Außenfassade kleben. Das Heizen mit Holz hat den großen Vorteil, dass es von einer zentralen Energieversorgung unabhängig macht. In Zeiten, in denen die Energieversorgung sehr instabil war, war man mit einem Ofen auf der sicheren Seite. Und das hat sich bis heute so erhalten. Meine Wohnung ist vermutlich eine der hochwertigeren und zudem sehr zentrumsnah, was ich sehr genieße. Noch nie habe ich so nah am Zentrum gewohnt. Dafür ist sie für die meisten Menschen, die ihren Lebensunterhalt vor Ort verdienen, in der Miete aber auch einfach zu teuer. Die Vermieterin vertreibt sie schon länger an Freiwillige wie mich, die ich in der privilegierten Position bin sie bezahlen zu können.

Straßenflucht auf ein Gebäude, das ich aufgrund seiner Farbgebung gern sehe.

Das mich umgebende Stadtzentrum hat vieles von dem, das ich im Zuge meiner Bachelorarbeit als architektonische Elemente einer lebenswerten Stadt kennengelernt habe. Wenn ich durch die Innenstadt gehe sehe ich schmale Straßen, gesäumt von Häusern, die selten mehr als vier Stockwerke haben. Ich gehe an kleinen Geschäften im Erdgeschoss vorbei. Jeden Tag begegne ich streunenden Katzen, gleich nebenan wohnt eine ganze Gang. Die meisten Straßen sind von Bäumen gesäumt, das die meisten Ziele sind für mich fußläufig zu erreichen. Der Kernbereich ist autofrei. Der zentrale Platz wirkt auf mich eher wie ein Park. Er ist riesig, es laufen ca. 13 Straßen zu ihm hin. Wenn ich in Leipzig ein mal vom Gewandhaus zur Oper gehe bin ich dem Gefühl nach trotzdem drei Mal so lang unterwegs. Historische Altbauten, darunter viele von der Wiener Architektur inspiriert, begrenzen ihn. Vor fast jedem Gebäude haben Cafés und Restaurants ihren Freisitz. Es gibt eine Hauptmagistrale für Fußgänger*innen quer über den Platz und durch die Innenstadt, und keine Einkaufspaläste, die das Stadtzentrum ersetzen. Das alles sind Elemente, die ich als sehr angenehm wahrnehme, organisch, lebendig. Ich gehe darin und es fühlt sich gut an.

Доходно здание. In dem Gebäude befinden sich u.a. das Theater und das Büro meiner Organisation. CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1201504

Eine intakte Innenstadtarchitektur ist Städten, die im zweiten Weltkrieg zerbombt wurden, meist nicht vergönnt. Die autofreundliche Verkehrspolitik der Nachkriegszeit hat häufig ihr Übriges zu einem unproportionalen, dysfunktionalen Wiederaufbau der Innenstädte beigetragen. Ruse dagegen bietet mit seinem historischen Stadtkern tolle Voraussetzungen für lebendige Straßen. Die letzten Wochen im September habe ich mit fast immer über 25°C und Sonne satt noch richtig genossen. Wie ein verlängerter Sommer. Erst in den letzten Tagen ist es kühler und regnerischer geworden. Vielleicht liegt es auch noch an dem sommerlichen Wetter, aber es ist unglaublich belebt. Es gibt einfach viel Leben zwischen den Häusern. Mir ist bewusst geworden, wie schön diese Lebendigkeit des öffentlichen Raumes ist, und wie wenig ich davon in Chemnitz erlebt habe. Meine Arbeitskolleg*innen sind fast jeden Tag in irgend einem Etablissement mit einem Kaffee zu finden. Sie nehmen sich die Zeit und das Geld dafür, und zum ersten Mal in meinem Leben mache ich das auch.

До скоро

PS: Eine Audioaufnahme, wie ich über den Fußboden laufe, ist noch in Arbeit. Die wird exzellent, aber sie braucht noch!

Wenn eine eine Reise tut, dann kann sie was erleben

Mo, 13.09.21 – Di., 14.09.21

Als mich nach über 30 Stunden Anreise meine Kontaktperson meiner Partnerorganisation in Ruse, Bulgarien, fragte, wie meine Zugfahrt war, sagte ich „entspannt“. Wie gut, dass sie nicht nur aus dem Weg zum Bahnhof bestand, denn der war alles andere als entspannt. Meinen Weg würde ich, in chronologischer Reihenfolge, ungefähr so beschreiben: viel zu früh aufstehen – Zug fällt aus – Autopanne – per Anhalter zum Bahnhof (wie gut, dass ich so zeitig aufgestanden bin) – viel Zug fahren – Tram – Bus – noch mehr Zug fahren – Auto – da sein.

Nachdem ich auf bahn.de gerade noch erspäht hatte, dass mein geplanter Regionalzug nach Dresden heute ausfallen sollte, sind mein Bruder und ich mit dem Auto los zur nächsten S-Bahn in Meißen. Zum Glück war noch genug Zeit, um den Anschluss in Dresden zu erreichen. Leider schaffte es das Auto nur bis irgendwo auf der B6 und entschied sich dann, nicht mehr weiter zu fahren. Da kam dann Stress auf. Da habe ich kurzerhand den Daumen raus gehalten. Ein netter pensionierter Handwerker hat mich dann bis zur S-Bahn gebracht. Ich war erleichtert, doch wollte den Tag nicht vor dem Abend loben. Von Dresden nach Budapest war es kein Problem. Dort musste ich durch die Stadt zu einem anderen Bahnhof (Budapest hat drei Hauptbahnhöfe), wobei mir ein anderer Fahrgast mit dem öffentlichen Nahverkehr weiterhelfen konnte.

Der Zug Budapest – Bukarest war ein Schlafwagen, und ich fand ihn klasse. Darauf hatte ich mich schon gefreut! Ganz im Stil des RE6 Chemnitz – Leipzig. Vielleicht ein Höhepunkt meiner Zugfahrkarriere. Mit dem hätten auch meine Eltern vor 40 Jahren in den sozialistischen Jugendaustausch fahren können. Es holperte und schaukelte, aber die Liegen waren bequem und die Atmosphäre unkompliziert. Es gab nichts zu essen oder zu trinken, zum Glück hatte ich noch eine Packung Dinkel-Doppelkekse dabei, die bis zum nächsten Abend reichen sollte. Meine Abteilgenossin war fest davon überzeugt, dass eine andere Mitfahrende auf den Zugstrich gehen würde. Als ebendiese Abteilgenossin auf die nächtliche Pass- und

Das Liegewagenabteil des Zuges Wien – Bukarest. Pro Abteil gibt es 6 Liegen, jeweils drei übereinander und sogar mit Bettwäsche. Es liegt sich sehr gut!

Zollkontrollen an der ungarisch-rumänischen Grenze mit einem äußerst genervten „blablabla“ reagierte, sah ich uns schon in 25 Kilogramm verteiltem Reisegepäck bei einer Stunde zusätzlichem Aufenthalt am Übergang stehen. Aber der Gott der Grenzbeamten und -beamtinnen war uns wohlgesonnen und ließ uns passieren. Der Zug verkehrte die meiste Zeit mit einer gefühlten Durchschnittsgeschwindigkeit von 50 km/h – was aber das Schaukeln so angenehm machte, dass es mich immer wieder in den Schlaf wiegte. Eine wunderbare Zugfahrt.

In Bukarest wurde ich von Pavel, dem Taxifahrer, mit dem die Internationale Elias Canetti Gesellschaft zusammen arbeitet, abgeholt und nach Ruse gebracht. Auch eine sehr angenehme Fahrt. In Ruse nahm mich meine Kontaktperson Viktor in Empfang und zeigte mir die Wohnung. Leider ist meine Mitbewohnerin zuvor ausgezogen, sodass ich jetzt allein auf 100qm wohne. Trotzdem habe ich mich gleich wohl gefühlt. Ich habe aber eine wenig Bammel vor dem Winter und der Holzheizung.

Mein erster Einkauf. Dank einer sehr gut ausgestatteten Wohnung muss ich zu Beginn nur schnell verderbliche Lebensmittel kaufen, die gibt es gleich nebenan in einem kleinen Lädchen.

Soweit so gut, ich war entspannt und voller Vorfreude – dann machte sich doch ein wenig Panik breit, als ich allein war. Mit Kings of Leon und Nudeln mit Tomatensauce versuchte ich sie im Zaum zu halten. Ich hatte das Bedürfnis nach Geborgenheit und Vertrautheit, was unerfüllt bleiben musste. Aber so ist das nun mal – die Leber wächst mit ihren Aufgaben. Und was nicht vertraut ist muss ich mir vertraut machen, also gehe ich abends noch ein wenig um den Block. Die Wohnung ist gleich in der Nähe des zentralen Platzes, es ist noch warm und die Stadt belebt. Zwischen ausgelassenen Menschen schleichen streunende Katzen durch die Dämmerung. Es ist ein schönes Gefühl, ich bin einfach da und fühle mich trotzdem in Gesellschaft.

наздравe