Hallo zusammen!
Eigentlich wäre ich dieses Wochenende mit den anderen Freiwilligen unterwegs gewesen, aber leider habe ich mir den Magen verstimmt und musst so schweren Herzens zu Hause bleiben. Aber so habe ich immerhin Zeit für diesen Blogeintrag. 😊
Ich muss ehrlich sagen, dass mir dieser Eintrag bisher am schwersten fällt. Das ist vermutlich auch der Grund, warum er erst jetzt und nicht schon viel früher kommt. Der Titel verrät auch schon, warum ich nicht so richtig weiß, wie ich beginnen soll. Aber vielleicht fange ich einfach bei meiner Ankunft hier und den ersten Gedanken zu Gyumri an:
Es ist mittlerweile drei Wochen her, dass ich in dieser Stadt angekommen bin. An diesem Tag war ich dermaßen übermüdet, dass ich nur wenig von Gyumri gesehen habe. Nur eine Sache ist mir im Kopf hängen geblieben: Entlang der Bahnstrecke gab es viele zerstörte oder zerfallende Gebäude. Ich habe in einem vorherigen Eintrag schon das schwere Erdbeben von 1988 angesprochen und ich wusste auch vorher schon, dass die Stadt immer noch unter den Folgen leidet. Ich habe das Ausmaß allerdings vollkommen unterschätzt.
Umso schockierter war ich, als ich mich das erste Mal Richtung Innenstadt aufgemacht habe. Neben den schönsten Gebäuden stehen Ruinen. Das Stadtbild ist von Schönheit und Zerstörung geprägt. Beides liegt so dicht nebeneinander, wie ich es noch nie erlebt habe und ist untrennbar miteinander verbunden. Der Kulturschock war für mich so massiv, dass ich nach einer halben Stunde in der Stadt starke Kopfschmerzen hatte und unter Tränen zurück zur Wohnung bin.
Ich möchte an dieser Stelle ganz ehrlich sein: Nach den ersten Tagen wollte ich nur noch zurück nach Deutschland, weil ich mich hier so fremd gefühlt habe. Yerewan hat mich gerettet. Bei meinem Besuch dort habe ich gesehen und erlebt, dass sich Armenien heimisch anfühlen kann. Die Gründe habe ich im „Yerewan-Artikel“ ausführlich erklärt und hinzu kamen natürlich auch die anderen Armenien-Freiwilligen, die mich aufgefangen haben.
Danach hatte ich die Kraft, Gyumri eine zweite Chance zu geben: Und wurde belohnt. Ich bin bei meinem zweiten Ausflug ins Zentrum andere Straßen gegangen und habe die wirklich schöne Seite Gyumris gesehen:
Ich rede hierbei von vielen, super liebevoll gestalteten Läden und Museen. Von Blumen und Architektur. Von armenischer Baukunst und armenischem Handwerk. Ich habe mich verliebt. Doch all das wäre ohne einen bestimmten Punkt nichts wert gewesen: Den Menschen. Egal, wohin ich ging, egal, wie wenig gemeinsame Sprache wir teilten, egal, wie es mir ging. Die Menschen waren immer herzlich zu mir. Ob auf dem Weg zur Schule, wo mich ein Taxifahrer ansprach und wir uns seitdem morgens immer zulächeln, oder unterwegs in der Innenstadt: Nach kurzer Scheu öffnen sich die Menschen und freuen sich darüber, dass man sich für ihre Stadt und ihre Geschichten interessiert.
Besonders hervorheben möchte ich hierbei die Menschen rund um das Berlin ART Hotel. Es ist eigentlich ein „Hotel in einer Galerie“, in der nur Künstlerinnen und Künstler aus Gyumri ausstellen. Ursprünglich war es eine Tagesbettenklinik für die angrenzende Poliklinik, die nach dem Erdbeben vom Deutschen Roten Kreuz aufgebaut wurde. Da es wegen der Ansteckungsgefahr mit der Poliklinik eigentlich keine Tagesbetten geben durfte, entschied man sich, ein Hotel daraus zu machen, um die Gebäude erhalten zu können. Im gleichen Gebäudekomplex gibt es eine deutsche Bücherei mit einer großartigen Sammlung an „Der kleine Prinz“-Büchern in verschiedenen Sprachen und Dialekten. Bei meinem ersten Besuch dort wurde ich gleich von einer super netten Frau mit knapp 20 Lesezeichen versorgt und durfte mir ein Buch mitnehmen. Die gleich Frau arbeitet auch für ein dort ansässiges Reisebüro, das Touren durch Armenien anbietet und auf das ich in Zukunft definitiv nochmal zurückkommen werde.
Eingangsbereich: Links geht es zur Poliklinik und rechts befinden sich die Eingänge des Honorarkonsulats und des Hotels.
Übrigens war das immer noch nicht alles zu diesem faszinierenden Ort: Auch mein Lieblings-Co-working-Space „ROOF25“ befindet sich dort auf der Dachterrasse. Entstanden ist er erst vor Kurzem, weil das Dach marode und einsturzgefährdet war. Da es Gelder nur für Tourismusprojekte gibt, hat man sich kurzerhand dazu entschieden, ein Touristeninformationscenter mit Café darauf zu bauen. Es ist also eigentlich nichts andere als ein „Dachrettungsprojekt“. Außerdem befindet sich ein Biergarten im Hinterhof des Hotels. Und jetzt zum wichtigsten: Das deutsche Honorarkonsulat für die Provinzen Shirak und Lori ist hier ansässig. Im Zuge dessen habe ich jetzt die Ehre, euch den Mann vorzustellen, der hinter all dem steckt: Honorarkonsul Aleksan Ter-Minasyan. Er leitet das Hotel und hat den Ort zu dem gemacht, was er heute ist.
Ich habe ihn bei der Verleihung der DSD-Diplome für einige meiner Schülerinnen und Schüler kennengelernt. Hierbei hat er auch alle oben stehenden Infos erzählt und noch so viel mehr, was hier leider den Rahmen sprengen würde. Er spricht sehr gut Deutsch und ist ein wirklich großartiger und warmherziger Mensch. Ich habe selten jemanden getroffen wie ihn, dem Menschen wirklich am Herzen liegen. Er machte mir klar, dass ich jederzeit herzlich willkommen sei und lud mich glatt zum Abendessen ein. Das Abendessen sei ein „Oktoberfest“ von seinem Rotary Club und als Deutsche müsse ich unbedingt dabei sein. Was wäre ein Oktoberfest schon ohne Deutsche?
So sah ich mich wenige Stunden nach der Verleihung schon wieder im Biergarten zwischen 2 Armenierinnen und 12 Armeniern sitzen. Lediglich der Konsul und mein Koordinator Benjamin, der auch eingeladen worden war, sprachen Deutsch, aber ich habe mich sehr schnell sehr wohlgefühlt. Ich hatte am Anfang ein bisschen Sorge, ob ich nicht fehl am Platz sein würde, aber das war unbegründet. Alle Menschen an diesem Tisch haben dafür gesorgt, dass die Atmosphäre super entspannt und ausgelassen war. Die Burger und das Gläschen Wein haben gut geschmeckt, genauso wie die ganzen Häppchen.
Es war eine einmalige Erfahrung, die mich nochmal in das armenische Beisammen-Sein hat blicken lassen. Die Menschen aus dem Rotary Club haben ganz unterschiedliche Berufe und treffen sich regelmäßig. Dabei bringt immer irgendjemand etwas Besonderes für den Abend mit. An diesem Abend war es ein armenischer Professor, der eine Fragerunde mit ganz unterschiedlichen Fragen veranstaltete. Auch wenn er viele Fragen ins Englische übersetzte, konnte ich kaum folgen, da viele Fragen Wortspiele aus dem Armenischen oder Russischen beinhalteten. Trotzdem war es sehr lustig, dabei zu sitzen und die anderen beim Mitraten zu beobachten.
Ab und zu wurden auch Witze erzählt, die Benjamin oder der Honorarkonsul mir übersetzten. So langsam bekomme ich ein Verständnis dafür, was im Reiseführer mit „Humor von Gyumri“ gemeint ist. Dafür sorgte auch unser Guide auf der Free-Walking-Tour, der uns in die berühmten Spitznamen der Bewohner von Gyumri einführte. Hier in Gyumri lieben es die Leute nämlich, Orten oder Personen Spitznamen zu geben; teilweise nett, aber meistens eher unvorteilhaft.
Besonders fasziniert hat mich eine Wand, an der ich bestimmt fünfmal vorbeigelaufen bin, bevor mich eine Armenierin darauf aufmerksam gemacht hat, dass an ihr jede Menge Witze stehen. Das war übrigens eben jene Armenierin, die ich beim Berlin Art Hotel getroffen hatte und die mich für´s Frühjahr zu sich nach Dilidschan eingeladen hat. Einer der Witze, den sie mir übersetzt hat, ist mir gut im Gedächtnis geblieben:
Ein Mann geht zum Zahnarzt, um sich einen Zahn ziehen zu lassen. Während des Ziehens schreit der Mann sehr laut. Im Anschluss sagt ihm der Arzt: „Das macht 30$.“ Der Mann erwidert: „Was für 30$? Ein Zahn kostet 10$!“ „Das stimmt schon, aber Sie haben so laut geschrien, dass zwei andere Patienten vor lauter Angst weggelaufen sind.“
Hier nochmal auf Armenisch. 🙂
Wo ich gerade den Reiseführer und die Free-Walking-Tour erwähnt habe, möchte ich doch noch ein paar generelle Informationen mit euch teilen:
Gyumri ist mit 110000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Armeniens und Hauptstadt der nordwestlichsten Provinz Shirak an der Grenze zu Georgien und der Türkei. Lange Zeit war Gyumri sehr unbedeutend und lediglich eine kleine Siedlung. Erste Erwähnungen gibt es jedoch schon aus der Antike. Anders als Yerewan gibt es bei Gyumri nicht zwanzig verschieden Schreibweisen des Namens, sondern im Verlauf der Zeit gleich ganz verschiedene Namen:
Bedeutsam wurde Gyumri im russischen Kaiserreich, nachdem Kaiser Nikolaus der Erste die Stadt besucht hatte, und sie seiner Frau zu Ehren 1840 in „Alexandropol“ umbenennen ließ. Das währte bis 1924, wo daraus zu Ehren Lenins „Leninakan“ wurde. Während dieser Zeit entwickelte sich Gyumri zur Kunst- und Handwerkshauptstadt des Landes und kam zu Wohlstand. Unser Guide hat uns erzählt, dass Gyumri zeitweise bedeutender als die Hauptstadt war und viele Menschen hierher zogen.
Nach dem schweren Erdbeben von Spitak 1988 und dem Zerfall der Sowjetunion (nachdem Gyumri mit der armenischen Unabhängigkeit auch den jetzigen, an die ursprüngliche Bezeichnung angelehnten Namen erhielt) ändert sich das jedoch: Die Stadt wurde schwer beschädigt und viele Gebäude zerstört. Mit Ende der Sowjetunion fehlte zudem Geld für die Restauration. Auch der Völkermord der Türken an den Armeniern, der seinen traurigen Höhepunkt in den Jahren 1915/1916 fand und bei dem schätzungsweise zwischen 300000 und 1,5 Millionen Menschen zu Tode kamen, sowie der Bergkarabachkonflikt sorgten dafür, dass viele Menschen flohen und das Land verließen. Aus diesen Gründen hat sich die Bevölkerung Gyumris laut unserem Guide im Vergleich zum Anfang des 20. Jahrhunderts halbiert.
Hierin liegt auch eine weitere Begründung für die vielen Ruinen: Einerseits ist die Bevölkerung massiv geschrumpft und die, die geblieben sind, haben meist nicht das Geld, sich die alten Herrenhäuser im Zentrum zu kaufen oder sie geschweige denn zu restaurieren. Heutzutage ist der Trend unter denen, die es sich leisten können, Gyumri zu verlassen und nach Yerewan oder ins Ausland zu gehen.
Das finde ich sehr schade, da diese Stadt wirklich viel Potential hat. Auf der anderen Seite ist es aber auch sehr verständlich, da gerade junge Menschen andernorts mehr Chancen auf ein besseres Leben haben. Umso privilegierter bin ich, dass ich nach diesem Jahr einfach so zurück nach Deutschland kehren werde. Nachdem ich gestern eine Stunde nicht bei meiner Lieblings-Neunten-Klasse war, haben sie sich schon große Sorgen gemacht, dass das jetzt schon passiert ist.
Aber keine Angst: Auch wenn ich einen schwierigen Start mit Gyumri hatte, fühle ich mich hier jetzt wohl und freue mich sehr auf die Zeit in dieser schönen Stadt. In diesem Sinne könnt ihr gespannt sein, was ich noch alles von hier berichten werde.
Bis bald! 😊